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Engelsnacht

Lauren Kate

 

Verlag cbj Kinder- & Jugendbücher, 2010

ISBN 9783641048785 , 464 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

Am Anfang
Helston, England
September 1854
 
Um Mitternacht zeichnete er dann ganz zuletzt die Augen. Ihr Blick war der einer Raubkatze, halb zögernd, halb wild entschlossen – voller Glut. Ja, er hatte sie genau getroffen. Es waren ihre Augen. Sie standen leicht schräg in ihrem Gesicht, und über ihnen wölbten sich zarte, elegant geschwungene Augenbrauen. Lange dunkle Haare fielen ihr bis über die Schultern herab.
Er hielt die Zeichnung am ausgestreckten Arm von sich weg, um sie noch einmal auf sich wirken zu lassen. Um zu überprüfen, ob er Fortschritte gemacht hatte. Ein Porträt von ihr zu zeichnen, ohne sie vor sich zu haben, war nicht leicht. Andererseits hatte er in ihrer Gegenwart noch nie zeichnen können. Seit er aus London gekommen war – nein, das war nicht richtig, seit er sie das erste Mal gesehen hatte, war er stets darauf bedacht gewesen, sie auf Abstand zu halten.
Nun aber suchte sie mit jedem Tag mehr seine Nähe, und mit jedem Tag wurde es schwieriger für ihn. Deshalb würde er am Morgen auch abreisen – nach Indien, nach Amerika, er wusste es noch nicht, und es war ihm auch gleichgültig. Wohin auch immer das Schicksal ihn führte, überall würde es für ihn leichter zu ertragen sein als hier, in ihrer Gegenwart.
Er beugte sich noch einmal über die Zeichnung auf seinen Knien, seufzte tief und fuhr mit dem Daumen weich über den Kohlestrich, sodass ihre Lippen nun voll und sinnlich wirkten. Dieses tote Blatt Papier – welch armseliger Ersatz – war das Einzige, was er von ihr mitnehmen würde.
Mit einem Mal richtete er sich in dem schweren Ledersessel auf. Er spürte es. Ein warmer Hauch, der über seinen Nacken strich.
Sie.
Allein ihre Nähe rief in ihm eine höchst eigenartige Empfindung hervor, eine Hitze durchströmte ihn, wie er sie von den Holzscheiten im Feuer kannte, kurz bevor sie in der Glut bersten und zu Asche zerfallen. Er wusste es, ohne sich umdrehen zu müssen: Sie war da. Er bedeckte hastig ihr Ebenbild auf dem Papier, aber ihr selbst konnte er nicht mehr entfliehen.
Seine Augen fielen auf das hell gepolsterte Kanapee an der gegenüberliegenden Wand des Salons, wo sie vor ein paar Stunden erst gesessen hatte, nachdem sie unerwartet und spät doch noch bei der Abendgesellschaft aufgetaucht war. In einem rosa Seidenkleid hatte sie der ältesten Tochter ihres Gastgebers applaudiert, die den Gästen ein Stück auf dem Cembalo vorgespielt hatte. Danach wanderte sein Blick weiter durchs Fenster zur Terrasse, wo sie sich ihm am Tag zuvor leise von hinten genähert hatte, um ihn zu überraschen, in der Hand einen Strauß weißer Pfingstrosen. Sie dachte immer noch, die Anziehungskraft, die sie immer wieder in seine Nähe trieb, sei ein reines, unschuldiges Gefühl und ihre häufigen Begegnungen in der Gartenlaube seien … bloßer Zufall. Ach, wie naiv sie doch war! Aber nie würde er ihr alles erzählen, was er wusste – er musste die Bürde ihres gemeinsamen Geheimnisses allein tragen.
Er stand auf und drehte sich um, das Skizzenbuch mit den vielen Porträts ließ er zugeklappt auf dem schweren Ledersessel zurück. Und da stand sie wirklich, in ihrem weißen Morgenmantel neben dem dunkelroten Samtvorhang, ihr langes schwarzes Haar hatte sich aus dem Zopf gelöst. Der Ausdruck in ihrem Gesicht war so, wie er ihn immer wieder gezeichnet hatte. Da war das Feuer, das ihr in die Wangen stieg. War sie wütend? Fühlte sie sich ertappt? War sie verlegen? Er hätte es gerne gewusst, aber er durfte sie nicht fragen.
»Was tun Sie hier?« Er bemerkte den harschen Tonfall, mit dem er sie anfuhr, und bedauerte ihn sofort. Nie würde sie den Grund dafür erfahren.
»Ich – ich konnte nicht schlafen«, stammelte sie. »Ich habe in Ihrem Zimmer Licht gesehen und dann« – sie hielt inne, blickte scheu auf ihre Hände – »dann Ihren Schrankkoffer vor der Tür. Verlassen Sie uns etwa?« Sie machte einen Schritt auf das Kaminfeuer und den Sessel zu.
»Ich wollte es Ihnen gestern Abend bereits mitteilen -« Er unterbrach sich. Besser, er log sie nicht an. Er hatte ihr von seinen Plänen nie erzählen wollen. Das würde alles nur noch schlimmer machen. Er war sowieso schon viel zu weit gegangen, von der irrwitzigen Hoffnung getrieben, dieses eine Mal würde alles anders sein.
Sie kam näher und ihre Augen fielen auf das Skizzenbuch. »Haben Sie mich etwa gezeichnet?«
Ihr halb überraschter, halb verlegener Tonfall verdeutlichte ihm erneut, wie groß die Kluft zwischen ihnen war. Selbst nach den vielen Stunden, die sie in den vergangenen Wochen miteinander verbracht hatten, ahnte sie noch nicht einmal dunkel, was das Geheimnis ihrer gegenseitigen Anziehung war.
Gut so. Oder zumindest: besser so. In den vergangenen Tagen, seit er beschlossen hatte, den Landsitz zu verlassen, hatte er gegen diese mächtige Kraft angekämpft. Er musste sich von ihr lösen. Diese Anstrengung erschöpfte ihn tagsüber so sehr, dass er dem lange gehegten Wunsch, sie zu zeichnen, an den Abenden schließlich nachgegeben hatte. Die Seiten seines Skizzenbuchs waren mit Zeichnungen von ihr gefüllt – von ihrem langen gebogenen Hals, ihrem marmorweißen Schlüsselbein, der schwarzen Flut ihrer Haare.
Jetzt fühlte er sich nicht nur wie bei etwas Verbotenem ertappt, weil er sie gezeichnet hatte, nein, es war viel schlimmer. Ein Schauder durchfuhr ihn, als er begriff, dass ihre Entdeckung sie vernichten würde. Sie durfte nicht erfahren, welche Gefühle er für sie hegte. Er hätte vorsichtiger sein müssen. Es fing immer so an.
»Warme Milch mit einem Teelöffel Melasse«, murmelte er. »Das hilft beim Einschlafen.« Seine Stimme klang traurig.
»Woher wissen Sie das? Genau das hat meine Mutter mir immer -«
»Ich weiß«, sagte er ruhig. Ihre Verblüffung überraschte ihn nicht, aber er durfte ihr nicht erklären, woher er das wusste, oder ihr erzählen, wie oft er ihr in der Vergangenheit diesen Trank verabreicht hatte, wenn die Schatten kamen. Wie oft er sie so lange in den Armen gehalten hatte, bis sie eingeschlafen war.
Er spürte ihre Berührung, als würde sie ihm durch sein Hemd hindurch die Haut verbrennen. Ihre Hand lag sanft auf seiner Schulter, und sein Atem ging schwer. Sie hatten sich in diesem Leben noch nicht berührt, und wenn es das erste Mal geschah, musste er immer nach Luft ringen.
»Bitte antworten Sie mir«, flüsterte sie. »Haben Sie wirklich vor, uns zu verlassen?«
»Ja.«
»Dann nehmen Sie mich mit«, stieß sie mit einem Mal hervor. Er hörte, wie sie scharf die Luft einsog, nichts wünschte sie sich jetzt mehr, als die Bitte zurückzunehmen. An der Falte zwischen ihren Augen konnte er die Abfolge ihrer Gefühle ablesen: erst überrascht, dann verwirrt, dann verlegen wegen der Unbedachtheit ihrer Äußerung. Das war bei ihr immer so, und bereits viel zu viele Male hatte er den Fehler begangen, sie in diesem Augenblick zu trösten.
»Nein«, flüsterte er, während er sich erinnerte … sich viel zu gut erinnerte … »Ich werde morgen das Segelschiff besteigen, und wenn Sie wirklich Gefühle für mich hegen, dann sagen Sie jetzt bitte kein Wort mehr.«
»Wenn ich Gefühle für Sie hege«, sagte sie wie zu sich selbst. »Ich … ich liebe …«
»Sagen Sie es nicht.«
»Ich muss es sagen. Ich … ich liebe Sie, da bin ich mir gewiss, und wenn Sie jetzt abreisen -«
»Wenn ich jetzt abreise, rette ich Ihnen das Leben.« Er sprach langsam, versuchte jene Schicht von ihr zu erreichen, die sich vielleicht erinnerte. Irgendwo in ihr, tief in ihr vergraben, musste es doch so sein. »Es gibt Wichtigeres als die Liebe. Sie werden das jetzt vielleicht noch nicht verstehen, aber Sie müssen mir vertrauen.«
Ihre Augen bohrten sich in ihn. Sie trat ein paar Schritte zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Auch diesen Fehler machte er immer wieder – er redete mit ihr stets viel zu sehr von oben herab, wogegen sie sich dann wehrte. Sie war eine Kämpferin.
»Wollen Sie mir wirklich sagen, dass es Wichtigeres gibt, als das hier zu spüren?« Sie nahm seine Hände und legte sie auf ihr Herz.
Ach, da stand sie vor ihm und hatte keine Ahnung, was nun folgen würde. Wenn er doch nur einmal über sich hinauswachsen würde und in der Lage wäre, sie aufzuhalten! Wenn er sie jetzt nicht aufhielt, dann würde sie nie begreifen – und die Vergangenheit würde sich in einem fort wiederholen, wieder und wieder würden sie dieselbe Qual durchleben müssen.
Er spürte unter seinen Händen die vertraute Wärme ihrer Haut, warf den Kopf in den Nacken und stöhnte. Wenn es ihm doch nur gelänge, ihre körperliche Nähe auszublenden, sich nicht daran zu erinnern, wie sich ihre Lippen auf seinen Lippen anfühlten – und dass danach unweigerlich ein bitteres Ende folgen würde. Ihre Finger berührten sanft seine Finger. Unter ihrem weißen Morgenmantel hob und senkte sich ihre Brust, ihr Herz musste bis zum Zerspringen klopfen.
Sie hatte recht. Es gab nichts Wichtigeres. Nie hatte es etwas Wichtigeres gegeben. Er wollte gerade nachgeben und sie in die Arme nehmen, als er den merkwürdigen Blick in ihren Augen bemerkte. Als ob sie ein Gespenst gesehen hätte.
Und dann wich sie vor ihm zurück und fuhr sich mit der Hand über die Stirn.
»Mir ist so seltsam«, flüsterte sie.
Nein, nein – war es tatsächlich schon zu spät?
Ihre halbgeschlossenen Augen nahmen die Form an, die er ihnen auf seiner Zeichnung gegeben hatte. Sie näherte sich ihm wieder,...