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Lyra - Roman

Christoph Marzi

 

Verlag Heyne, 2010

ISBN 9783641029968 , 432 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

ZWEITES KAPITEL
Die Farbe vergesslicher Herzen
Forgetful heart, lost your power of recall,
Every little detail, you don’t remember at all.
The times we knew
Who would remember better than you?
 
BOB DYLAN, Forgetful Heart
Die Wege, die ein Mann gehen muss, sind oft steinig – und nicht selten haben sie die matte Farbe vergesslicher Herzen.
Danny Darcy wusste, welchen Weg er gehen musste, noch ehe die Worte seiner Frau am Telefon verklungen waren. Er hielt das Telefon noch in der Hand, als sie schon längst aufgelegt hatte, und später dann ließ er es an seine Brust sinken, geradeso, als könne ihn dies Sunny näherbringen.
Am nächsten Morgen dann brach er rechtzeitig auf.
Er hatte nicht gut geschlafen, und ob dieser Tag wirklich die Wende bringen würde, konnte er nicht sagen. Aber er hatte das Gefühl, seine letzte Chance zu ergreifen. Dies war der Weg, den er jetzt gehen musste.
My sweet Laura Lee.
Die Sonne stand schon hoch über Duluth und tauchte die Güterbahngleise in ein güldenes Licht.
Danny Darcys Herz war nicht so vergesslich, wie er es sich gewünscht hätte, und die Farben dessen, was noch gar nicht lange Vergangenheit war, leuchteten ihm noch immer in den Augen.
Er legte eine CD von Mark Lanegan in den Player, nahm sich vor, die Strafgebühren an die Stadtkasse von Minneapolis zu überweisen (der zerknüllte Brief lag noch immer ungeöffnet auf dem Beifahrersitz, begraben unter einem Haufen CDs und Demos und Zeitungen), und fuhr mit halb geöffnetem Fenster nach Norden.
Die Luft trug die Kühle des Sees in sich, und die Wolken waren kaum mehr als einsame Schiffe am Firmament. Langsam segelten sie ihrem Ziel entgegen und blickten hinab auf eine Welt, die gerade aus dem Schlaf erwachte. Schwere Laster donnerten die Straße entlang, drüben an den Bahnhöfen rollten die Züge über die Gleise.
Danny lauschte der Musik.
Something to believe.
Als sei es gestern gewesen.
When the Sailor saw Sunny in the dawn of that day...
Danny schüttelte den Kopf.
Konzentrierte sich auf den Verkehr.
Hinter Duluth, auf der nördlichen Route 53, wurde die breite Straße ruhiger. Briefkästen standen verlassen da, Häuser waren keine zu sehen. Die Menschen hier oben lebten versteckt hinter den Pinien und Fichten und hohen Tannen. Ein verrosteter Mähdrescher lag wie ein riesiger Kadaver auf einem Feld.
Er würde den Zimmermann treffen!
Meine Güte, er konnte es kaum glauben.
Bereits vor Wochen hatte er in Erwägung gezogen, den Zimmermann aufzusuchen, doch war sein Versuch, den alten Mann ausfindig zu machen, nicht von Erfolg gekrönt gewesen. Stattdessen war Danny spontan und unüberlegt einen anderen Weg gegangen, einen, der ihn nach Schottland geführt hatte. Er hatte sich nicht unbedingt mit den richtigen Leuten eingelassen, einiges dazugelernt, sich eine Menge Ärger eingehandelt und war wieder heil nach Amerika zurückgekehrt. Trotzdem hatte sich die Beziehung zu Sunny nicht geändert.
Jetzt war er auf dem Weg in den Norden.
Zu Tyler Blake höchstselbst!
Ja, das war sein Name.
Ein Name, der magisch war.
Er war eine Legende. Er war der Zimmermann.
Er lebte im Little Swan. So hieß die Gegend südlich von Hibbing, ein großes Waldgebiet, urwüchsig und unberührt.
Als Danny zum ersten Mal eines seiner Lieder gehört hatte – den Klassiker Heaven’s Heart -, da hatte er gemerkt, wozu Musik wirklich fähig war. Er hatte geweint, weil er etwas in sich gespürt hatte, was vielleicht seine Seele war. Er hatte geweint, weil etwas in ihm sich unweigerlich verändert hatte. All die Fragen, die ihn bis dahin bestürmt hatten, jene gnadenlos nagenden, gleichsam an Herz und Verstand zehrenden Fragen, die einen Teenager zu einem mit zittrigen Buchstaben vollgekritzelten Blatt im Wind machen, sie alle waren mit einem Mal beantwortet worden. Und es waren keine Worte nötig gewesen; nein, es war die Melodie gewesen, die ihn mit sich gerissen hatte. Die Worte (»Hope dies easy, worlds will part, when angels eat their heaven’s heart«) waren nur die Pfeilspitzen gewesen, aber die Kraft, die jene Pfeile zu blitzenden Geschossen gemacht hatte, die wahrhaftig Herzen zu durchbohren wussten, diese Kraft, das spürte Danny, war in der Musik geboren worden. Sie war grenzenlos und wild gewesen, unbändig und tosend, entflammt von dem, was verborgen im Innersten eines jungen Mannes brannte, der noch nicht wusste, dass er gerade gesehen hatte, welchen Weg zu nehmen ihm im Leben bestimmt war.
Von dem Moment an – und eingedenk der Tatsache, dass Johnny Cash die erste Stimme gewesen war, die er wahrhaftig vernommen hatte – hatte Danny Musiker werden wollen.
Er war elf Jahre alt gewesen. Und er hatte nur eine ungefähre Ahnung von dem gehabt, was er beginnen sollte.
Der erste Schritt war damals der schwierigste. Er bat seine Eltern, ein Instrument erlernen zu dürfen.
Noch immer konnte er diesen Tag riechen, jenen Nachmittag im Herbst, als die Blätter um Ravenscraig wehten und die Brandung an den Klippen von Blackhead toste.
Seine Eltern saßen im Salon, tranken Earl Grey und starrten ihn an, als habe er etwas durch und durch Unanständiges von ihnen verlangt.
»Du kannst Schach spielen.« Archibald Darcy war keine große Hilfe, gewiss nicht.
Helen Darcy schlug Violine vor.
»Nein«, sagte Danny sofort. Und nach einer kurzen Pause, in der sich seine Eltern wissende Blicke zuwarfen, fügte er hinzu: »Warum denn ausgerechnet Violine? Ich mag Johnny Cash.«
»Die Violine ist ein klassisches Instrument. Johnny Cash macht Krach.«
»Ich mag den Krach.« Und überhaupt: Dies waren die 90er. In der Regel war der Krach da elektronisch.
Helen Darcy verdrehte die Augen. »Ich will aber nicht, dass du dieses Zeug spielst.«
»Ist es denn nicht die Musik, die eure Generation mag?«
»Du musst nicht frech werden«, schalt ihn sein Vater.
Helen Darcy indes schwieg. Sie nippte an ihrem Tee und sagte dann: »Ich mag Johnny Cash eben nicht.«
Archibald Darcy sagte natürlich nichts, wie so oft, wenn er besser den Mund aufgemacht hätte. Immerhin hatte ihm das Johnny-Cash-Album gehört, das Colin während der Geburt seines Bruders aufgelegt hatte. Manchmal kam es Danny so vor, als schwebten die schrammenden Klänge von einst noch immer durch die Mauern von Ravenscraig.
»Ich mag Tyler Blake.« Danny blieb hartnäckig.
»Der kann nicht singen.«
»Man muss nicht singen können, um ein guter Musiker zu sein.«
Helen Darcy schüttelte den Kopf. »Man muss singen können, um ein Sänger zu sein.«
»Ich will Songwriter werden.«
»Du bist elf. Du weißt noch gar nicht, was du werden willst.«
»Ich bin fast zwölf. Und ich will Gitarre spielen lernen.«
Die Antwort kam schnell aus zwei Mündern und wie ein Schlag ins Gesicht: »Nein!«
»Aber warum nicht?« Er schluckte seine Enttäuschung hinunter und ließ nur die Wut an die Oberfläche.
»Eine Gitarre ist ein Instrument, das man überhaupt nicht kontrollieren kann«, antwortete Helen Darcy.
Was sollte das denn nun bedeuten? »Aber...«
»Wenn du dich unbedingt musikalisch weiterbilden möchtest«, betonte Helen Darcy, »dann bekommst du eine Orgel.«
Danny starrte sie an.
Musikalisch weiterbilden?
Meinte sie das ernst?
»Eine elektronische Orgel.« Ja, seine Mutter meinte es ernst.
»Du musst ohnehin erst lernen, wie man Noten liest.«
»Ich will Songs schreiben«, sagte Danny.
»Erst die Theorie.«
»Eine klassische Ausbildung ist niemals falsch.«
Danny sah seinen Vater an, dann seine Mutter. Er kannte diesen Ausdruck in ihren Gesichtern. Also gab er sich geschlagen. Eine andere Möglichkeit gab es nicht für ihn. Er war immerhin erst elf. Und besser eine elektronische Orgel als eine Violine. Oder gar kein Instrument.
Er seufzte.
Außerdem konnte Tyler Blake die Wurlitzer spielen, als sei der Teufel gerade erst aus der lodernden Hölle entkommen. Eine elektronische Orgel war also nicht das Schlechteste und durchaus kompatibel mit Folk.
»Ist das in Ordnung für dich?«, hakte sein Vater nach, falsches Verständnis in der Stimme.
Danny sagte: »Ja.«
Was er dachte, ließ er sich nicht anmerken.
»Kann es wenigstens eine Wurlitzer sein?«, fragte er.
Seine Eltern lächelten salbungsvoll, sagten unisono: »Lass dich doch einfach überraschen.«
Er nickte nur.
Dann ging er in sein Zimmer und legte eine Platte von Neil Young auf. Das half vorerst.
Zwei Wochen später kam die Orgel nach Ravenscraig. Sie war groß, sperrig und hatte viele bunte Knöpfe. Es war natürlich keine Wurlitzer, was aber nicht weiter schlimm war. Er setzte sich davor, schaltete sie ein und begann wahllos die Tasten zu drücken und dem Gerät Töne zu entlocken. Man konnte die Tremoli und die Klangfarben verändern, was nicht schlecht war. Danny experimentierte und fand schnell heraus, welche Akkorde und welche Harmonien seine Eltern wünschen ließen, ihm doch eine Gitarre gekauft zu haben.
Wie Tyler Blake es einst besungen hatte.
Be a rebel, don’t be dead.
Leider fand Danny ziemlich schnell heraus,...