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Der Fluch der schönen Insel - Roman

Virginia Doyle

 

Verlag Heyne, 2009

ISBN 9783894809713 , 368 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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6,99 EUR


 

Die Angélique war ein stolzer Dreimaster, der elegant die Wellen des Nordatlantik durchpflügte. Im Mai des Jahres 1886 befand er sich auf dem Weg von New York nach Nantes, zur Hälfte beladen mit Baumwolle und Kautschuk, zur anderen Hälfte mit Rückwanderern, die ihr Glück in der Neuen Welt verpasst hatten oder die das Heimweh nach dem alten Kontinent gepackt hatte. Sie kamen zum größten Teil aus Kanada, manche auch aus den Vereinigten Staaten, einige direkt aus New York. Die meisten hatten ihr Hab und Gut verkauft oder das wenige Geld zusammengekratzt, das ihnen noch geblieben war, und sich eingeschifft. Viel hatten sie nicht an Bord getragen, am schwersten wogen die enttäuschten Hoffnungen, die sie nach ihren erfolglosen Versuchen, sich in Amerika einzurichten, wieder mit nach Hause nahmen.
Es waren Familien darunter, Einzelpersonen, die keine neuen Freunde gefunden hatten und solche, denen die Angehörigen oder Freunde im Land der Hoffnung abhanden gekommen waren. Nun hockten sie auf dem Deck der schnittigen Angélique und hofften, dass die alte Heimat ihnen bald ihre tröstenden Arme entgegenstrecken würde.
Unter den einzeln reisenden männlichen Passagieren befanden sich auch manche, die man nicht auf den ersten Blick einordnen konnte. Einige wirkten verwegen und kraftvoll. Wieso waren sie auf dem Weg zurück? Zwei oder drei schienen immer gut gelaunt und zum Feiern aufgelegt, fanden aber nur selten weitere Teilnehmer für ihre feuchtfröhlichen Nächte am Kartentisch. Andere schienen ihr Schicksal und das der anderen Gescheiterten eher gleichgültig zu betrachten. Zwei oder drei waren den anderen Mitreisenden ein Rätsel, zum Beispiel jener hochgewachsene Franzose mit dem dunklen Teint, der sehr nachdenklich und abwesend wirkte, aber stets freundliche Antwort gab, wenn er angesprochen wurde. Er hielt auf Distanz zu den anderen, stand oftmals an der Reling und blickte über das leicht bewegte Meer. Wenn er jedoch darauf angesprochen wurde, half er gern, egal welches Problem es zu bewältigen galt.
Den Namen dieses Mannes kannte man inzwischen, »der Doktor« hatte ihn weitergesagt, ironisch lächelnd, mit anspielungsreichem Unterton, der Doktor, der gern leutselig über das Deck spazierte und mit jedem plauderte, aber gleichzeitig nur sehr wenig über sich selbst preisgab. Der Doktor hatte den wortkargen Mann kurzerhand angesprochen und herausgefunden, dass sie einiges gemeinsam hatten: Sie kamen beide aus Nizza, sie waren beide in der Welt herumgekommen und hatten nirgendwo Wurzeln gefasst, hatten keine Familie. Der Doktor fand, vor allem ihre Nachnamen passten zueinander:
»Sie heißen Pistoux, Monsieur, ist das Ihr Ernst?« »Aber ja, Doktor, wenn ich es doch sage.« »Pistoux, wie Soupe au pistou?«
»Wenn Sie sich erlauben wollen, diesen Scherz zu machen, bitte sehr.«
»Aber, aber, was heißt Scherz? Was denken Sie, wie ich heiße?«
»Da Sie sich mir nicht vorgestellt haben, möchte ich mir nicht anmaßen, darüber zu spekulieren, Herr Doktor.«
»Lesfeves, wenn Sie gestatten, und wenn das mal nicht die Bohnen sind, die in die Suppe gehören. Sie sind aus Nizza wie ich, Sie wissen, wovon ich spreche.«
Jacques Pistoux blickte Dr. Lesfeves, der noch ein Stück größer war als er und deutlich dünner, ernst an. »Doktor, ich bin eine Zeitlang in Deutschland gewesen. Wissen Sie, wie man dort einen Menschen nennt, der sehr hochgewachsen und mager ist?«
»Nein.«
»Bohnenstange.«
Damit war das Eis gebrochen. Doktor Lesfeves lachte herzlich und bekam einen Hustenanfall. Pistoux versuchte ihm zu helfen, indem er ihm auf die Schulter klopfte.
Lesfeves setzte sich keuchend auf eine Taurolle und bemühte sich, den Husten zu bezwingen. Pistoux bot an, ihm ein Glas Wasser zu holen. Der Arzt nahm dankend an.
Nachdem Pistoux ihm das Wasser gebracht hatte und der Anfall vorbei war, hob Lesfeves den Kopf und fragte: »Was sind Sie von Beruf, Monsieur Pistoux?«
Pistoux schüttelte den Kopf. »Wenn ich Ihnen das jetzt sage, bekommen Sie wieder einen Hustenanfall.«
Der Arzt schmunzelte. »Soll ich raten?«
Pistoux zuckte mit den Schultern.
»Es ist nicht schwer«, stieß Lesfeves mit hochrotem Kopf hervor, als ihn ein zweiter Heiterkeitsanfall packte.
»Schon gut«, sagte Pistoux beschwichtigend, »lassen Sie es.«
»Koch! Sie sind Koch!«, presste Lesfeves aus seiner gequälten Kehle heraus. Dann verbarg er sein Gesicht in den Händen, die er auf die Knie gelegt hatte, und gab sich zuckend seinem Heiterkeits- und Hustenanfall hin. Als es vorbei war, blickte er auf und fragte: »Es stimmt doch, oder?«
Pistoux nickte.
»Wollen Sie wissen, wie ich darauf gekommen bin?«
»Wenn Sie nicht wieder anfangen zu husten, bitte.«
»Man sieht es Ihnen nicht an, Monsieur. So wie Sie gekleidet sind, auch wenn Ihre Kleider ein wenig abgetragen sind ... Aber schauen Sie mich an, das ist auch nicht besser ... Also, dennoch wirken Sie wie jemand, der drinnen arbeitet. Sie könnten auch ein Schreiber sein, ein Kalkulator, na, vielleicht eher ein Wirtschafter, denn Sie wirken zu kräftig für eine reine Schreibtischtätigkeit. Gemerkt habe ich es allerdings in dem Moment, als Sie den beiden Mädchen da drüben ihre Äpfel geschält haben. Zuerst dachte ich nur, verwöhnte Gören, aber dann haben mich Ihre flinken Bewegungen mit dem Messer sehr beeindruckt.«
»Sie haben mich beobachtet.«
»Aber ja. Beim Essen kam mir dann die Gewissheit: Sie aßen und dachten nach. Nicht darüber, was im Eintopf drin war, das war ja allzu banal und deprimierend. Nein, Sie sinnierten darüber nach, was man aus den Zutaten hätte machen können, wenn man nicht so ein Stümper wie dieser Schiffskoch hier wäre.«
»Na ja, jeden Tag Stockfisch ...«
»Ich habe also Recht?«
»Ja, doch.«
Lesfeves grinste breit: »Verstehen Sie nun meine Heiterkeit, Monsieur Pistoux? Bohnen und Basilikum!« Wieder begann er zu lachen.
»Nun hören Sie doch endlich auf damit!«, fuhr Pistoux ihn an.
Der Arzt verstummte: »Ich bitte um Vergebung, Monsieur.«
Pistoux, der sich zu ihm herabgebeugt hatte, richtete sich auf und schaute übers Meer. Von Tag zu Tag war der Wind heftiger geworden. Jetzt sah man manchmal schon kleine Schaumkronen auf den Wellen. Das Schiff bewegte sich erstaunlich ruhig durch die See. Es war ganz offensichtlich von hervorragender Bauart und der Kapitän und seine Mannschaft verstanden ihr Handwerk.
Aber was weiß ich schon von der Seefahrt, dachte Pistoux? Und habe ich jetzt nicht ein ganz anderes Problem?