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Schwesternmord - Ein Rizzoli-&-Isles-Thriller

Tess Gerritsen

 

Verlag Limes, 2010

ISBN 9783641029999 , 432 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

Prolog

Dieser Junge beobachtete sie schon wieder.

Die vierzehnjährige Alice Rose versuchte, sich auf die Matrize mit den zehn Fragen zu konzentrieren, die vor ihr auf dem Tisch lag, doch ihre Gedanken waren nicht bei der englischen Literatur, die sie im ersten High-School-Jahr durchgenommen hatten, sie waren bei Elijah. Sie konnte den Blick des Jungen spüren wie einen Strahl, der auf ihr Gesicht gerichtet war; sie fühlte seine Wärme auf ihrer Wange – und merkte, wie sie errötete.

Konzentrier dich, Alice!

Die nächste Frage konnte sie nur mit Mühe entziffern, weil die Umdruckmaschine die Buchstaben verschmiert hatte.

Charles Dickens wählt für seine Figuren häufig Namen, die bestimmte Charakterzüge widerspiegeln. Nenne einige Beispiele und erkläre, warum die Namen zu den betreffenden Figuren passen.

Alice kaute auf ihrem Bleistift herum und kramte in ihrem Gedächtnis nach einer Antwort. Aber sie konnte einfach nicht denken, solange er am Pult neben ihr saß, so nahe, dass sie seinen Duft riechen konnte – eine Mischung aus Kiefernölseife und Holzrauch. Männliche Düfte. Dickens, Dickens – was interessierte sie dieser Charles Dickens mit seinem Nicholas Nickleby und überhaupt die ganze todlangweilige englische Literatur, solange der schöne Elijah Lank sie anschaute? Gott, er sah wirklich so unglaublich gut aus, mit seinen schwarzen Haaren und seinen blauen Augen. Tony-Curtis-Augen. Das hatte sie gleich gedacht, als sie Elijah zum ersten Mal gesehen hatte: Er sah wirklich aus wie Tony Curtis, dessen wunderhübsches Gesicht sie von den Seiten ihrer Lieblingszeitschriften Modern Screen und Photoplay anstrahlte.

Sie senkte den Kopf, so dass ihr das Haar ins Gesicht fiel, und warf verstohlene Seitenblicke durch den Vorhang aus blonden Strähnen. Und ihr Herz machte einen Sprung, als sie feststellte, dass er tatsächlich sie ansah – und zwar nicht so verächtlich und von oben herab wie all die anderen Jungen an ihrer Schule; diese gemeinen Kerle, die ihr nur das Gefühl gaben, beschränkt und schwer von Begriff zu sein. Diese Jungen, deren spöttisches Getuschel sie ständig begleitete – aber immer so leise, dass sie nicht verstehen konnte, was sie sagten. Sie wusste, dass sie von ihr redeten, weil sie dabei in ihre Richtung schauten. Das waren dieselben Jungen, die das Foto einer Kuh an die Tür ihres Schließfachs geheftet hatten; dieselben, die immer Muuh! machten, wenn sie auf dem Flur aus Versehen mit ihnen zusammenstieß. Aber Elijah – er sah sie ganz anders an. Mit schmachtenden Glutaugen. Wie ein Filmstar.

Ganz langsam hob sie den Kopf und erwiderte seinen Blick, nicht mehr durch den schützenden Schleier ihrer Haare, sondern offen und unverwandt. Er war schon fertig mit dem Test, hatte das Blatt mit den Fragen umgedreht und den Stift in sein Pult gelegt. Seine volle Aufmerksamkeit war auf sie gerichtet, und sein Blick schlug sie so in den Bann, dass es ihr fast den Atem raubte.

Er mag mich. Ich weiß es. Er mag mich.

Ihre Hand ging zu ihrem Hals, zum obersten Knopf ihrer Bluse. Ihre Finger strichen leicht über ihre Haut, und die Stelle, wo sie sie berührt hatten, war plötzlich ganz heiß. Sie dachte an Tony Curtis, wie er den Blick seiner Glutaugen auf Lana Turner richtete – diesen Blick, bei dem jedes Mädchen weiche Knie bekommen und vor Verlegenheit kein Wort herausbringen würde. Diesen Blick, der unmittelbar vor dem unvermeidlichen Kuss kam. Das war die Stelle, an der das Kinobild jedes Mal unscharf wurde. Warum musste das so sein? Warum verschwamm das Bild immer genau dann, wenn man unbedingt sehen wollte, was…

»Die Zeit ist um! Bitte alle abgeben.«

Schlagartig richtete Alices Blick sich wieder auf ihr Pult, auf die Matrize mit den zehn Testfragen, von denen sie erst die Hälfte beantwortet hatte. O nein! Wo war nur die Zeit geblieben? Sie wusste doch alle Antworten. Sie brauchte nur noch ein paar Minuten…

»Alice. Alice!«

Sie blickte auf und sah Mrs. Meriweather vor sich stehen, die Hand ausgestreckt.

»Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe? Du musst jetzt abgeben.«

»Aber ich…«

»Keine Ausreden. Du musst endlich lernen zuzuhören, Alice.« Mrs. Meriweather schnappte sich Alices Arbeit und ging damit nach vorne. Obwohl Alice die Worte kaum verstehen konnte, wusste sie genau, dass die Mädchen in der Bank hinter ihr über sie tuschelten. Sie drehte sich um und sah, wie sie die Köpfe zusammensteckten, verstohlen kicherten und die Hände vor den Mund hielten. Alice kann von den Lippen lesen, wir dürfen sie nicht sehen lassen, dass wir über sie reden.

Jetzt fingen auch ein paar von den Jungen an zu lachen und zeigten mit den Fingern auf sie. Was war denn da so komisch?

Alice blickte nach unten. Zu ihrem Entsetzen sah sie, dass ihre Bluse oben weit offen stand. Der Knopf war abgefallen.

Es läutete zum Schulschluss.

Alice schnappte sich ihre Schultasche, presste sie fest an die Brust und verließ fluchtartig das Klassenzimmer. Sie wagte es nicht, irgendjemandem in die Augen zu schauen, während sie hinausstürmte, den Kopf gesenkt, mit einem dicken Kloß im Hals und Tränen in den Augen. Sie ging schnurstracks zur Toilette, wo sie sich in einer Kabine einschloss. Andere Mädchen kamen herein und drängten sich lachend und schwatzend vor dem Spiegel, um sich zurechtzumachen, während Alice sich hinter der verriegelten Tür versteckte. Sie konnte die verschiedenen Parfüms riechen, sie spürte den Luftzug, der jedes Mal durch den Raum wehte, wenn jemand die Tür aufstieß. Diese verwöhnten Mädchen mit ihren nagelneuen Twinsets. Die verloren niemals einen Knopf; die würden niemals mit billigen Röcken von der Stange und Schuhen mit Pappsohlen in die Schule kommen.

Geht weg. Könnt ihr nicht einfach alle verschwinden?

Endlich kehrte Ruhe ein.

Alice presste ein Ohr an die Tür der Kabine und horchte angestrengt, ob noch irgendjemand in der Toilette war. Dann spähte sie durch den Spalt und sah, dass niemand vor dem Spiegel stand. Erst jetzt wagte sie sich aus ihrem Versteck hervor.

Auch der Flur lag leer und verlassen, alle waren nach Hause gegangen. Niemand mehr da, der sie quälen konnte. Mit ängstlich hochgezogenen Schultern ging sie den Korridor entlang, vorbei an den verbeulten Schließfachtüren und den Plakaten, die den Halloween-Ball in zwei Wochen ankündigten. Ein Ball, zu dem sie ganz bestimmt nicht gehen würde. Die demütigende Erfahrung der Tanzveranstaltung von letzter Woche steckte ihr noch in den Knochen und würde sie wahrscheinlich bis ans Ende ihrer Tage verfolgen. Die zwei Stunden, die sie mutterseelenallein an der Wand gestanden hatte, vergeblich hoffend, dass einer der Jungen sie endlich auffordern würde. Als dann schließlich doch ein Schüler auf sie zugekommen war, hatte er sie nicht etwa auf die Tanzfläche gebeten. Stattdessen hatte er sich plötzlich zusammengekrümmt und ihr auf die Schuhe gekotzt. Das war’s – das war ihr letzter Ball gewesen. Erst zwei Monate war sie in dieser Stadt, und schon wünschte sie sich, ihre Mutter würde ihre Sachen packen, ihre Familie schnappen und wieder von hier wegziehen, irgendwohin, wo sie ganz von vorne anfangen konnten. Wo endlich alles anders wäre.

Nur leider wird es nie anders.

Alice trat aus dem Haupteingang der Schule hinaus in die Herbstsonne. Sie beugte sich über ihr Fahrrad, um das Schloss aufzusperren, und war so vertieft in ihr Tun, dass sie gar nicht hörte, wie Schritte sich näherten. Erst als sein Schatten auf ihr Gesicht fiel, merkte sie, dass Elijah neben ihr stand.

»Hallo, Alice.«

Sie fuhr hoch, und das Fahrrad landete scheppernd auf der Seite. O Gott, sie war eine solche Idiotin. Wie konnte sie nur so ungeschickt sein?

»Das war ganz schön schwer, nicht wahr?« Er sprach langsam und deutlich. Das war noch etwas, was sie an Elijah mochte: Im Gegensatz zu ihren anderen Klassenkameraden war seine Aussprache immer klar; er nuschelte nie. Und er ließ sie immer seine Lippen sehen. Er kennt mein Geheimnis, dachte sie. Und trotzdem will er mein Freund sein.

»Und, hast du alle Fragen beantwortet?«, fragte er.

Sie bückte sich, um ihr Rad aufzuheben. »Die Antworten habe ich alle gewusst. Ich hätte bloß mehr Zeit gebraucht.« Als sie sich aufrichtete, bemerkte sie, dass sein Blick auf ihre Bluse gerichtet war. Auf die Stelle, wo der Knopf fehlte. Errötend verschränkte sie die Arme vor der Brust.

»Ich habe eine Sicherheitsnadel«, sagte er.

»Was?«

Er griff in die Hosentasche und zog eine Nadel hervor. »Ich verliere auch andauernd Knöpfe. Ich weiß, wie peinlich das ist. Komm, ich mach sie dir fest.«

Sie hielt den Atem an, als er nach dem Kragen ihrer Bluse griff, und sie konnte das Zittern kaum unterdrücken, als er seinen Finger unter den Stoff schob, um die Nadel zu schließen. Spürt er, wie mein Herz klopft? Weiß er, dass mir von seiner Berührung ganz schwindlig wird?

Als er zurücktrat, ließ sie die Luft aus ihren Lungen entweichen. Sie schaute nach unten und sah, dass die Bluse jetzt züchtig geschlossen war.

»Besser so?«, fragte er.

»Oh – ja!« Sie hielt kurz inne, um sich zu sammeln, ehe sie mit majestätischer Würde fortfuhr: »Vielen Dank, Elijah. Das war sehr aufmerksam von dir.«

Einige Sekunden verstrichen. Über ihnen krächzten die Krähen, und das Herbstlaub umhüllte die Äste der Bäume...