dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Sein wahres Gesicht - Ein Jack-Reacher-Roman

Lee Child

 

Verlag Blanvalet, 2013

ISBN 9783641092573 , 512 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

9,99 EUR


 

1


Jack Reacher sah den Kerl durch die Tür hereinkommen. Tatsächlich gab es dort gar keine Tür. Der Kerl trat einfach durch den Teil der Fassade, der nicht da war. Von der Bar aus gelangte man direkt auf den Gehsteig. Dort draußen standen Tische und Stühle unter einem vertrockneten Rankengewächs, das eine Art nominellen Schatten lieferte. Das Ganze war ein Innenaußenraum, durch den eine nicht existierende Wand verlief. Reacher vermutete, dass es ein Scherengitter oder dergleichen geben musste, mit dem die Öffnung verschlossen werden konnte, wenn die Bar zumachte. Falls sie jemals schloss. Reacher hatte sie jedenfalls nie geschlossen erlebt, obwohl er sie zu ziemlich extremen Zeiten aufsuchte.

Der Kerl stand ungefähr einen Meter weit im Inneren des dunklen Raums und wartete blinzelnd darauf, dass seine Augen sich nach dem blendenden Licht der Sonne von Key West ans Dunkel gewöhnten. Es war Juni, Punkt vier Uhr nachmittags im südlichsten Winkel der Vereinigten Staaten. Weit südlicher als der größte Teil der Bahamas. Eine grellweiße Sonne und sengende Hitze. Reacher saß an seinem Tisch im Hintergrund, trank mit kleinen Schlucken Mineralwasser aus einer Plastikflasche und wartete.

Der Kerl sah sich um. Die Bar war ein niedriger Raum aus verwitterten dunkelbraunen Holzbohlen. Sie sahen aus, als stammten sie von alten, abgewrackten Segelschiffen. An den Wänden hing allerlei nautischer Trödel. Es gab alte Sachen aus Messing und grüne Glaskugeln. Große Stücke alter Netze. Fischnetze, vermutete Reacher, obwohl er in seinem ganzen Leben noch nie einen Fisch gefangen hatte. Oder auf einem Boot gesegelt war. Überlagert wurde alles von zehntausend Visitenkarten, die, mit Reißzwecken befestigt, jeden freien Quadratzentimeter der Wände und sogar des Plafonds bedeckten. Manche von ihnen waren neu, manche waren alt und wellig – Erinnerungen an Unternehmen, die schon vor Jahrzehnten Pleite gemacht hatten.

Der Kerl trat weiter ins Dunkel hinein und hielt auf die Theke zu. Er war alt. Ungefähr sechzig, mittelgroß, stämmig. Ein Arzt hätte ihn übergewichtig genannt, aber Reacher sah nur einen fitten Mann, der den Zenit seiner Leistungsfähigkeit überschritten und schon eine gewisse Strecke hügelabwärts zurückgelegt hatte. Ein Mann, der den Lauf der Zeit würdevoll hinnahm, ohne großes Theater darum zu machen. Gekleidet war er wie ein Großstädter aus dem Norden, der überraschend in eine heiße Gegend reisen musste. Hellgraue Hose, oben weit, unten eng, zerknittertes beiges Sakko, weißes Oberhemd mit weit offenem Kragen, der an seiner Kehle bläulich weiße Haut sehen ließ, schwarze Socken, Stadtschuhe. New York oder Chicago, vermutete Reacher, vielleicht auch Boston, verbrachte seine Sommer überwiegend in klimatisierten Gebäuden oder Autos. Hatte diese Hose und dieses Sakko irgendwo hinten in seinem Kleiderschrank vergraben, seit er sie vor zwanzig Jahren gekauft hatte, holte sie gelegentlich hervor und verwendete sie zweckdienlich.

Der Kerl erreichte die Theke, griff in seine Jacke und zog eine Geldbörse heraus. Sie war ein prall gefülltes altes Stück aus feinem schwarzen Leder. Reacher sah, wie der Mann sie mit geübter Bewegung aufklappte und dem Barmann zeigte, wobei er eine halblaute Frage stellte. Der Angesprochene sah weg, als sei er beleidigt worden. Der Kerl steckte seine Geldbörse wieder ein und strich sein schütteres graues Haar auf seiner von Schweiß glänzenden Kopfhaut glatt. Er murmelte noch etwas, und der Barmann holte aus dem Kühlschrank unter der Theke ein Bier hervor. Der Alte hielt sich die kalte Flasche einen Augenblick ans Gesicht, dann nahm er einen langen Zug. Rülpste diskret hinter vorgehaltener Hand und lächelte.

Reacher tat es ihm gleich, indem er einen großen Schluck Wasser trank. Der fitteste Kerl, den er je gekannt hatte, war ein belgischer Soldat, der schwor, der Schlüssel zu Fitness liege darin, alles zu tun, was, zum Teufel, einem Spaß mache, solange man täglich fünf Liter Mineralwasser trinke. Reacher hatte überschlagen, dass fünf Liter ungefähr eineinviertel Gallonen waren, und da der Belgier ein kleiner, drahtiger Kerl war, nur halb so groß wie er selbst, würde er wohl zwei Gallonen am Tag trinken müssen. Zehn große Flaschen Mineralwasser. Seit seiner Ankunft in der Hitze der Keys hatte er mit dieser Trinkkur begonnen. Für ihn bewährte sie sich ausgezeichnet. Er hatte sich nie besser gefühlt. Jeden Nachmittag saß er um vier Uhr an diesem dunklen Tisch und trank drei Flaschen ungekühltes, stilles Mineralwasser. Jetzt war er so süchtig nach dem Wasser, wie er zuvor nach Kaffee gewesen war.

Der alte Kerl lehnte seitlich an der Theke, war mit seinem Bier beschäftigt. Suchte den Raum ab. Außer dem Barmann war hier nur Reacher anwesend. Der alte Kerl stieß sich mit der Hüfte von der Theke ab und kam herüber. Schwenkte sein Bier mit einer vagen Geste, die zu fragen schien: Darf ich? Reacher nickte zu dem Stuhl auf der anderen Tischseite hinüber und löste das Kunststoffsiegel seiner dritten Flasche. Der Kerl ließ sich schwer auf den Stuhl fallen, überwältigte ihn geradezu. Er gehörte zu den Leuten, die Schlüssel, Kleingeld und Taschentücher in den Hosentaschen herumschleppen, was ihre natürliche Hüftweite übermäßig betonte.

»Sind Sie Jack Reacher?«, fragte er über den Tisch hinweg.

Nicht Chicago oder Boston. Eindeutig New York. Er sprach genau wie ein New Yorker, den Reacher einmal gekannt und der sich in den ersten zwanzig Jahren seines Lebens nie weiter als hundert Meter von der Fulton Street entfernt hatte.

»Jack Reacher?«, fragte der Alte nochmals.

Aus der Nähe betrachtet hatte er kleine schlaue Augen unter wulstigen Brauen. Reacher trank und beobachtete ihn durch das klare Wasser in seiner Flasche.

»Sind Sie Jack Reacher?«, fragte der alte Kerl zum dritten Mal.

Reacher stellte seine Flasche auf den Tisch und schüttelte den Kopf.

»Nein«, log er.

Die Schultern des alten Kerls sackten vor Enttäuschung etwas herab. Er zog seine Manschetten heraus, sah dabei auf die Armbanduhr. Bewegte seine massige Gestalt ein kleines Stück auf dem Stuhl nach vorn, als wolle er aufstehen, lehnte sich dann aber wieder zurück, als habe er mit einem Mal reichlich Zeit.

»Fünf nach vier«, sagte er.

Reacher nickte. Der Kerl hob seine leere Bierflasche und zeigte sie dem Barmann, der mit einem neuen Bier hinter der Theke hervorkam.

»Die Hitze«, sagte er, »macht mich fertig.«

Reacher nickte erneut und trank einen Schluck Wasser.

»Kennen Sie hier irgendwo einen Jack Reacher?«, fragte der Kerl.

Reacher zuckte mit den Schultern.

»Haben Sie eine Personenbeschreibung?«, fragte er seinerseits.

Der Kerl war dabei, einen langen Zug aus der zweiten Flasche zu nehmen. Er wischte sich seine Lippen mit dem Handrücken ab und benutzte diese Bewegung, um einen zweiten diskreten Rülpser zu tarnen.

»Nicht wirklich«, sagte er. »Großer Kerl, mehr weiß ich nicht. Darum hab ich Sie gefragt.«

Reacher nickte.

»Große Kerle gibt’s hier viele«, sagte er. »Große Kerle gibt’s überall viele.«

»Aber Sie kennen den Namen nicht?«

»Sollte ich?«, fragte Reacher. »Und wer will das wissen?«

Der Kerl grinste, dann nickte er, als wolle er sich für seinen Lapsus entschuldigen.

»Costello«, sagte er. »Freut mich, Sie kennen zu lernen.«

Reacher erwiderte sein Nicken und hob als Antwort seine Flasche einen Fingerbreit hoch.

»Sie jagen Unterhaltspflichtige?«

»Privatdetektiv«, sagte Costello.

»Auf der Suche nach einem Kerl namens Reacher?«, fragte Reacher. »Was hat er getan?«

Costello zuckte mit den Schultern. »Nichts, soviel ich weiß. Ich hab bloß den Auftrag, ihn zu finden.«

»Und Sie vermuten, dass er hier unten ist?«

»Letzte Woche war er hier«, sagte Costello. »Er hat ein Bankkonto in Virginia, auf das er telegrafisch Geld überwiesen hat.«

»Von hier unten in Key West?«

Costello nickte.

»Jede Woche«, sagte er. »Seit drei Monaten.«

»Und?«

»Also arbeitet er hier unten«, sagte Costello. »Seit immerhin einem Vierteljahr. Also müsste ihn eigentlich jemand kennen.«

»Aber das tut niemand«, meinte Reacher.

Costello schüttelte den Kopf. »Ich hab die ganze Duval Street, wo in dieser Stadt die Action zu sein scheint, rauf und runter abgeklappert. Die einzig brauchbare Auskunft hab ich in einer Oben-ohne-Bar irgendwo im ersten Stock gekriegt – eines der Mädchen hat gesagt, dass ein großer Kerl, der seit genau drei Monaten hier ist, jeden Nachmittag um vier in dieser Bar sitzt und Wasser trinkt.«

Er verfiel in Schweigen und starrte Reacher dabei durchdringend an, als wolle er ihn herausfordern. Reacher trank Wasser, zuckte als Antwort mit den Schultern.

»Zufall«, sagte er.

Costello nickte.

»Klar doch«, erwiderte er ruhig.

Er setzte die Bierflasche an den Mund, trank und ließ dabei seine schlauen alten Augen unverwandt auf Reachers Gesicht gerichtet.

»Viele sind nur auf der Durchreise hier«, erklärte Reacher. »Leute weht es herein und wieder hinaus.«

»Klar doch«, sagte Costello erneut.

»Aber ich halte meine Augen offen«, sagte Reacher.

Costello nickte.

»Das wäre nett von Ihnen«, sagte er mehrdeutig.

»Wer will ihn finden?«, fragte Reacher.

»Meine Auftraggeberin«, antwortete Costello. »Eine Dame namens Mrs. Jacob.«

Reacher trank einen Schluck Wasser. Der Name sagte ihm nichts. Jacob? Nie gehört.

»Okay, falls ich ihn sehe, richte ich’s ihm aus, aber erwarten Sie sich nicht zu viel davon. Ich komme wenig unter...