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Wahl der Waffen - Roman

Judith Kuckart

 

Verlag btb, 2010

ISBN 9783641034993 , 176 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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6,99 EUR


 

Wie groß und dumm du geworden bist. Dreimal wirst du mich nicht verleugnen. Sie läse den Satz von ihren Lippen ab. Kein Sterbenswort.
Breitbeinig steht sie da, läßt nicht nach in den Knien, die leicht nach innen sich drehen, bückt sich nicht mehr, um Krusten zu knibbeln, ungeduldig. Heraus aus dem Alter, gestürzt, geschunden, das Weinen verdrückt und ein verrotztes Taschentuch um die Blutspur gebunden. Vorbei.
Sie, sie ist sentimental geworden. Die andere ist sicher geblieben, hat den Kopf gewendet, den Luftpostbrief bezahlt. Sie hat sich gemüht, die Anschrift zu entziffern. Vergeblich.
Die andere ist gegangen. Sie ist in der Schlange stehengeblieben, hat ihr nachgeschaut. Der Aushang neben dem Schalter, er hängt im Bahnhof, im Wiegehäuschen am Ortsausgang, neben der Eingangstür im Standesamt, beim Metzger auf der Hauptstraße.
Unveränderliche Merkmale.
Sie hat gelächelt. Die Frau am Schalter mit der Hasenscharte hat gefragt, ob das alles sei. Ob sie eine Quittung brauche? Sie hat versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Auch nicht, daß sie die Hasenscharte sehr wohl bemerkt.
Davor und danach sind zehn Jahre gekommen und gegangen, gab es Zeugen und keinen, dem etwas auffiel.
Paris gefällt Katia nicht mehr. Jeden Morgen muß sie weiter laufen als andere, um ihre Zeitung zu bekommen. - Der Zug wird mit zwanzig Minuten Verspätung eingesetzt, entschuldigt sich die heisere Frauenstimme aus dem Lautsprecher. Der Bahnsteig füllt sich mehr und mehr, als habe sie etwas versprochen, eine Reise zur Nacht, im Orientexpress, mit ihr, der Unbekannten.
Was habe ich im Leben der anderen zu suchen, in das ich nicht hereingebeten wurde?
Katia holt aus.
Erzählen: Wirklichkeiten hersagen. Was war wahr? Dies ist die Geschichte einer Frau, die schreibt, und die einer Frau, die fast erfunden, nachträglich. »Ich« bleibt ein unanständiges Wort.
Katia holt aus. Der Bahnsteig ist eine böse Nachricht lang. Sieben Mal. »Im Libanon ums Leben gekommen«. Das könnte ebenso eine Nummer sein, die nicht aus dem Kopf geht, Telefonnummer eines kleinen Ortes, die sie hersagt, weil sie zum Schreiben nichts zur Hand hat. Zwischen den Wörtern im Rhythmus der Schritte taucht ein Waldweg auf, farnverwachsen, eine Turnhalle, Schweißgeruch auf Gummimatten, Geistergärten voll wilden Rhabarbers im Spätsommer. Bilder kommen sich in die Quere, schlagen übereinander, werden beiseite gedrängt von denen, die lauter schreien, schärfer riechen, und doch untergehen. Schriftzüge: »L« schreibt sich mit dem gleichen Schwung wie - Libanon.
Katia ist begabt und wird trotzdem Journalistin. Mit einem Stipendium im Rücken arbeitet sie bei Radio France. An manchen Tagen bleibt sie in der Wohnung, nah dem Bett, fährt nach dem Frühstück mit dem Finger Namen im Telephonbuch ab, hält inne bei denen, die den Kreis für Anrufbeantworter haben, wählt, schneidet mit, legt auf. Sie will aus dem Material etwas machen, wie sie aus allem etwas machen will.
Katia hat die Story gesucht. Sie ist eine gründliche und eine träge Person.
Als sie am Gare du Nord die Fahrkarte nach Berlin, einfach, löst, weiß sie, sie wird zu spät kommen. Zu spät kommen heißt, den anderen nicht mehr lebend antreffen?
- Jette, du hast keine Brust. Mit der Behauptung hoffte sie, Jette würde das Gegenteil beweisen wollen.
- Jette, du bist eine Hexe, du hast einen braunen Fleck auf der Lippe.
Jette nannte sie sie. Jette, wie man einem Spielzeug den Namen gibt, der nach rotem Holz klingt. An diesem Nachmittag hatten sie sich angemalt, die Brust ausgestopft und Verliebte gespielt. Jette war achtzehn, und das Kind, das sie hüten sollte, hüfthoch, kaum größer, auch auf Spitze nicht.
- Was ist das, ein Sterbenswort, wer stirbt da? Der, der spricht? Sag, was ist das eine Geheimhaltung? Eine geheime Haltung, ist das gebückt stehen vor oder hinter einem Geheimnis? Einem verwunschenen Schloß, einem Raub?
- Sei still, sagte Jette. Sie wollte sich selbst nachhängen.
- Kein Sterbenswörtchen mehr, wiederholte sie ihr Verbot und machte es doch kleiner.
Viel später wird Katia das Bild sagen, das sie lange sah. Jette geht tätowiert mit Träumen umher.
- Der Zug wird dreißig Minuten später eingesetzt, gibt die Lautsprecherstimme zu. Katia knöpft den Mantel, zieht die Mütze über den Ohren, was häßlich macht, aber warm hält.
Sie schaut die Schneeränder ihrer Schuhe entlang, bis ihr Blick an einer Bergkette hängt.
Wie sieht sie aus, hat sie ausgesehen? Wie immer. Wie damals? Angst verändert die Haut. Doch hat sie Angst gehabt?
Ständig geht Katia Meldungen nach, die tags darauf verschwinden. Sie schneidet aus, wirft sie ihrer Phantasie vor, genießt, wie sich aufblasen, dramatisch über ihre Ufer treten. Ein Funke genügt und sie sprüht. Das geschieht ihr häufig.
An diesem Morgen war nichts geschehen. Sie war aber ans Fenster getreten, hatte den Blick nach innen und eine transparente Haut über die Pupille gezogen, gegen alles abgeschottet, außer gegen Licht und flüchtige Farbwechsel. Im Hellen erblindet, ganz bei sich, bleibt ihr jeder, der sie anspricht, feind.
So wie es war, wird es nie mehr sein können. Doch darüber hatte sie noch nicht mit sich gesprochen, hatte nur leise die Reise erwähnt, die zu tun blieb. Sie hatte Unterhosen in den Koffer gezählt, unsicher, ob sie reichten, und die Etagentür zweimal abgeschlossen. Sie bliebe also länger als über eine Nacht fort. Am Bahnhof hatte sie vor wenigen Minuten sieben Tageszeitungen gekauft. Um ganz sicher zu gehen. Sie setzt sich auf die freie Kante einer Bank, beißt die Handschuhe von den Fingern. »Die Polizei hat die Fahndung nach der neununddreißigjährigen Deutschen eingestellt. Gelöscht ... im Libanon ums Leben gekommen«. Die Meldung hakt. Katia sucht und findet sie in keiner anderen Zeitung, auch in »Liberation« nicht.
Was nur eine schreibt, ist auch schon wahr?
Besorgt reißt sie die dreißig Zeilen aus Seite vier heraus, rollt zwei Briefmarken feucht ineinander und heftet die Notiz auf den inneren Pappdeckel eines Schulheftes. Wo es zuschlägt.
An diesem Morgen hatte sie sich selbst überfallen und sich aller ihr geltenden Gründe beraubt. Hatte, auf dem letzten Wort der Todesmeldung angekommen, die Reise nach Berlin bereits begonnen. Jenseits aller Recherchen sollte sie Jette suchen. Nur so, sie hatte sich um eine halbe Achse gedreht. Nur so? Nein. So nur.
Katia steht auf. Der lange Rock schlägt ihr zwischen die Beine, als sie mit großen Schritten erneut die Bahnsteigkante abmißt. Kummer mehr, mehr als Kälte kriecht an ihr hoch. So ist sie, was kann sie dagegen tun. Denen, die ohne Abschied gehen, bleibt sie erst recht treu.
Ein älterer Mann in Hut und weißem Schal sucht, ihren Blick zu fangen. Katia ist dreiundzwanzig, bewegt sich entschieden ungelenk, denkt an ihre Topfpflanzen in Sektkübeln. Trinkt lieber Whisky. Lieber mehr. Mehr Mädchen als Frau. Sie zögert, bleibt stehen. »... im Libanon auf der Seite der Palästinenser ums Leben gekommen. Eine amtliche Todesmeldung will die Staatsanwaltschaft jedoch vorläufig...« Sie ist aus dem Takt geraten. Alles, was sie bisher gewollt, hat kein Gewicht mehr gegen diese Schwere. Sie bewegt die Lippen, als ziehe sie Kugeln einer endlosen Kette durch die Finger. Etwas so lange wiederholen, bis es sichtbar, so lange wiederholen, bis die nächste Bewegung zwangsläufig, zwangsläufig richtig. Zieh'. Aus.
Sie drückt die Fäuste gegen die Augäpfel, bis ihr Bilder kommen, in einem hohen Weiß, auf einem spitzen Ton. Eine neununddreißig Jahre alte Frau stirbt in der Mittagshitze von Sidon. Die Sonne steht so hoch, daß die Frau im Fall keinen
Schatten wirft. Das Bild ist gelb. Die Frau heißt. Da fehlt die Bildunterschrift. So ein Gesicht, gar kein Gesicht mehr, über ein offenes Grab gebeugt. Hätte sie davon ein Bild, hätte sie ein geglücktes Photo vom Unglück, sie würde es niemandem zeigen.
Sitze in einem Geisterhaus, die Läden klappern, der Boden knarrt, niemand kommt, und ich erwarte alles. Ich verstehe, wie ich will. Fiktion mag Verleumdung sein in diesem Fall. Nicht die Erinnerung, nein, sondern das, was ich besser nicht weiß, warnt mich vor weiterem Wort.
Ahne, in gewissen Nächten gegen Morgen streift mich der Atem einer Frau, die sich ans Fensterkreuz geknüpft hat, um endlich schlafen zu können.
Der Mann im Hut sucht sie zu grüßen. Katia starrt zurück. Die Geste gefriert ihm in den Adern. Stirbt ein Mensch, läßt er den anderen nicht weiterleben wie zuvor. Katia sieht eine ratlose Katia. Im Libanon ums Leben gekommen. Was tun? Es lassen. Ja, sprachlos und mit dem gebührenden Abstand einer alten Nähe sich dem Trauerzug anschließen, bei dem der Sarg längst fort und nur den Weg läßt. Jette mit Worten, die, gleich verworfen, in die Unverständlichkeit folgen. Katia wickelt einen Kaugummi aus dem Stanniolpapier. Vielleicht, am Ende, wird ein halber Satz übrigbleiben. Katia findet sich gar nicht mehr und begabt. Es lassen, das Schreiben. Worüber.
Ein Löffel kann ohne den anderen Löffel nicht leben, sagte Jette und schob das Kind mit seinem Hintern in ihren Schoß. So lagen sie da, eine Weile im Gras. Dann versuchten sie es noch mal. Jette drückte dem Kind einen Kochlöffel in die rechte Hand, stellte es auf die kurzen, noch krummen Beine.
Die Windeln hingen tief. Dann gab sie ihm einen Schlag auf den gepolsterten Hintern, sagte, »los, lauf hinter dem Löffel her«.
Das Kind streckte den Arm aus, lief. Lief so noch Monate. Bisweilen stahl Jette ihn aus der kleinen Faust, wenn Katia richtig in Schwung gekommen, im Laufschritt selbst Treppen und andere Hürdeh nahm. Ein letzter verzögerter Schritt, das Gesicht verzog sich weinerlich, und Katia fiel rückwärts in ein vorwurfsvolles Sitzen.
- Du willst doch jetzt nicht wieder mit Kriechen anfangen, stachelte Jette Ehrgeiz an.
Doch Katia riß nur den Mund auf, legte den Kopf in den Nacken und heulte Jette an. Zu dritt setzten sie ihren Weg fort.
Katia läßt sich zurückziehen von hinter den Augenäpfeln, entlang des Blickes, den der Mann im weißen Schal nicht läßt. Lächelnd erwidert sie, daß sie eine Zigarette möchte. Sie stößt den Rauch durch die Nase.
Eine Zigarette lang, und alles ist verbrannt. Der Druck auf den Schläfen bleibt, Erschöpfung, und mit dem Zittern in der linken Hand steigt ein ungekanntes Glücksgefühl in ihr auf: daß alles, was sich nicht verwerten läßt, um so kostbarer ist.
Katia nickt dem Herrn im weißen Schal zu, als habe sie sich mit ihm geeinigt. Am Ende vielleicht, ein halber Satz.
- Jette wird Schauspielerin, sagte Katias Mutter, behauptete es noch lange, nachdem alles anders gekommen war.
Jette, schwanger, mit Abitur, verließ die Stadt mit einem Mann, der nicht der Kindesvater war. Solange man nichts von ihr hörte, glaubten alle sie in Vorbereitung großer Taten. Dann stand sie wirklich in der Zeitung; ein mehrspaltiges Photo, Jette im weißen Hosenanzug, die Haare hinter die Ohren geklemmt, ein Bein lässig vorgestellt, auf dem Weg, die meistgesuchte Frau Deutschlands zu werden. Von da an sprach jeder leiser, fiel ihr Name, als könnten sie und andere hinter einer Hausecke versteckt mithören, als mache jeder sich verdächtig, der sie nur erwähnte.
Jette wurde berühmt, verhaftet, verschwand. Wurde verhaftet und verschwand wieder. Wurde immer berühmter und verschwand endgültig. Vergessen.
Selten hatte sie an Jette gedacht, hatte vielleicht von ihr geträumt, ohne morgens davon zu wissen. Schrecklich, sagten die einen, tragisch die anderen. Manche sagten nichts. Kein Sterbenswort.
Bin ich eine verläßliche Quelle? Beginne ich zu suchen, wo andere aufgeben?
Mit klammen Fingern und den Handschuhen zwischen den Zähnen zählt Katia Kleingeld in eine fremde Hand, wühlt in den Manteltaschen, die voller Münzen, wie Sparschweinbäuche so dick. Sie schiebt den Reiseproviant unter die linke Achsel, ärgert sich, daß der Verkäufer, jünger als sie, >Mademoiselle< sagt und daß sie versäumt, Handschuhe im Mund, zu widersprechen. Sie schüttelt den Kopf. Keine Beute. Langsam geht sie zu ihrer Tasche zurück, die sie einer Frau untergeschoben hat. Den weißen Schal läßt sie im Augenwinkel links liegen, der Mann gibt auf. Sie lächelt in die kalte Luft hinein.
Ostersonntag, die Leute lassen das elektrische Licht gegen den hellen Tag anbrennen, als könnten sie sich vom Winterschlaf nicht trennen. In der Küche rührt die Mutter die Soße mit Mehl dick. Der Vater hat Sonntagsdienst in der Apotheke. Jette wartet, auf dem Sofa, beim Kaffeetrinken, auf der Toilette und später dann, mit den Ellenbogen auf die Fensterbank gestützt. Sie kneift die Geranienköpfe, die noch nicht aufgeblüht. Die leere Straße und das Mädchen öden sich an. An der Ecke wandern Kuchentabletts aus der Bäckerei.
Jette wartet weiter, auf dem Rücksitz, im Urlaub, am Wörthersee. Der Vater gibt sein Geld nicht im Ausland aus. Sie wartet. Zum 13. Geburtstag wünscht sie sich die Schallplatte, auf der ihre ganze Sehnsucht eine Melodie spielt. Unten in der Apotheke geht die Notklingel. Der Vater streift den weißen Kittel über den Pullover. Seit sie um ihn bettelt, trägt er ihn im Haus auf. Jette beißt an der Nagelhaut. Sie ist jung in Wallerfang, und das kommt nie wieder.
Kindermann sagt, es sei eine politische Entscheidung, wenn einer behauptet, ein Pferd zu sein. Jette hat darüber gelacht, so wie er nie lachen kann, wenn er nicht versteht. Er ist der Sohn des Uhrmachers, trägt Schwarz und eine Ahnung mit sich herum. Ihre Eltern sitzen bei Heimatfesten nebeneinander auf der Ehrentribüne. Er redet viel mit den Händen, hockt dabei auf einem Stuhl, ein hungriger eingesperrter Vogel. Zu faul, den Mund richtig zu öffnen, zischt er die halben Sätze in einem Tempo, das sich der Geschwindigkeit seines Denkens anzupassen sucht. Zwei Reihen Zähne im Mund werden zum natürlichen Damm, an dem sich die Denkflut bricht, verlangsamt. Jette kennt den Vogel aus den Schulpausen, wenn er die Seinen in der Ecke am Turnhalleneingang um sich schart, aus der Eisdiele am Samstagnachmittag, wenn sie Espresso trinken mit kalten Blicken, als sei nichts für sie gut genug hier. Schwarze Rollkragen, die sich am Gesicht hochziehen. Freitagnachmittag, Gewitter liegt in der Luft. Noch regnet es nicht. Der Gesprächskreis, den der Griechischlehrer anbietet, läßt das Wochenende überleben. Dr. von Stahl mit dem langen Schädel füttert seine Schüler und ahnt nicht, womit. Wofür. Was daraus wird.
Plötzlich, die ersten Tropfen fallen. Jette steht auf, schließt das Fenster, weil keiner der Jungen sich rührt. Sie schiebt die Flügel geräuschvoll ineinander. Da schaut der Sohn des Uhrmachers sie an, redet weiter, als habe er die ganze Zeit nur zu ihr gesprochen. Seine Kraft wächst ihm über den Kopf. Er hat. Sie nicht. Es geschieht.
Es geschieht an diesem Nachmittag. Das erste Mal. Sie weiß nichts davon. Sie erfährt es. Jette hält sich am Fensterknauf fest.
Auf der anderen Seite der Scheibe, wo der Regen ein feines Netz ausgelegt, sieht sie, daß Wallerfang in Texas liegt. Es ist Mittag. Die Sonne steigt so hoch, bis diese Jette, die die Straße hinunter kommt, keinen Schatten wirft. Vor dem Krämerladen an der Ecke, wo sich die Straße vierspurig verbreitert, brütet die Tankstelle eine amerikanische Einsamkeit aus. Das gab es vorher nicht. Kein Auto fährt vorbei. Trotzdem steigt Staub auf. Jette streift mit einer Fingerspitze die Tanksäule, grüßt den Mann mit der Schirmmütze. Sein Gesicht liegt in einem rosa Schatten. Das macht ihn jünger. Am Ende der Straße kommt sie nicht an. Das weiß sie. Dort fällt die Entscheidung, fällt sie sie, oder, sie fällt über sie. Hauptsache ist, sie steht wieder auf.
- Wenn Gott nicht existierte, so wäre alles erlaubt, hört sie Kindermann von fern vortragen.
Sie fällt in ein Loch. Und dann, kein Schmerz, ein Riß nur, durch den sich schauen läßt, als öffne sich eine verbotene Tür. Nichts ist mehr wie zuvor, noch wird es je wieder so sein können. Der Bruch wächst falsch zusammen, behindert alte Selbstverständlichkeiten.
Ihre Hand am Fenster weist auf den Fuß der Straße. Jette sieht sich immer langsamer gehen, was nichts mit Zaudern zu tun hat, nur mit der Dichte des Raumes, den sie betritt.
- Tu etwas, handele. Was immer du machst, die Verantwortung liegt bei dir. Kindermann hebt die Stimme, zitiert er. Auf der Terrasse gegenüber hebt eine Frau ihre weißen Puddingarme, zeigt schamlos die farblosen Haarbüschel unter den Achseln. Sie hängt Wäsche auf im Regen.
- Der Mensch ist nichts anderes als sein Leben, fährt Kindermann fort, spricht hörbar in ihre Richtung, fragend, warum sie ihm den Rücken zukehre.
Mühsam löst sie die Finger vom Fenster. Die Frau klammert noch immer Wäsche fest. Jette stößt mit dem Knöchel gegen das Glas, dreht zuerst den Körper, dann den Kopf, um ihn zu schonen, den Bruch. Um ihn zu kosten, den Schmerz, der wach hält.
- Einerseits bleibe ich der Ansicht, daß das Leben eines Menschen sich schließlich als Scheitern herausstellt... Verunsichert fängt Kindermann ihren Blick.
- Andererseits habe ich mehr und mehr gedacht, daß eine wesentliche Entscheidung jeder Handlung... Kindermann wirft ein unruhiges Auge auf das Blatt, setzt noch mal an in einem tiefen Atemzug.
- ... daß eine Entscheidung jeder Handlung die Hoffnung ist.
Sieht er, daß sie sich verändert hat?
- Ich sterbe in Hoffnung, sagt er. Und sie nimmt den Satz mit.
- Jette, würden Sie sich, bitte, wieder setzen? Der Lehrer schaut sie beirrt an.
Jette geht zu ihrem Platz. Etwas anderes als Boden unter den Füßen.
Kindermann trägt weiter das Referat vor, das sie gestern nacht ins reine geschrieben haben, auf dem Dachboden, zwei schwarze Hefte auf den Knien, über die schmierende Kugelschreiber flogen, die so streng verboten wie das Rauchen auf dem Pausenhof.
Eine andere, eine andere Jette werden, denkt Jette.
- Es muß der permanente Bruch des Menschen zu seiner gegebenen Situation einsetzen, um ein anderer zu werden, schließt Kindermann.
- Fragen? Der Lehrer dreht seine Glatze unter der Schreibtischlampe.
Es geschieht an diesem Nachmittag. Das erste Mal. Jette weiß nichts davon, denn es hat die Mahnung des Traums, den sie am Morgen verloren, hat den Geruch, der mit ihr um eine unentdeckte Hausecke biegt und versichert, hier sei sie schon einmal gewesen, versichert, was sie sähe, sei ein Wiedersehen. Jette will den Finger heben und beißt stattdessen darauf. Er hat. Er hat schon alles. Oder? Gesagt. Nichts getan. Er hat ganz dicke Haare. Die Kraft wächst ihm über den Kopf. Kindermann ist ein Angeber, denkt Jette. Er gibt an, was ihm fehlt.
Damals war sie siebzehn.
Katia ißt hastig mit zwei Händen, steht im Weg, krümelt auf den Bahnsteig. Der Zug fährt ein. Sie wird beiseite geschoben von dicken Mänteln, die nach Rauch und Essen riechen, nach Fell, das plötzlich wieder wie Tier atmet, wird es feucht. Sie steigt als letzte zu. Den Gang entlang stößt sie ihre Tasche mit dem Fuß vor sich her auf der Suche nach einem Sitzplatz. Unweigerlich. Auf der Hälfte des Weges, nach sieben Stunden, zwischen Paris und Berlin wird der Zug durch Wallerfang sausen, den Gaskessel streifen, den Kirchturm, die alte Klavierfabrik, mit einem gleichgültigen Heulen, weil ihm die Dunkelheit in den Weg sich stellt.
Katia raucht auf dem Gang, den Fuß wie ein Sieger auf die Tasche gestellt. Das tut man nicht.
Jette ist fröhlich und gewissenhaft, trägt gern kurze Röcke.
Mit kurzen Röcken kann man schneller weglaufen. Das tut sie nicht.
Mit dem Revolver in der Hand in die Bank gehen, mit dem Revolver unter den Brötchen Zeitungen kaufen gehen. Man tut das nicht, und alle passen auf, daß man das nicht tut.
Manche sagen, sie war eine heiße Braut.
Katia drückt sich flach gegen die Fensterscheibe, damit der
Schaffner an ihr vorbei kann. Dann sucht sie weiter.
Was tat sie denn?
Katia stößt die Tasche eiliger.
In ihrer Wesensart verbindlich und zuvorkommend, betont freundlich. Sie ist 1,72 Meter groß und schlank, hat ein ovales Gesicht mit zurückweichender Stirn, ein spitzes Kinn, mittelgroße gradlinige Nase, schmale Augenbrauen und blaß-graue Augen. Durch Perücken, Haarteile, Haarfärben und Brillen verändert sie ihr Aussehen. Auffällig ist ein Leberfleck, oberhalb des rechten Mundwinkels. Unveränderliches Merkmal. In ihrer Gesamterscheinung ist sie gepflegt, sie trägt bevorzugt Hosen, Pullover, Lederjacken. Alle Abteile sind besetzt.
Irgendwo in einer Straße sieht sie ein Mädchen wie einen Jungen aus einer Toreinfahrt laufen, die Mütze tief ins Gesicht gezogen mitten im Sommer. Sie hebt mit ihrem Freund das Eisengitter über dem Gulli ab und steigt in den Untergrund. Unweigerlich. Im vorletzten Abteil muß ein Hund sein Handtuch auf Anordnung des Schaffners nehmen, muß er für Katia den Sitz am Fenster frei machen, obwohl er eine Platzkarte hat. Mit ihr wedelt seine Besitzerin noch lange vorwurfsvoll in der Luft herum.
Wallerfang. Jenseits der Bahngleise verwilderten die Gärten, lebten die Kinder, mit denen sie nicht spielen durfte. >Die Roten Berge<, Halden eines versiegten Eisenbergwerkes, das längst aufgegeben, verkamen zu Müllkippen. Die Familien in den Baracken hatten zehn Kinder und mehr, halbnackte, halbstarke, mit breiten Mündern, Zahnlücken so groß, daß jede Zahnspange machtlos. Sie waren eingeweiht in die Geheimnisse des Lebens, bevor sie zur Schule gingen, wenn sie zur Schule gingen.
Bis zu den Gärten mußte sie an der Hand gehen. Dann ließ Jette Katia los. Sie liefen durch eine Wiese. Wilde Gräser schlugen ihr über dem Kopf zusammen. Mit Jette atmeten die Nachmittage Abenteuer. Jette verstand, in Lücken zu leben, nahm sie manchmal mit, für drei Mark in der Stunde. Mit nackten Beinen streiften sie durch Brennesseln, traten auf eine tote Katze, der jemand den Bauch aufgeschlitzt hatte. Sie gaben sich gelassen. Kühl stocherte Jette mit einem Stock in den Eingeweiden herum, wollte nachschauen, ob die Katze schwanger war.
So wie sie dastanden, breitbeinig mit zerkratzten Schenkeln, aufgelösten Gesichtern, fest auf niemandsländischem Boden, konnte keiner ahnen, daß sie von der anderen Seite, der anderen Seite der Bahngleise kamen. Aus der Oberstadt. Jette traf sich mit den Jungen, die mit ihren Motorrädern das Gelände zu einem Himmel aus rostbraunen Staubwolken machten. Sie schubsten sich, lachten, rauchten, ließen sich auf die speckigen Sessel, das rote Sofa fallen, das jemand, dem der Weg zu weit bis zur Müllkippe, abgeladen hatte. Ein Wohnzimmer zwischen Holundersträuchern. Das Kofferradio in der Hüfte, drehte der Jugoslawe den Rock 'n' Roll auf, sagte zu Katia, sie solle spielen gehen. Sie schaute Jette an. Niemand beachtete sie. Der mit den schwarzen Locken, braunen Händen und Fingernägeln, von denen die Trauerränder abgebissen, griff nach Jettes Brust. Drückte zu, bis Jette lachte. Dann fuhr er mit dem nackten Fuß zwischen ihren Schenkeln hoch, streifte den Rock mit. Sein großer Zeh klopfte an. Solche warten nicht, bis man sie bei sich wohnen läßt.
In Katia meldete sich früh, zu früh Aufruhr unter der Bauchdecke. Zuerst dachte sie an Angst. Dann sah sie Jettes Gesicht, das geschmolzen, der Blick entglitten unter halb geschlossenen Lidern. Katia traute ihren Augen kaum. Da fiel Jettes Herz zwischen den Beinen durch auf die rote Erde. Katia bückte sich.
- Was machst du da? Jette kniff die Knie zusammen, als habe sie etwas verloren.
- Geh spielen, sagte sie und strich ihr eine lose Strähne aus dem brennenden Gesicht.
- Hast du jetzt Angst, fragte Katia.
Ein leises Lachen. Der Junge fuhr sich durch die schwarzen Locken, wie es die Männer im Film taten, wenn sie vom Pferd stiegen. Er streifte die Knopfleiste an Katias flachem Kleid. Das war keine Angst. Katia drückte ihren Brustkorb vor. Das war etwas anderes, etwas, von dem man nicht genug und nie alles bekam.
- Geh spielen. Jettes Stimme bettelte. Nicht sie. Sie ging. Jette hatte ihre Schuhe ausgezogen. Einen nahm Katia als Pfand mit. Sie machte sich davon, kroch in ein Gebüsch, schämte sich, so klein zu sein. Den Schuh wie ein Hund im Maul, rutschte sie Hügel hinunter, kletterte wieder hoch. Rutschte wieder hinunter, wurde atemlos rot zwischen den Beinen, vom Staub. Sie ließ die Haare offen hängen, so, wie die Mutter es verboten hatte. Für einen Augenblick hoffte sie, jemand sähe sie so, fiebernde Räuberbraut.
Als Jette sie auflas im Gebüsch, stand es unentschieden, wer verwilderter.
Jetzt mußte sie auf dem Rückweg an den Wanzenburgen vorbei an der Hand gehen, zur Besinnung kommen. Beide schlenkerten sie mit einem von Jettes Schuhen. Daheim steckte Jette sie in die Badewanne, nahm die Nagelbürste, schrubbte, ernst und gewissenhaft.