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Der Schattenesser

Kai Meyer

 

Verlag MiMe books, 2012

ISBN 9783981500127 , 400 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz frei

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4,99 EUR


 

KAPITEL 2


Das Skelett schwebte ihnen entgegen, als sie um die Wegkehre kamen. Erst als nur noch wenige Schritte sie davon trennten, erkannte Michal, dass es aus Papier war. Ein Westwind trug es mühelos vor sich her, denn es war federleicht, obgleich es doch die volle Größe eines Menschen besaß. Von nahem war es beinahe lächerlich. Jemand hatte es mit großem Geschick einem echten Gerippe nachgebildet, und doch war es so deutlich eine Fälschung, dass ihr erster Schreck nun in erleichtertes Lachen umschlug.

Vor Michals Füßen fiel das Papierskelett zu Boden und blieb mit verworrenen Gliedern liegen. Nicht einmal der Wind mochte ihm jetzt noch Leben einhauchen, so verrenkt waren die hauchdünnen Arme und Beine. Nadjeschda, Michals Frau, hob das Kind vom rechten auf den linken Arm, ging vorsichtig in die Hocke und berührte die falschen Knochen mit den Fingerspitzen. Die kleine Modja beobachtete das Ding am Boden mit großen Unschuldsaugen. Sie war noch kein Jahr alt, und der Anblick konnte sie schwerlich erschrecken.

»Was ist das?«, fragte Nadjeschda, stand wieder auf und hob das Papiergerippe dabei mit spitzen Fingern in die Höhe.

Michal sah sich misstrauisch um. Der Waldrand zu beiden Seiten des Pfades schien verlassen. »Lieber wüsste ich, woher es kommt«, sagte er finster.

Der Weg machte etwa fünfzehn Schritte vor ihnen eine sanfte Biegung nach rechts. Das seltsame Skelett war von dort herangetrieben, und nur der Zufall hatte verhindert, dass es sich nicht schon früher im Unterholz verfangen hatte.

Die Wälder waren dicht, zu dicht, als dass man hätte hindurchgehen können. Michal hätte es vorgezogen, mit seiner Frau und der Kleinen im Verborgenen zu bleiben und die Pfade zu meiden, aber er wollte weder Nadjeschda noch Modja den Weg durch das dornige Gesträuch zumuten. Sie waren auch so geschwächt genug, alle drei, und ein Ende ihrer Flucht war noch immer nicht abzusehen. Überall konnten die Barbaren Bethlen Gabors lauern.

»Vielleicht ist es ein böses Omen«, sagte Nadjeschda mit schwacher Stimme und ließ das Gerippe angewidert fallen.

»Mach uns nur Hoffnung«, entgegnete Michal ärgerlich, »genau das, was wir brauchen.«

Sie sah ihn an und verzog den Mund zu einem Schmollen. Nicht einmal der Krieg hatte das Mädchenhafte aus ihren Zügen vertreiben können. »Du weißt, dass ich das so nicht gemeint habe.«

»Ja, ich weiß.« Er ergriff ihre Hand und drückte sie sanft.

»Tut mir Leid. Komm, ich nehme die Kleine.«

Nadjeschda schüttelte heftig den Kopf. Ihr langes Haar wirbelte umher und verfing sich kraus im Pelzkragen ihres Mantels. »Falls uns irgendeine Gefahr droht, solltest du beide Hände freihaben.« Sie lächelte, und für einen Augenblick verschwanden all die Sorgen und die Angst von ihrem Gesicht. Sie war wieder die süße, unbeschwerte Nadja, die er im letzten Winter zur Frau genommen hatte. »Irgendwer muss auf uns Acht geben, oder?«

»Ich bin kein Kämpfer«, sagte er müde.

»Der Beste, den wir haben.«

Seit Tagen waren sie keiner Menschenseele begegnet, und das war gut so. Zu dritt – nur er, Nadjeschda und die Kleine – konnten sie es bis Prag schaffen. Die Ländereien Ostböhmens lagen ebenso tot da wie die Menschen, die sie einst bewohnt hatten. Dörfer und Gutshöfe waren verwüstet, die Männer niedergemetzelt, die Frauen geschändet und ermordet. Die Horden des Fürsten Bethlen Gabor waren aus Siebenbürgen nach Böhmen gekommen, um König Friedrich in seinem Kampf gegen die Liga beizustehen. Stattdessen aber zogen sie schon seit Wochen umher, töteten alles, was ihnen vor die Klingen kam, plünderten, brandschatzten, kannten weder Mitleid noch Gnade. Seit der Pest war keine erbarmungslosere Plage über das Land gekommen, keine, die grausamer war. Alles Leben ertrank im eigenen Blut.

Bis nach Prag waren es noch mehrere Tagesmärsche. Sie hatten das Pferdegespann, mit dem sie vom brennenden Hof seiner Familie aufgebrochen waren, längst zurücklassen müssen. Einmal hatten einige der Schlächter aus Transsylvanien sie auf der Straße bemerkt. Mit letzter Kraft war ihnen die Flucht gelungen – zu Fuß, durch den Wald. Seither zogen sie es vor, unauffälliger zu reisen. Eine Kutsche war zu laut und zu sperrig. Ihnen blieb nur der Fußmarsch.

Michal betrachtete noch einmal das Papierskelett, dann gingen sie weiter. Langsam, sehr vorsichtig. Aus der Richtung der Wegkehre war kein Laut zu hören, nur der Wind fauchte geisterhaft in der Tiefe der Wälder.

Angespannt blieb er stehen. »Versteck dich mit Modja im Unterholz«, sagte er. »Ich will erst nachsehen, was uns dort vorne erwartet.«

Nadjeschda folgte seinem Wunsch, vor allem um des Kindes willen. Sie hatte Angst, entsetzliche Angst, aber sie wollte nicht tatenlos zusehen, wie Michal etwas zustieß. Doch mit der Kleinen im Arm blieb ihr keine Wahl.

Michal wartete, bis die beiden hinter den vorderen Büschen verschwunden waren, dann ging er langsam weiter. Das Schwert mit dem prachtvollen venezianischen Gitterkorb, das er aus dem brennenden Gutshaus hatte retten können, war längst verloren. Als einzige Waffe blieb ihm ein fester Knüppel. Ihm war klar, dass er Bethlen Gabors Truppen nichts entgegenzusetzen hatte. Falls wirklich sie es waren, die ihn hinter der Biegung erwarteten, blieb nur die Flucht. Andererseits bezweifelte er, dass die Soldaten ihre Zeit mit dem Ausschneiden von Papiergerippen vertaten, wo sie doch auf jedem ihrer Wege hunderte echte zurückließen.

Er schloss seine Faust fester um den Stock und machte langsam Schritt um Schritt. Jetzt hatte er den Beginn der Biegung erreicht. Noch immer konnte er nicht sehen, was dahinter lag. Er horchte angestrengt auf Stimmen, auf Pferdestampfen oder das Klirren von Rüstzeug, doch da war nichts dergleichen. Nur das Säuseln des Windes und ein trockenes Flügelschlagen, als sich eine Krähe in einer blattlosen Baumkrone niederließ.

Der Pfad verbreiterte sich zu einer Schneise und führte schließlich hinaus auf eine Lichtung. Sie war mit niedrigem Gras bewachsen und nicht allzu groß. Der Weg schien hier zu enden, denn jenseits der Wiese war der Waldrand dicht und lückenlos, ein Einschnitt war nirgends zu sehen.

Die Lichtung schien verlassen, weder Mensch noch Tier waren zu sehen. Michal umrundete sie zögernd, warf wachsame Blicke auch zwischen die Bäume. Doch da war nichts. Nicht einmal ein Hinweis, der verraten hätte, woher das Skelett so unverhofft gekommen war. Vielleicht war es tatsächlich irgendwann von einer Kutsche gefallen oder sonst wie durch Zufall hierher geraten. Mochte der Himmel wissen, wie weit der Wind es getragen hatte. Doch hätte es dann nicht im Regen der vergangenen Tage aufweichen müssen?

Erleichtert, wenn auch nicht vollkommen sorglos, ging er zurück zu Nadjeschda und Modja. Die Kleine hatte zu weinen begonnen, als er fortgegangen war, und sie beruhigte sich erst, als er ihr sanfte Koseworte ins Ohr flüsterte. Nadjeschda beobachtete die beiden liebevoll. Der Krieg war die eine Sache, der Zusammenhalt ihrer kleinen Familie eine andere. Sie mussten es nur bis Prag schaffen, dort erwartete sie die Sicherheit der königlichen Truppen.

Seit einer Woche war kein Bote aus der Hauptstadt mehr bis zum Gutshof vorgestoßen. Bethlen Gabors Männer mussten sie abgefangen haben. Vielleicht legte König Friedrich auch schlichtweg keinen Wert auf die Benachrichtigung der böhmischen Landadeligen, zumal, wenn sie wie Michal und Nadjeschda russischer Abstammung waren und ihre Güter fern im Osten lagen.

In Michals Augen bedeutete Prag ihre Rettung, Schutz und Geborgenheit vor Gabors Mordbrennern. Wenigstens Nadjeschda und das Kind mussten durchkommen, ganz gleich, was mit ihm selbst geschah. Das hatte er sich geschworen.

Gemeinsam gingen sie zur Lichtung. Der Abend dämmerte, und dies war ein guter Ort zum Übernachten. Es gab sogar einen schmalen Bach, eigentlich nur ein Rinnsal, der am Waldrand durch ein Kiesbett plätscherte. Es war längst an der Zeit, Modjas Windel zu säubern.

Später, als die Sonne längst untergegangen war und die Kleine schlief, nahm Michal Nadjeschda in den Arm. Sie hatten ihre Mäntel abgelegt und daraus ein Lager für Modja geformt. Das Bündel mit ihren spärlichen Vorräten – Beeren, trockenes Brot und ein halb voller Lederschlauch mit Milch für das Kind – lag nahebei. Ihre einzige Decke musste für alle drei ausreichen, doch sie wagten nicht, ein Feuer zu entfachen. Michal und Nadjeschda froren erbärmlich; zumindest Modja aber hatte es zwischen den Mänteln leidlich warm. Der November hatte ein Einsehen und verzichtete auf Regen.

»In Prag will ich es warm haben«, sagte Nadjeschda hoffnungsvoll und blickte zu den Sternen am Himmel empor. »Ich will heißen Tee trinken, ein ganzes Fass davon, und ich will Fleisch und Gemüse...