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Deine Spuren im Sand - Ein Sylt-Roman

Gisa Pauly

 

Verlag Aufbau Verlag, 2013

ISBN 9783841200907 , 160 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz frei

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8,99 EUR


 

1.


Der Tag, an dem ich mich zur Flucht entschloss, war ein Samstag. Kein guter Tag! Samstags war Bettenwechsel auf Sylt, dann war vor der Verladerampe in Niebüll der Teufel los. Lange Autoschlangen, Schlangen vor der Toilette, Schlangen vor der Theke des Bistros, auch in der Vorsaison. Doch zum Glück traf der Strom der Sylt-Touristen erst am Nachmittag oder Abend in Niebüll ein, während ich schon am Vormittag hier angekommen war. Nur diejenigen waren mit mir gekommen, für die Sylt ein Naherholungsgebiet war, alle anderen waren noch unterwegs. Und das war gut so! Größere Menschenansammlungen durfte ich nicht riskieren. Denn trotz aller Vorsichtsmaßnahmen, die ich getroffen hatte, konnte ich mich auch hier, am Ende der Republik, nicht in Sicherheit wiegen. Wenn jemand merkte, dass ich den Hindenburgdamm zur Flucht nutzen wollte, dann war ich geliefert. Bevor nicht mein Wagen auf den Autozug gerollt war, durfte ich nicht aufatmen. Wachsam musste ich sein – äußerst wachsam! – und unbedingt dafür sorgen, dass niemand auf mich aufmerksam wurde.

Zugegeben, unauffälliges Verhalten gehörte nicht zu meinen Stärken. Schon gar nicht dann, wenn ich einem Automaten gegenüberstand, der in Automatensprache mit mir kommunizierte. Mit Anweisungen im Display, für die ich erst die Lesebrille aus der Tasche kramen musste, und einer Automatenstimme, die augenblicklich Widerspruch in mir erzeugte. Und das, obwohl sie nach der dritten Wiederholung noch immer keine Anzeichen von Ungeduld erkennen ließ, sondern mit der gleichen unverbindlichen Freundlichkeit wie beim ersten Mal leierte: »Führen Sie Ihre EC-Karte ein!«

»Genau das tue ich doch!« Da war es schon vorbei mit dem unauffälligen Verhalten, das mir in solchen und ähnlichen Situationen leicht außer Kontrolle geriet. »Warum spuckst du das Ding immer wieder aus?«

Auf meine Frage hatte die Automatenstimme keine Antwort. Meine EC-Karte wurde mit dem wenig hilfreichen Ratschlag ausgespuckt, ich möge es noch einmal versuchen.

»Das kann doch nicht wahr sein, dass ich nicht auf die Insel komme, nur weil ich nicht genug Bargeld dabei habe!«

Als hätte jemand meinen Hilfeschrei gehört, als gäbe es jemanden, der sich meiner annehmen wollte, fing auf dem Beifahrersitz ein Hahn an zu krähen. Noch immer fand ich den Klingelton, den ich mir für mein Handy ausgesucht hatte, ziemlich witzig, aber lachen konnte ich in diesem Augenblick trotzdem nicht. Ein krähendes Handy war angesichts meiner Unfähigkeit, mir von einem simplen Automaten die Einfahrt zur Verladerampe zu erkaufen, eher lästig.

Im Display flackerte der Name »Babette« auf. »Schon wieder!«

In den letzten Stunden hatte sie knapp hundertmal versucht, mich zu erreichen. Jetzt war ich allerdings geneigt, ihr endlich eine Chance zu geben. Vorausgesetzt, sie half mir per Ferndiagnose dabei, aus diesem blöden Automaten eine Fahrkarte für den Autozug nach Sylt herauszukitzeln, damit die Schranke, die meine Flucht zu vereiteln drohte, endlich hochging.

»Wo bist du?«, hörte ich Babettes Stimme, als ich den grünen Knopf betätigt hatte. »Sag mir sofort, wo du bist!«

»Sag du mir lieber, wie ich eine EC-Karte in einen Schlitz schiebe, ohne dass sie postwendend wieder vor meine Füße gespuckt wird.«

»Du stehst vor einem Geldautomaten?« Babette schwieg einen Augenblick, was bei ihr nur dann vorkam, wenn sie außerordentlich verblüfft war. Dann schrie sie los: »Hast du den Verstand verloren? Du hast schon tausendmal Geld aus dem Automaten gezogen. Was soll also diese blöde Frage?«

»Ich stehe vor keinem Geldautomaten«, sagte ich langsam und betont.

Zu weiteren Erklärungen kam ich nicht, denn plötzlich entstand Bewegung in meinem Rückspiegel. Ein Wagen hatte sich hinter mir aufgestellt, statt die zweite oder dritte Spur zu benutzen, wie es alle anderen Fahrer getan hatten, die nach mir gekommen waren und jetzt schon vor einem Kaffee im Bistro saßen.

Entsetzt starrte ich in den Rückspiegel, in dem sich eine Wagentür öffnete, und dann in den Außenspiegel, in dem eine männliche Gestalt heranwuchs.

»Da kommt jemand«, flüsterte ich.

»Dann hau ab!«, schrie Babette.

»Das geht nicht. Ich kann nicht.«

»Mach jetzt keinen Fehler!«, hörte ich Babette noch brüllen, ehe ich den roten Knopf drückte.

Im nächsten Augenblick klopfte jemand an die Scheibe der Fahrertür. Ein Mann beugte sich zu mir herab, ich sah in ein lächelndes Gesicht, dessen untere Hälfte von einem blonden struppigen Bart verdeckt wurde, und in helle, freundliche Augen. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Meine EC-Karte«, sagte ich und versuchte ihn nicht anzusehen. »Der blöde Apparat nimmt sie nicht an.«

Sein Lächeln verschwand, er sah mich überrascht und sogar ein wenig besorgt an. Wie ein Oberlehrer hob er den Zeigefinger und wies auf das Wort, das über dem Schlitz prangte: Fahrkarte! »Da gehört die Fahrkarte rein, falls man schon eine hat.« Er zeigte auf einen weiteren Schlitz. »Hier gehört die EC-Karte rein!«

War ich von allen guten Geistern verlassen? Wieso hatte ich das nicht gesehen? War ich schon komplett mit den Nerven runter und mit meiner Flucht total überfordert?

Vorsichtshalber schob ich die Sonnenbrille vom Kopf auf die Nase zurück, ehe ich den Versuch machte, durchs geöffnete Seitenfenster den Schlitz zu erreichen, in den meine EC-Karte gehörte.

»Ich würde Ihnen ja gern helfen.« Der Typ grinste. »Aber ich kann nur für Sie die Karte in den Schlitz schieben. Ihre Geheimzahl müssen Sie schon selbst eingeben.«

Klugscheißer! schimpfte ich lautlos. Dabei hätte ich dem blonden Bartträger eigentlich hoch anrechnen müssen, dass er sich nicht wieder in sein Auto schwang und mich mit meinem Problem, das gar keins mehr war, allein ließ. Aber konnte ich wirklich wissen, was er im Schilde führte? Vielleicht war er einer von denen, die hinter mir her waren! Dann spielte er hier den Hilfsbereiten, um mich in Sicherheit zu wiegen, und war in Wirklichkeit nur darauf aus, mich bei nächster Gelegenheit in die Finger zu kriegen! Dann, wenn wir irgendwo allein waren. Nein, ich musste auf der Hut sein!

Unauffällig kontrollierte ich den Sitz meiner Perücke und stieg aus. Er drehte mir diskret den Rücken zu, während ich meine Geheimzahl eintippte. Wieder fragte ich mich, warum er nicht in sein Auto stieg. Traute er mir etwa auch den Rest nicht zu? Gang einlegen, die geöffnete Schranke passieren und auf der richtigen Spur zum Stehen kommen? Frechheit!

Ich wartete darauf, dass der Automat mein Ticket für den Autozug druckte und mir meine EC-Karte zurückgab mit dem Hinweis »Zahlung erfolgt!«. Das ging sehr zügig vonstatten, aber trotzdem reichte die Zeit aus, in mir die Zuversicht zu wecken, dass dieser gutaussehende Mann nicht zu denen gehören konnte, die mir auf den Fersen waren, sondern eher zu denen, für die Frauen noch immer das schwache Geschlecht verkörperten. Aber den einen brauchte ich so wenig wie den anderen. Und so fiel meine Dankbarkeit entsprechend knapp aus. Als wenn ich die Tastatur zur Eingabe meiner Geheimzahl nicht selber gefunden hätte! Irgendwann …

Trotzdem verstand er meine mehr als flüchtigen Dankesworte falsch und erklärte strahlend, er sei völlig zufrieden, wenn ich bereit sei, ihm zum Dank beim Kaffee Gesellschaft zu leisten.

Ich war über diesen Wunsch derart verwundert, dass ich, ohne ihn einer Antwort zu würdigen, ins Auto stieg und bis zu dem Punkt vorrollte, wo ein Bediensteter der Sylter Verkehrs-GmbH mir mit einem gut gefüllten Stoffbeutel entgegenwinkte. Er trug den Aufdruck »Unser Norden« und war voller Werbematerial. Mehrere Kostproben einer Teesorte, ein Gutschein über einen Euro, der in einer Drogerie einzulösen war, sofern ich mich zum Kauf eines bestimmten Haarshampoos entschloss, ein weiterer Gutschein über ein Glas Prosecco, für den Fall, dass ich geneigt war, in einer Westerländer Pizzeria mein Abendessen einzunehmen. Und als besonderer Clou eine Duschhaube, die mir von einem Apotheker wärmstens ans Herz gelegt wurde.

Hatte es so etwas vor zwanzig Jahren auch schon gegeben? Ich konnte mich nicht erinnern. Aber das lag vielleicht daran, dass ich vor zwanzig Jahren keine Touristin gewesen war, sondern zu den Einwohnern von Sylt gezählt hatte, denen niemand einen Beutel mit Werbematerial zugesteckt hätte. So viele Jahre! Ein Automat musste damals auch nicht bezwungen werden, ehe der Eintritt ins Paradies gewährt wurde!

Ich schloss auf meinen Vordermann auf und landete damit direkt vor der Tür der Damentoilette. Eigentlich wäre ich gern im Auto sitzen geblieben, hätte mich so tief wie möglich in meinen Sitz gedrückt und mich hinter meiner riesigen Sonnenbrille und einer dichten Haarsträhne meiner Perücke versteckt. Aber da ich an diesem Tag außer Wasser noch nichts zu mir genommen hatte, musste ich erstens dringend die Örtlichkeit aufsuchen, vor der ich zum Stehen gekommen war, und zweitens unbedingt dafür sorgen, dass ich etwas in den Magen bekam. Ein starker Kaffee konnte auch nicht schaden, wenn ich ihn auch in einer Gesellschaft zu mir nehmen würde, die mir nicht recht war. Aber besser, ich machte ein paar Minuten dezente Konversation, als mich durch auffallendes Ablehnen derselben für immer in das Gedächtnis eines Mannes einzubrennen, der sich dadurch später an mich erinnern würde. Und vielleicht war es ja auch gut, meine Verkleidung zu testen, bevor ich einen Fuß auf die Insel setzte?

Eine Toilettenfrau, die womöglich mit dem Gedanken spielte, später mal ihre Memoiren zu schreiben, gab es zum Glück nicht, und die junge...