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Sternstunden der Menschheit. Vierzehn historische Miniaturen

Stefan Zweig

 

Verlag e-artnow, 2013

ISBN 9788087664643 , 300 Seiten

4. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz frei

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0,49 EUR


 

Georg Friedrich Händels Auferstehung


21. August 1741




Der Diener Georg Friedrich Händels saß am Nachmittag des 13. April 1737, auf das sonderbarste beschäftigt, vor dem Parterrefenster des Hauses in Brookstreet. Er hatte ärgerlich bemerkt, daß sein Tabakvorrat ausgegangen war, und eigentlich hätte er nur zwei Straßen weit zu laufen gehabt, um sich in der Bude seiner Freundin Dolly frischen Knaster zu besorgen, aber er wagte sich nicht vom Hause aus Furcht vor seinem jähzornigen Herrn und Meister. Georg Friedrich Händel war in vollsaftiger Wut aus der Probe nach Hause gekommen, prallrot das Gesicht von aufwallendem Blut und dick die Adersträhnen an den Schläfen, mit einem Knall hatte er die Haustür zugeworfen und wanderte jetzt, der Diener konnte es hören, so heftig im ersten Stock auf und ab, daß die Decke bebte: es war nicht ratsam, an solchen Zorntagen lässig im Dienste zu sein.

So suchte der Diener ablenkende Beschäftigung für seine Langeweile, indem er statt schöngekringelten blauen Rauches aus seiner kurzen Tonpfeife Seifenblasen aufsteigen ließ. Er hatte sich einen kleinen Napf mit Seifenschaum zurechtgemacht und vergnügte sich, aus dem Fenster die bunten farbigen Blasen auf die Straße zu jagen. Die Vorübergehenden blieben stehen, zerstäubten im Spaß mit dem Stock eine und die andere der farbigen Kugeln, sie lachten und winkten, aber sie wunderten sich nicht. Denn von diesem Hause in Brookstreet konnte man alles erwarten; hier dröhnte plötzlich nachts das Cembalo, hier hörte man Sängerinnen heulen und schluchzen, wenn sie der cholerische Deutsche in seinem Berserkerzorn bedrohte, weil sie um einen Achtelton zu hoch oder zu tief gesungen. Für die Nachbarn von Grosvenorsquare galt Brookstreet 25 seit langem als Narrenhaus.

Der Diener blies still und beharrlich seine bunten Blasen. Nach einiger Zeit hatte sich seine Geschicklichkeit schon sichtbar gemehrt, immer größer und dünnhäutiger wurden die marmorierten Kugeln, immer höher und leichter schwebten sie empor, und eine sogar über den niederen First des gegenüberliegenden Hauses. Da, plötzlich schrak er auf, denn das ganze Haus erbebte von einem dumpfen Schlag. Die Gläser klirrten, die Gardinen schwankten; etwas Massiges und Schweres mußte im obern Stockwerk hingeschmettert haben. Und schon sprang der Diener auf und in einem Rand die Stufen empor zu dem Arbeitszimmer.

Der Sessel war leer, auf dem der Meister bei der Arbeit saß, das Zimmer war leer, und schon wollte der Diener weitereilen in den Schlafraum, da entdeckte er Händel, regungslos auf dem Boden liegend, die Augen starr offen, und jetzt, als der Diener im ersten Schreck stillestand, hörte er ein dumpfes, schweres Röcheln. Der starke Mann lag auf dem Rücken und stöhnte, oder vielmehr: es stöhnte aus ihm mit kurzen, immer schwächeren Stößen.

Er stirbt, dachte der erschrockene Diener und kniete rasch hin, dem Halbohnmächtigen zu helfen. Er versuchte ihn aufzuheben, ihn hinzutragen bis zu dem Sofa, aber der Leib des riesigen Mannes war zu lastend, zu schwer. So riß er ihm nur das engende Halstuch ab, und sofort verstummte das Röcheln.

Aber da kam schon vom unteren Stockwerk Christof Schmidt, der Famulus, der Helfer des Meisters, der eben sich eingefunden hatte, um einige Arien auszukopieren; auch ihn hatte der dumpfe Fall aufgeschreckt. Zu zweit hoben sie jetzt den schweren Mann auf – die Arme fielen schlaff herab wie die eines Toten – und betteten ihn hin, das Haupt erhoben. »Kleide ihn aus«, herrschte Schmidt den Diener an, »ich laufe nach dem Arzt. Und spreng ihn an mit Wasser, bis er erwacht.«

Christof Schmidt lief ohne Rock, er ließ sich keine Zeit, durch Brookstreet gegen Bondstreet, allen Kutschen winkend, die gravitätischen Trotts vorübertrabten, ohne dem hemdärmeligen, keuchenden, dicken Mann die geringste Beachtung zu schenken. Endlich hielt eine an, der Kutscher des Lord Chandos hatte Schmidt erkannt, der alle Etikette vergaß und den Wagenschlag aufriß. »Händel stirbt!« rief er dem Herzog zu, den er als großen Musikfreund und den besten Gönner seines geliebten Meisters kannte. »Ich muß zu einem Arzt.« Sofort lud ihn der Herzog in den Wagen, die Pferde schmeckten scharf die Peitsche, und so holten sie Doktor Jenkins aus einer Stube in Fleetstreet, wo er eben mit einer Harnprobe dringlich beschäftigt war. In seinem leichten Hansomcab fuhr er sogleich mit Schmidt in die Brookstreet. »Der viele Ärger hat es verschuldet«, klagte der Famulus verzweifelt, während der Wagen rollte, »sie haben ihn zu Tode gequält, diese verfluchten Sänger und Kastraten, die Schmierer und Kritikaster, das ganze eklige Gewürm. Vier Opern hat er geschrieben in diesem Jahr, um das Theater zu retten, aber die anderen stecken sich hinter die Weiber und den Hof, und vor allem macht der Italiener sie alle toll, dieser verfluchte Kastrat, dieser zuckige Brüllaffe. Au, was haben sie unserem guten Händel angetan! Seine ganzen Ersparnisse hat er eingesetzt, zehntausend Pfund, und nun quälen sie ihn mit Schuldscheinen und hetzen ihn zu Tode. Nie hat ein Mann so Herrliches geleistet, nie so ganz sich hingegeben, aber das muß auch einen Riesen zerbrechen. Oh, welch ein Mann! Welch ein Genius!« Doktor Jenkins, kühl und schweigsam, hörte zu. Ehe sie das Haus betraten, tat er noch einen Zug und klopfte die Asche aus der Pfeife. »Wie alt ist er?«

»Zweiundfünfzig Jahre«, antwortete Schmidt.

»Schlimmes Alter. Er hat geschuftet wie ein Stier. Aber er ist auch stark wie ein Stier. Nun, man wird sehen, was man tun kann.«

Der Diener hielt die Schüssel hin, Christof Schmidt hob Händel den Arm, jetzt schlug der Arzt die Ader an. Ein Blutstoß spritzte auf, hellrotes, heißes Blut, und im nächsten Augenblick stieß sich ein Seufzer der Erleichterung aus der verbissenen Lippe. Händel atmete tief und öffnete die Augen. Sie waren noch müd, fremd und unbewußt. Der Glanz in ihnen war erloschen.

Der Arzt verband den Arm. Es war nicht mehr viel zu tun. Schon wollte er aufstehen, da merkte er, daß Händels Lippen sich regten. Er näherte sich. Ganz leise, es war wie ein Atem bloß, röchelte Händel: »Vorbei …, vorbei mit mir …, keine Kraft …, ich will nicht leben ohne Kraft …« Dr. Jenkins beugte sich tiefer über ihn. Er merkte, daß ein Auge, das rechte, starr sah und das andere belebt. Versuchsweise hob er den rechten Arm. Er fiel wie tot zurück. Dann hob er den linken. Der linke blieb in der neuen Lage. Jetzt wußte Dr. Jenkins genug.

Als er das Zimmer verlassen hatte, folgte Schmidt ihm zur Treppe nach, ängstlich, verstört. »Was ist es?«

»Apoplexia. Die rechte Seite ist gelähmt.«

»Und wird« – Schmidt stockte das Wort – »wird er genesen?«

Dr. Jenkins nahm umständlich eine Prise Schnupftabak. Er liebte derlei Fragen nicht.

»Vielleicht. Alles ist möglich.«

»Und wird er gelähmt bleiben?«

»Wahrscheinlich, wenn kein Wunder geschieht.«

Aber Schmidt, dem Meister verschworen mit jeder Ader seines Leibes, ließ nicht ab.

»Und wird er, wird er wenigstens wieder arbeiten können? Er kann nicht leben, ohne zu schaffen.«

Dr. Jenkins stand schon an der Treppe.

»Das nie mehr«, sagte er sehr leise. »Vielleicht können wir den Mann erhalten. Den Musikus haben wir verloren. Der Schlag ging bis ins Hirn.«

Schmidt starrte ihn an. Eine so ungeheure Verzweiflung war in seinem Blick, daß der Arzt sich betroffen fühlte. »Wie gesagt«, wiederholte er, »wenn kein Wunder geschieht. Ich habe freilich noch keines gesehen.«

Vier Monate lebt Georg Friedrich Händel ohne Kraft, und die Kraft war sein Leben. Die rechte Hälfte seines Leibes blieb tot. Er konnte nicht gehen, er konnte nicht schreiben, nicht mit seiner Rechten eine einzige Taste zum Klingen bringen. Er konnte nicht sprechen, schief hing ihm die Lippe von dem furchtbaren Riß, der durch seinen Leib gegangen, nur lallend und verdumpft quoll ihm das Wort aus dem Munde. Wenn Freunde Musik für ihn machten, floß ein wenig Licht in sein Auge, dann regte sich der schwere ungebärdige Körper wie ein Kranker im Traum, er wollte mit in den Rhythmus, aber es war ein Frost in den Gliedern, eine grausige Starre, die Sehnen, die Muskeln gehorchten ihm nicht mehr; der einst riesige Mann fühlte sich hilflos eingemauert in ein unsichtbares Grab. Sobald die Musik zu Ende war, fielen ihm die Lider schwer zu, und er lag wieder wie eine Leiche. Schließlich riet der Arzt aus Verlegenheit – der Meister war offensichtlich unheilbar –, man solle den Kranken in die heißen Bäder von Aachen senden, vielleicht brächten sie ein wenig Besserung.

Aber unter der starren Hülle, ähnlich jenen geheimnisvollen heißen Gewässern unterhalb der Erde, lebte eine unerfaßliche Kraft: der Wille Händels, die Urkraft seines Wesens, sie war nicht berührt worden von dem vernichtenden Schlage, sie wollte das Unsterbliche noch nicht untergehen lassen in dem sterblichen Leib. Noch hatte der riesige Mann sich nicht besiegt gegeben, noch wollte er, noch wollte er leben, wollte er schaffen, und dieser Wille schuf das Wunder gegen das Gesetz der Natur. In Aachen warnten die Ärzte ihn dringend, länger als drei Stunden in dem heißen Wasser zu bleiben, sein Herz würde es nicht überdauern, es könnte ihn töten. Aber der Wille wagte den Tod um des Lebens und um seiner wildesten Lust willen: des Gesundens. Neun Stunden blieb Händel täglich zum Schrecken...