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Das Herz des Mörders - Roman

J.D. Robb

 

Verlag Blanvalet, 2010

ISBN 9783641040338 , 576 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

Der Sommer des Jahres 2059 war wie eine bösartige, mörderische Bestie, die New York auch weiter gnadenlos in ihren Krallen hielt, nachdem der schweißtreibende August endlich vergangen war. Jetzt hüllte ein heißer, schwüler, stinkender September New York wie in eine nasse Decke in sich ein.
Der Sommer, dachte Jacie Wooton, war tödlich fürs Geschäft.
Es war kurz nach zwei, also eigentlich die beste Zeit. Die Bars spuckten die Gäste aus, und diese Gäste waren für gewöhnlich auf der Suche nach noch ein bisschen mehr Spaß. Im Herzen der Nacht, wie sie es gerne nannte, kamen diejenigen, die noch etwas Gesellschaft wollten und dafür bezahlen konnten, am häufigsten zu jemandem wie ihr.
Seit sie ein paar Mal wegen irgendwelcher Drogen hochgenommen worden war, war sie nur noch für die Arbeit auf der Straße lizenziert. Aber inzwischen war sie sauber, und sie hatte die Absicht, die Leiter der Prostitution wieder so weit zu erklimmen, dass sie sich eine schicke Wohnung leisten konnte, in der sie einsame, reiche Gönner empfing.
Erst einmal musste sie sich aber ihren gottverdammten Lebensunterhalt hier auf dem Straßenstrich verdienen, doch bei der Affenhitze hatte kaum jemand Interesse dar an, für etwas zu bezahlen, bei dem er noch mehr in Schweiß geriet. Dass sie in den letzten beiden Stunden kaum Kolleginnen getroffen hatte, sagte ihr, dass in dem momentanen Klima auch kaum jemand bereit war, Sex zu haben, wenn er Geld dafür bekam.
Aber Jacie war ein Profi, und zwar schon seit der Nacht vor über zwanzig Jahren, in der sie in das Geschäft mit der bezahlten Liebe eingestiegen war. Auch wenn sie in der Hitze vielleicht schwitzte, welkte sie doch nicht. Ebenso, wie sie unter der Straßenlizenz auf Bewährung vielleicht hin und wieder leise stöhnte, daran aber nicht zerbrach.
Sie würde auf den Füßen bleiben - oder, je nach Wunsch des Kunden, auf den Knien, auf dem Rücken oder auf dem Bauch - und ihre Arbeit tun.
Sie würde ihre Arbeit tun, die Kohle auf die Seite legen und in ein paar Monaten wieder in ein Penthouse in der Park Avenue umziehen, denn dort gehörte sie hin.
Sie verdrängte den Gedanken, dass sie vielleicht etwas zu alt und weich für die Arbeit auf der Straße war, und konzentrierte sich ausschließlich darauf, noch einen Kunden aufzureißen. Einen letzten Kunden vor Ende dieser Schicht.
Ohne einen letzten Kunden bliebe ihr nach Zahlung ihrer Miete nicht genügend Geld für den Schönheitssalon. Und sie brauchte dringend eine Überholung.
Nicht, dass sie nicht noch immer gut aussehen würde, sagte sie sich, während sie an einer Straßenlaterne in dem drei Blocks umfassenden Gebiet, das sie in dieser düsteren Gegend der City für sich beansprucht hatte, vorüberschlenderte. Sie achtete auf sich. Vielleicht hatte sie die Drogen gegen eine tägliche Flasche Wodka ein- getauscht - und, verdammt, sie könnte augenblicklich einen Schluck vertragen -, aber sie sah immer noch fantastisch aus.
Sie stellte das, was sie zu bieten hatte, in einem leuchtend roten, knappen Büstenhalter und einem kaum über die Pobacken reichenden Minirock in derselben Farbe vorteilhaft zur Schau. Bis sie in den Schönheitssalon käme, hielte der BH ihren Busen ersatzweise in Form. Das Beste an ihr waren aber immer noch die Beine. Sie waren lang und wohlgeformt und wirkten in den silbernen High Heels, deren kreuzweise gebundene Riemchen bis zu den Knien reichten, erotischer denn je.
Nur brachten sie sie beinahe um, als sie auf der Suche nach einem letzten Freier durch die Straßen streifte.
Um ihren Füßen eine kurze Pause zu verschaffen, lehnte sie sich an den nächsten Laternenpfosten, streckte ihre Hüfte vor und sah sich aus müden braunen Augen suchend in der beinahe menschenleeren Straße um. Sie hätte die lange Silberperücke aufsetzen sollen, überlegte sie. Auf lange Haare fuhren beinahe alle Kerle ab. Aber den Gedanken an das Gewicht einer Perücke hatte sie heute Abend nicht ertragen und sich deshalb einfach ihre eigenen rabenschwarzen Haare hochgesteckt und mit etwas silbernem Glitzerspray besprüht.
Ein paar Autos fuhren an ihr vorbei, doch obwohl sie sich nach vorne beugte und einladend mit den Hüften wackelte, hielt einfach niemand an.
Noch zehn Minuten, dann gäbe sie auf. Sie würde dem Vermieter einfach gratis einen blasen, wenn er wegen der Miete kam.
Sie stieß sich von dem Laternenpfosten ab und lief langsam mit schmerzenden Füßen in Richtung des winzig kleinen Zimmers, mit dem sie sich begnügen musste, seit sie aus der exklusiven Wohnung in der Upper West Side mit dem prall mit unzähligen wunderschönen Kleidern gefüllten Schrank, die sie sich dank ihres voll en Terminkalenders früher hatte leisten können, rausgeflogen war.
Drogen, hatte die Bewährungshelferin erklärt, schickten einen in eine abwärts verlaufende Spirale, und häufig endete diese Spirale mit einem elendigen Tod.
Sie hatte die Spirale überlebt, ging es Jacie durch den Kopf, nur dass eben jetzt ihr Leben elend war.
Noch ein halbes Jahr, versprach sie sich. Dann wäre sie wieder ganz oben.
Dann entdeckte sie den Typen, der ihr entgegenkam. Reich, exzentrisch und eindeutig am falschen Ort - in dieser Gegend lief kaum je ein Mann in einem teuren Smoking oder gar in einem eleganten, schwarzen Umhang, mit einem Zylinder auf dem Kopf und einer schwarzen Ledermappe in der Hand herum.
Jacie setzte ihr Arbeitsgesicht auf und strich mit einer Hand über ihren knappen Rock. »He, Baby. Du siehst so schick aus, warum feierst du nicht etwas mit mir?«
Als er sie mit einem schnellen, beifälligen Lächeln ansah, blitzten in seinem Mund zwei Reihen kerzengerader, strahlend weißer Zähne auf. »Was hast du dir denn vorgestellt?«
Seine Sprechweise passte zu seinem Aufzug. Er gehörte eindeutig zur Oberschicht, dachte sie halb wehmütig und halb erfreut. Stilvoll, kultiviert. »Was du willst. Du bist der Boss.«
»Dann vielleicht eine kleine Privatparty, irgendwo hier in der Nähe.« Er sah sich suchend um und winkte dann in Richtung einer schmalen Gasse. »Ich habe leider nicht viel Zeit.«
Die Gasse verhieß einen Quick le, und der kam ihr gerade recht. Sie brächten die Sache innerhalb von wenigen Minuten hinter sich, und wenn sie geschickt vorging, strich sie neben der Gebühr vielleicht noch ein ordentliches Trinkgeld ein. Dann reichte ihre Kohle für die Miete und die Busenstraffung, dachte sie vergnügt.
»Du bist nicht hier aus der Gegend, oder?«
»Weshalb fragst du das?«
»Du klingst nicht so und siehst auch nicht so aus.« Sie zuckte mit den Schultern. Im Grunde ging es sie nicht das Geringste an. »Sag mir, was du möchtest, Baby, dann bringen wir den finanziellen Teil dieses Geschäfts sofort hinter uns.«
»Oh, ich will alles.«
Lachend legte sie die Hand in seinen Schritt. »Mmm. Das spüre ich. Dann sollst du auch alles kriegen.« Dann kann ich endlich diese Schuhe ausziehen und etwas trinken. Sie nannte einen hohen Preis, und als er einfach nickte, verfluchte sie sich stumm, weil sie nicht noch höher gegangen war.
»Ich will den Zaster vorher«, erklärte sie entschieden. »Erst das Geld, dann das Vergnügen.«
»Sicher. Als Erstes wird bezahlt.«
Immer noch lächelnd drückte er sie plötzlich mit dem Gesicht gegen die Wand, riss ihren Kopf an den Haaren nach hinten, zückte gleichzeitig ein Messer und schlitzte ihr, bevor sie auch nur schreien konnte, mit einem schnell en Schnitt die Kehle auf. Sie starrte ihn aus großen Augen an, öffnete den Mund, machte ein gurgelndes Geräusch und glitt dann an der Mauer in den Dreck hinunter.
»Und jetzt kommt das Vergnügen«, stellte er zufrieden fest und machte sich ans Werk.
Es gab einfach immer wieder Neues zu sehen. Egal, wie oft man schon durch das Blut und durch die Eingeweide Toter gestapft war, egal, wie häufig man das grausige Szenarium gewaltsamer Tötungen schon erlebt hatte, es gab doch immer wieder Neues.
Immer gab es etwas, das noch schlimmer, noch gemeiner, noch verrückter, noch bösartiger, noch grausamer war.
Als Lieutenant Eve Dallas über der Gestalt stand, die einmal eine Frau gewesen war, fragte sie sich, ob dies nicht vielleicht doch der Gipfel allen Grauens war.
Zwei der uniformierten Beamten, die zum Fundort gerufen worden waren, standen immer noch am Ausgang der schmalen, engen Gasse und kotzten sich die Seelen aus dem Leib. Sie selbst stand mit versiegelten Händen und Schuhen direkt neben der Toten und atmete, damit ihr eigener Magen sich beruhigte, ein paar Mal möglichst langsam aus und ein.
Hatte sie schon einmal so viel Blut gesehen? Sicher war es besser, wenn es ihr nicht mehr einfiele.
Sie ging in die Hocke, öffnete den Untersuchungsbeutel und zog den Identifizierungspad zur Überprüfung der Fingerabdrücke des Opfers daraus hervor. Da sich das überall verspritzte Blut nicht einfach abwischen ließ, dächte sie am besten nicht mehr darüber nach. Sie hob die schlaffe Hand der Toten und drückte ihren Daumen auf den Pad.
»Das Opfer ist eine weiße Frau. Die Leiche wurde gegen drei Uhr dreißig von zwei Beamten entdeckt, die auf einen anonymen Anruf hin hierhergekommen sind. Die Überprüfung der Fingerabdrücke hat ergeben, dass es sich bei der Toten um eine gewisse Jacie Wooton handelt, einundvierzig Jahre, lizenzierte Gesellschafterin, wohnhaft in der Doyers Street 375.«
Sie atmete zweimal nacheinander so flach wie möglich aus und ein. »Dem Opfer wurde die Kehle durchgeschnitten. Das Spritzmuster lässt vermuten, dass ihr die Wunde zugefügt wurde, während sie mit dem Gesicht zu der nach Norden gehenden Mauer stand, und dass sie dann entweder von selber auf den Rücken gefallen oder von dem oder den Angreifern auf den Rücken gedreht worden ist, bevor Gott. Oh Gott.
»Bevor man ihr den Uterus herausgeschnitten hat. Die Verletzungen an Hals und Unterleib deuten auf präzise Schnitte mit einem scharfen Messer hin.«
Trotz der Hitze strömte kalter, klammer Schweiß über ihren Rücken, als sie weil er Messungen durchführte und Informationen in den Rekorder sprach.
»Tut mir leid«, sagte ihre Assistentin Peabody in ihrem Rücken. Eve brauchte sich nicht umzusehen, um zu wissen, dass Peabodys Gesicht vom Schock und von der Übelkeit noch immer schweißglänzend und kreidig war. »Tut mir leid, Lieutenant; ich konnte mich einfach nicht zusammenreißen.«
»Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Sind Sie jetzt wieder okay?«
»Ich _ ja, Madam.«
Eve nickte und fuhr mit ihrer Arbeit fort. Die robuste, ausgeglichene, zuverlässige Peabody hatte nur einen kurzen Blick auf das geworfen, was hier in der Gasse lag, war leichenblass geworden, und hatte auf Eves scharfe Bemerkung, dass sie gefälligst woanders kotzen sollte, auf der Stelle kehrtgemacht.
»Ich habe ihren Namen. Jacie Wooton. Gesellschafterin, wohnhaft in der Doyers. Überprüfen Sie sie bitte für mich.«
»So etwas habe ich noch nie gesehen. Noch nie in meinem
»Besorgen Sie mir Informationen über sie. Tun Sie es vorne an der Straße. Hier stehen Sie mir im Licht.«
Peabody wusste genau, dass das nicht stimmte. Ihr Lieutenant wollte ihr nur eine kurze Verschnaufpause verschaffen, da ihr schon wieder übel wurde, nahm sie das Angebot stumm an.
Ihr Hemd war nass vom Schweiß, die dunklen Haare unter ihrer Kappe klebten feucht an ihrem Kopf, ihre Kehle brannte, ihre Stimme piepste, doch während sie den Handcomputer aus der Tasche zog, verfolgte sie, wie ihre Chefin weiter ihre Arbeit tat.
Sie war gründlich, effizient und, wie manche vielleicht sagen würden, kalt. Peabody jedoch hatte den Schock, das Grauen und das Mitleid in ihrem Blick gesehen, bevor ihre eigene Sicht verschwommen war. Kalt war eindeutig das falsche Wort, getrieben passte eher.
Auch Eve war ziemlich blass, bemerkte Peabody, und es lag nicht nur an den grell en Lampen der Spurensicherung, dass jegliche Farbe aus ihrem schmal en Gesicht gewichen war. Ihre braunen Augen blickten völlig reglos und ihre Hände waren ruhig, als sie mit blutverschmierten Stiefeln neben der Toten hockte und gründlich untersuchte, welch grauenhafter Frevel an ihr begangen worden war.
Der Rücken ihres Hemdes wies eine dünne Schweißspur auf, doch sie war nicht davongestolpert, hatte nicht gewürgt. Nein, sie war geblieben und sie würde bleiben, bis ihr Job erledigt war.
Eve richtete sich wieder auf, und Peabody sah eine große, schlanke Frau in abgewetzten Jeans und einer wunderbaren Leinenjacke, mit einem fein gemeißelten Gesicht mit einem voll en Mund, großen goldbraunen Augen und kurzem, wirrem, ebenfalls goldbraunem Haar.
Vor allem aber sah sie eine Polizistin, die noch nie vor irgendwelchen Toten zurückgewichen war.
»Dallas -«
»Peabody, so lange Sie keine Spuren dadurch verwischen, kotzen Sie meinetwegen die ganze Straße voll. Und jetzt sagen Sie mir, was Sie rausgefunden haben.«
»Das Opfer hat seit zweiundzwanzig Jahren in New York gelebt. Erst am Central Park West und seit achtzehn Monaten hier.«
»Ziemlich krasser Abstieg. Weshalb wurde sie hochgenommen?«
»Wegen Drogen. Insgesamt dreimal. Sie hat ihre Callgirl-Lizenz verloren, war dann aber sechs Monate in der Reha und in psychotherapeutischer Behandlung, wofür sie vor circa einem Jahr eine Straßenlizenz auf Bewährung ausgestellt bekommen hat.«
»Hat sie gegen ihren Dealer ausgesagt?«
»Nein, Madam.«
»Wir werden sehen, was die toxikologische Untersuchung bringt, aber ich glaube nicht, dass Jack ihr
Dealer war.« Eve griff nach dem Umschlag, der auf der Brust der toten Frau gelegen hatte, und der jetzt in einem Plastikbeutel steckte, damit er keine Flecken abbekam.

LIEUTENANT EVE DALLAS, POLIZEI NEW YORK
Die Worte waren, wie sie annahm, mit einem Computer in einer eleganten Schrift auf elegantes, cremefarbenes Papier gedruckt. Dick, schwer, teuer. Die Art von Papier, auf der man in der so genannten besseren Gesellschaft Einladungen schrieb. Sie kannte sich mit diesen Dingen aus, dachte sie ironisch, da schließlich ihr eigener Ehemann regelmäßig Einladungen zu exklusiven Veranstaltungen verschickte und bekam.
Dann zog sie einen zweiten Plastikbeutel aus der Tasche und las erneut den darin aufbewahrten Brief.

Hallo, Lieutenant Dallas,
ist es Ihnen heiß genug? Ich weiß, Sie hatten einen anstrengenden Sommer, denn ich habe Ihre Arbeit voller Bewunderung verfolgt. Mit keinem anderen Mitglied der New Yorker Polizei gehe ich deshalb lieber eine innige Beziehung ein.
Hier ist eine kleine Kostprobe von meiner Arbeit. Was halten Sie davon? Ich freue mich bereits auf weitere Treffen. Jack
»Ich werde dir sagen, was ich von dir halte, Jack. Du bist für mich ein krankes Arschloch, weiter nichts. Einpacken«, wies sie die Sanitäter mit einem letzten Blick auf Jacie Wooton an. »Schafft sie in die Pathologie.«
Wootons Wohnung lag im vierten Stock eines der Gebäude, die als vorübergehende Unterkünfte für die Flüchtlinge und Opfer der Innerstädtischen Revolten vor allem in den ärmeren Bezirken von New York errichtet worden und bereits seit Jahren zum Abriss vorgesehen waren.
Die städtischen Behörden zögerten den Rauswurf all der kleinen Nutten, Junkies, Deal er und Niedriglohnempfänger immer wieder hinaus, und während sie dies taten, verfielen die Gebäude immer weit er, ohne dass irgendjemand etwas dagegen unternahm.
Eve ging sicher davon aus, dass nichts geschehen würde, bis eine der Ruinen in sich zusammenbrach und die Bewohner unter sich begrub. Dann endlich würde den Verantwortlichen vielleicht eine Klage an den Hals gehängt.
Bis dahin aber wären derartige Häuser auch weiterhin die Orte, an denen man glücklose kleine Prostituierte wie Jacie Wooton fand.
Ihr Zimmer war ein kleiner, stickiger Verschlag mit einer kaum sichtbaren Küchenzeile und einem handtuchgroßen Bad, aus dem sich dem Bewohner die wunderbare Aussicht auf die Wand des identischen Nachbarhauses bot.
Durch die dünnen Wände drang das heldenhafte Schnarchen eines Nachbarn an Eves Ohr.
Trotz der dürftigen Umgebung hatte Jacie streng auf Sauberkeit geachtet und sich um so viel Schick wie möglich bemüht. Die Möbel waren billig, aber farbenfroh, und statt hinter teuren Jalousien hatte sie das Fenster einfach hinter gerüschten Vorhängen versteckt. Das Schlafsofa war ausgezogen, das Bett aber gemacht. Das teure Baumwolllaken stammte sicher noch aus besseren Zeiten, überlegte Eve.
Ein billiges Telefon stand auf einem kleinen Tischchen, und auf einer schäbigen Kommode waren Jacies Arbeitswerkzeuge verteilt: Kosmetika, Parfüms, Perücken, Modeschmuck, abwaschbare Tattoos. Schubladen und Schrank waren zum größten Teil mit Arbeitskleidung angefüllt, dazwischen aber hingen auch ein paar konservative Kleidungsstücke, in denen Jacie offenbar in ihren freien Stunden herumgelaufen war.
Eve fand einen Vorrat rezeptfreier Medikamente, darunter anderthalb Flaschen Ausnüchterungsmittel, was angesichts der beiden Flaschen Wodka und der Flasche selbstgebrannten Fusels in der Küche einen gewissen Sinn ergab.
Da sie keine Drogen in der Wohnung fand, ging sie davon aus, dass Jacie von den Chemikalien zu Alkohol gewechselt hatte, der zwar vielleicht nicht wirklich besser, aber zumindest nicht verboten war.
Sie trat vor das Telefon und spielte die Gespräche der vergangenen drei Tage ab. Eins mit ihrer Bewährungshelferin wegen der Erweiterung ihrer Lizenz, einen unbeantworteten Anruf des Vermieters wegen der ausstehenden Miete, und ein Telefonat mit einem exklusiven Schönheitssalon, bei dem es um die Tarife für diverse Behandlungen gegangen war.
Keine Plauderei mit irgendeiner Freundin.
Über ihre spärlichen Finanzen hatte Jacie penibel Buch geführt. Sie hatte auf ihr Geld geachtet, war regelmäßig ihrer Arbeit nachgegangen, hatte einen Teil der Kohle auf die Bank getragen, das meiste jedoch wieder in die Arbeit investiert. Die Ausgaben für Kleidung, Körper-, Haar-, Gesichtsbehandlungen waren erstaunlich hoch.
Ein seltsamer und trauriger Kreislauf, überlegte Eve.
»Sie hat sich ein hübsches Nest in einem sehr hässlichen Baum gebaut«, stellte sie Peabody gegenüber fest. »Ich habe keine Gespräche oder andere Nachrichten von irgendeinem Jack oder einem anderen Kerl entdeckt. Sie war nicht verheiratet und hatte auch keine eingetragene Partnerschaft?«
»Nein, Madam.«
»Am besten sprechen wir mit ihrer Bewährungshelferin. Sie kann uns sicher sagen, ob es einen Menschen gab, dem sie besonders nahe stand oder den sie vielleicht verlassen hat. Allerdings glaube ich kaum, dass wir ihn in dieser Ecke hier finden.«
»Dallas, ich habe den Eindruck, dass das, was er mit ihr gemacht hat ^ ich habe den Eindruck, dass das eine persönliche Geschichte war.«
»Den habe ich auch.« Eve sah sich noch einmal in dem Zimmer um. Ordentlich und mädchenhaft zeigte es das verzweifelte Bemühen um ein Mindestmaß an Eleganz und Stil. »Ich denke, dass es sogar sehr persönlich war, dass es aber nicht speziell um Jacie ging. Er hat eine Frau getötet, eine Frau, deren Beruf es war, ihren Körper zu verkaufen. Er hat sie nicht nur umgebracht, sondern ihr obendrein den Teil herausgeschnitten, der symbolisch für ihre Arbeit stand. Es ist nicht besonders schwer, um diese Zeit in dieser Gegend eine Prostituierte aufzutreiben. Er hat also den Ort und auch den Zeitpunkt mit Bedacht gewählt. Eine Kostprobe von seiner Arbeit«, murmelte sie leise. »Das ist all es, was sie für ihn war.«
Sie trat mit zusammengekniffenen Augen vor das Fenster und stellte sich die Straße, die Gasse, das Gebäude vor, wo sie Jacie gefunden hatten. »Vielleicht hat er sie gekannt oder vorher schon einmal gesehen. Vielleicht war es auch reiner Zufall, dass er gerade sie genommen hat. Aber er war auf jeden Fall bereit. Er hatte die Waffe und das Schreiben sowie irgendetwas - eine Tasche, eine Tüte, einen Koffer - bei sich, worin er frische Kleider hatte, weil er sich nämlich sicher umgezogen hat. Schließlich muss er nach der Tat über und über mit Blut bedeckt gewesen sein.
Sie ist mit ihm in die Gasse gegangen«, fuhr Eve nachdenklich fort. »Es war heiß, es war spät, die Geschäfte liefen nicht besonders gut. Aber plötzlich bot sich eine letzte Chance, vielleicht ein letzter Job, bevor sie endlich Feierabend machen konnte. Sie war durchaus erfahren, schließlich hat sie diesen Job zwanzig Jahre lang gemacht, aber sie sah ihm nicht an, dass er gefährlich war. Vielleicht war sie betrunken, oder vielleicht hat er einfach okay auf sie gewirkt. Außerdem war sie die Arbeit auf der Straße nicht gewohnt und hatte deshalb sicher nicht die notwendigen Instinkte.«
Sie war eher das gute Leben gewohnt, dachte Eve, die sexuellen Launen der diskreten Mitglieder der so genannten Oberschicht. Chinatown war ihr bestimmt wie ein völlig fremder Planet erschienen.
»Sie stand mit dem Rücken an der Wand.« Eve konnte es deutlich vor sich sehen. Das aufgetürmte, schwarze, silbrig schimmernde Haar, das grelle Komm-schon- großer-Junge-Rot ihres BHs. »Sie dachte, sie bräuchte die Kohle für die Miete, oder hoffte, er würde sich beeilen, denn ihr taten bestimmt die Füße weh - Himmel, diese Schuhe, die sie anhatte, haben sie sicher beinahe umgebracht. Sie war hundemüde, aber sie wollte noch diesen einen Job durchziehen, bevor sie Feierabend machte.
Als er ihr plötzlich die Gurgel durchgeschnitten hat, war sie vor allem überrascht. Es muss schnell und sauber abgelaufen sein. Ein schneller Schnitt von links nach rechts, quer über die Drosselvene. Das Blut hat wahrscheinlich wie wahnsinnig gespritzt. Bevor ihr Hirn auch nur begriff, was mit ihr passierte, war sie auch schon tot. Für ihn jedoch fing damit alles erst richtig an.«
Sie wandte sich erneut dem Zimmer zu und blickte auf die Kommode mit dem billigen Schmuck, den teuren Lippenstiften, den Parfüms - Imitationen teurer Nobelmarken, um sie daran zu erinnern, dass es eine Zeit gegeben hatte, in der sie in dem echt en Duft gebadet hatte, und dass diese Zeit, verdammt noch mal, bald wieder kommen würde, überlegte sie.
»Er hat sie auf den Rücken gedreht und die Frau aus ihr herausgeschnitten. Er hatte eine Tasche oder so dabei, um das zu transportieren, was er ihr genommen hat. Dann hat er sich die Hände abgewischt.«
Auch ihn konnte sie deutlich vor sich sehen, wie er in der schmutzigen Gasse kauerte und mit bluttriefenden Händen Ordnung schuf.
»Wahrscheinlich hat er auch sein Werkzeug abgewischt, die Hände aber ganz bestimmt. Dann hat er den Brief hervorgezogen und ihr ordentlich auf die Brust gelegt. Außerdem muss er das Hemd gewechselt oder eine
Jacke drübergezogen haben, damit man das Blut nicht sieht. Und dann?«
Peabody blinzelte verwirrt. »Ah, dann ist er gegangen. Seine Arbeit war erledigt, und er hat sich auf den Heimweg gemacht.«
»Wie?«
»Hm, wenn er in der Nähe wohnt, wahrscheinlich zu Fuß.« Sie atmete tief durch und versuchte statt mit ihren eigenen Augen mit denen ihres Lieutenants oder besser noch des Killers selbst zu sehen. »Er ist derart euphorisch, dass er sich keine Gedanken wegen eines möglichen Überfalles macht. Wenn er nicht in der Nähe wohnt, ist er wahrscheinlich mit seinem eigenen Wagen da, denn selbst wenn er sich umgezogen oder eine Jacke übergeworfen hat, klebt noch immer so viel Blut an ihm, dass man es sicher riecht. Taxi oder U-Bahn wären deshalb einfach zu riskant.«
»Gut. Wir werden überprüfen, ob vielleicht ein Taxi einen Verdächtigen dort in der Gegend aufgelesen hat, aber dabei kommt wahrscheinlich nichts heraus. Jetzt versiegeln wir die Wohnung und hören uns erst mal bei den Nachbarn um.«
Wie in einem solchen Haus nicht anders zu erwarten, hatten die netten Nachbarn nichts gesehen und nichts gehört.
Der Vermieter hatte sein Büro in Chinatown zwischen einer auf Entenfüße spezialisierten Schlachterei und einem Laden für alternative Medizin, der einem Gesundheit, Wohlbefinden und spirituelle Ausgeglichenheit oder das Geld zurück versprach.