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Sara - Roman

Stephen King

 

Verlag Heyne, 2010

ISBN 9783641035709 , 640 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

An einem sehr heißen Tag im August 1994 sagte mir meine Frau, daß sie zur Rite-Aid-Drogerie von Derry runtergehen und sich das Mittel gegen ihre Nebenhöhlenentzündung auf ihr Wiederholungsrezept holen würde - ich glaube, mittlerweile kann man das Zeug im freien Verkauf bekommen. Ich hatte mein Schreibpensum für diesen Tag erfüllt und bot ihr an, es für sie zu besorgen. Sie sagte danke, aber sie wolle sowieso noch Fisch im Supermarkt nebenan kaufen; zwei Fliegen mit einer Klappe und so weiter. Sie blies mir einen Kuß von der Handfläche zu und ging hinaus. Das nächste Mal sah ich sie im Fernsehen. So identifiziert man die Toten hier in Derry - keine Spaziergänge durch einen unterirdischen Flur mit grünen Fliesen an den Wänden und langen Neonröhren an der Decke, kein nackter Leichnam, der auf einer kalten Rollbahre herausgezogen wird; man betritt einfach ein Büro mit der Aufschrift PRIVAT, betrachtet einen Bildschirm und sagt jawoll oder nee.
Rite Aid und Shopwell sind keine Meile von unserem Haus entfernt in einem kleinen Einkaufszentrum, wo sich auch eine Videothek, ein Antiquariat mit Namen Spread It Around (wo sie mit meinen alten Taschenbüchern gute Umsätze machen), ein Radio Shack und ein Fast Foto befinden. Sie liegt auf dem Up-Mile Hill an der Kreuzung Witcham und Jackson.
Sie parkte vor dem Blockbuster Video, ging in den Drugstore und verhandelte mit Mr. Joe Wyzer, der zu jener Zeit den Laden führte; inzwischen hat er das Rite Aid in Bangor übernommen. Am Tresen nahm sie eine dieser kleinen, mit Marshmallow gefüllten Schokopralinen mit, diese in Form einer Maus. Ich fand sie später in ihrer Handtasche. Ich wickelte sie aus und aß sie vor dem auf dem Küchentisch ausgebreiteten Inhalt ihrer roten Handtasche, und es war, als empfinge man die Kommunion. Als die Maus verschwunden war, vom Schokoladengeschmack auf meiner Zunge und im Hals abgesehen, brach ich in Tränen aus. Ich saß im Durcheinander ihrer Kleenex und Schminkutensilien und Schlüssel und halbleeren Cert-Röllchen und weinte mit den Händen vor den Augen, wie Kinder weinen.
Der Inhalator war in einer Tüte von Rite Aid. Er hatte zwölf Dollar und achtzehn Cent gekostet. Es war noch etwas in der Tüte, etwas, das zweiundzwanzig fünfzig gekostet hatte. Diesen anderen Gegenstand betrachtete ich lange Zeit, sah ihn, aber verstand ihn nicht. Ich war überrascht, vielleicht sogar fassungslos, aber der Gedanke, daß Johanna Arlen Noonan ein anderes Leben geführt haben könnte, von dem ich nichts wußte, kam mir nicht in den Sinn. Noch nicht.
Jo wandte sich von der Registrierkasse ab, ging wieder in die grelle, knallige Sonne hinaus und tauschte unterwegs wie gewöhnlich die normale Brille gegen die vom Arzt verschriebene Sonnenbrille aus, und in dem Augenblick, als sie unter dem schmalen Vordach des Drugstore hervortrat (ich nehme an, hier lasse ich ein bißchen meine Fantasie spielen, betrete ein bißchen das Land des Romanciers, aber nicht weit; nur Zentimeter, das können Sie mir glauben), ertönte das zänkische Heulen blockierender Reifen auf Asphalt, das bedeutet, daß es entweder gleich einen Unfall gibt oder um Haaresbreite keinen.
Diesmal gab es einen - die Art von Unfall, wie sie anscheinend mindestens einmal wöchentlich an dieser dämlichen X-förmigen Kreuzung passierte. Ein 1989er Toyota fuhr vom Parkplatz des Einkaufszentrums und bog nach links in die Jackson Street ab. Am Steuer saß Mrs. Esther Easterling aus Barrett's Orchards. Sie wurde von ihrer Freundin Mrs. Irene Deorsey begleitet, ebenfalls aus Barrett's Orchards, die sich in der Videothek umgesehen hatte, ohne etwas zu finden, das sie ausleihen wollte. Zuviel Gewalt, sagte Irene. Beide Frauen waren Zigarettenwitwen.
Esther konnte den orangeroten Kipplader der Stadtwerke, der den Hügel herunterkam, kaum übersehen haben; obwohl sie es der Polizei, der Zeitung und mir selbst gegenüber abstritt, als ich rund zwei Monate später mit ihr redete, erscheint es mir wahrscheinlich, daß sie einfach vergessen hat nachzusehen, ob die Straße frei war. Wie meine Mutter (ebenfalls eine
Zigarettenwitwe) zu sagen pflegte: »Die beiden häufigsten Gebrechen der Alten sind Arthritis und Vergeßlichkeit. Man kann sie für keins von beiden verantwortlich machen.«
Den Lastwagen der Stadtwerke fuhr William Fraker aus Old Cape. Mr. Fraker war am Todestag meiner Frau achtunddreißig Jahre alt, fuhr ohne Hemd und dachte nur daran, wie sehr er sich nach einer erfrischenden Dusche und einem kalten Bier sehnte, nicht notwendig in dieser Reihenfolge. Er und drei weitere Männer hatten acht Stunden damit verbracht, die Harris Avenue Extension in der Nähe des Flughafens zu asphaltieren, ein heißer Job an einem heißen Tag, und Bill Fraker sagte ja, vielleicht sei er ein wenig zu schnell gefahren - vielleicht vierzig Meilen in einer Tempo-dreißig-Zone. Er hatte es eilig, ins Depot zu kommen, den Lastwagen abzuliefern und sich ans Steuer seines F-150 mit Klimaanlage zu setzen. Und die Bremsen des Lastwagens waren zwar noch gut genug für eine Inspektion, aber längst nicht tipptopp. Fraker trat darauf, sobald er sah, wie der Toyota vor ihm von dem Parkplatz herunterfuhr (er drückte auch auf die Hupe), aber es war zu spät. Er hörte quietschende Reifen - seine eigenen und die von Esther, als sie die Gefahr, zu spät, erkannte - und sah einen Augenblick lang ihr Gesicht.
»Das war irgendwie das Schlimmste daran«, sagte er zu mir, als wir auf seiner Veranda saßen und Bier tranken - da war es Oktober, und obwohl uns die Sonne warm ins Gesicht schien, trugen wir beide Pullover. »Wissen Sie, wie hoch man in diesen Kippladern sitzt?«
Ich nickte.
»Nun, sie schaute hoch, um mich zu sehen - reckte regelrecht den Hals, könnte man sagen -, und die Sonne schien ihr ins Gesicht. Ich konnte sehen, wie alt sie war. Ich entsinne mich, daß ich dachte: >Heilige Scheiße, sie wird zerbrechen wie Glas, wenn ich nicht anhalten kann.< Aber alte Leute sind oft ganz schön zäh. Sie können einen überraschen. Ich meine, sehen Sie, wie es gekommen ist, die beiden alten Tanten leben noch, und Ihre Frau .«