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Ein Traum von Musik - 46 Liebeserklärungen

Elke Heidenreich

 

Verlag Edition Elke Heidenreich, 2010

ISBN 9783641048709 , 384 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

"Heimweh nach sich selbst (S. 134-135)

Eines Maitages im Jahre 1953 erschien die Direktorin der Volksschule Wien 13 am Hietzinger Platz vor der Heimatkundestunde im Klassenzimmer der 2b und sagte: »Euer Mitschüler, Poldi Kuntner, ist heute Nacht gestorben.« »Woran stirbt ein Kind?«, fragte ich sehr erschrocken. »In Poldis Fall weiß man es noch nicht. Er ist einfach am Morgen tot in seinem Bett gelegen«, antwortete die Direktorin und schrieb mit Kreide in Blockbuchstaben die Worte: »Wir trauern um Poldi!« an die Tafel.

Alle Schüler waren verlegen. Auch unsere Lehrerin Frau Tauscher saß sprachlos hinter dem Katheder und rieb sich mit den Knöcheln ihrer Zeigefinger beide Augen. Ich wusste nicht, ob ich es wagen durfte, noch eine zweite Frage zu stellen. Dann erlaubte ich es mir doch: »Was, bitte schön, sollen wir jetzt tun?« »Am Ende der nächsten Stunde werdet ihr heimgehen«, sagte die Direktorin, und die Frau Lehrerin fügte mit belegter Stimme hinzu: »Wenn ihr zu Hause seid, versucht im Rundfunk gute Musik zu hören, oder vielleicht besitzen eure Eltern ein Grammofon und Schallplatten von Beethoven oder Bach. Schließt die Augen und lasst die Töne in euch eindringen wie Farbe ins Löschpapier. Mir ordnet das immer die Gedanken, vielleicht geht es euch auch so.

Es ist auf jeden Fall einen Versuch wert.« In Mutters Schlafzimmer gab es als luxuriöses Geschenk eines amerikanischen Onkels einen Fonografen mit im Deckel eingebautem Lautsprecher, der nicht durch Kurbeln, sondern mittels elektrischen Stroms erklang. Ich fand keine Schellackscheiben mit Kompositionen von Beethoven oder Bach, aber eine Potpourriaufnahme der Nussknacker-Suite, die durchaus Wirkung auf mich hatte. Als Mutter von einem Stadtspaziergang heimkehrte, fand sie mich nämlich schlafend auf ihrem mit einer flämischen Schäfertapisserie bedeckten Bett.

Sie rüttelte mich wach und fragte, wieso ich nicht im Unterricht sei. »Weil der Poldi tot ist und die Frau Lehrerin uns als Hausaufgabe Musikhören verschrieben hat.« Damals entstand in unserer Familie die Gewissheit, dass bestimmte Musiken auch als Medizin gegen alle Arten von Unglücksfällen wirken. Anfangs fanden wir Mozarts Jeunehomme-Klavierkonzert und Brahms’ Symphonien sowie die Vier letzten Lieder von Richard Strauss mit Gundula Janowitz und den Berliner Philharmonikern unter Karajan am wirksamsten, aber seit etwa fünfundzwanzig Jahren reagiere ich jedes Mal, wenn ich eine unangenehme oder problematische Nachricht erhalte, zunächst damit, so rasch wie irgend möglich ein Schubert-Impromptu zu hören; in jüngerer Zeit für gewöhnlich in der Interpretation durch Alfred Brendel.

Diese Klänge kühlen verlässlich meinen Schreck, meine Verzweiflung, die Wut oder die Enttäuschung ab und weisen Wege zurück ins Gleichgewicht. Ein Vorgang, der mir umso erstaunlicher erscheint, als Schubert-Impromptus ja selbst noch in den fröhlichsten Passagen dem Reich der Melancholie, also dem, was im Wienerischen »Heimweh nach sich selbst« genannt wird, zugehörig sind. Schuberts Kunst erzählt für den einfühlsamen Beobachter ja immer auch vom Spießrutenlauf, dem der Meister zwischen seinen unerfüllten Sehnsüchten ausgesetzt war, oder wie es der Dichter Peter Altenberg 1916 in seiner »Wiener Ballade« schonungslos ausdrückte:"