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Dünenmord - Ein Rügen-Krimi

Katharina Peters

 

Verlag Aufbau Verlag, 2013

ISBN 9783841205766 , 256 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz frei

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8,99 EUR


 

1


Die Schneewolken hingen bedrohlich tief, und der Wind war ein einziges frostiges Versprechen. Kommissarin Ramona Beccare, genannt Romy, war heilfroh, ihren geliebten Motorroller gegen den kleinen, robusten Jeep eingetauscht zu haben, als sie vor einigen Tagen aus dem verlängerten Weihnachtsurlaub aus München zurückgekehrt war. Manche Rüganer behaupteten, es würde wieder einen von diesen späten, aber heftigen Wintern geben, die die Insel alle paar Jahre heimsuchten, um sie dann mit wochenlangen Schneefällen und arktischen Temperaturen in Schach zu halten, bei denen sich Eisschollen und Schneeberge zu futuristisch anmutenden Gebilden am Strand auftürmten. Andere winkten mit der landestypischen Gelassenheit ab. Alles halb so wild. Viel schlimmer war, dass man das kleine Mädchen nicht gefunden hatte, das Weihnachten bei einem Abbruch der Steilküste am Kap Arkona verschüttet worden war, und die Suche nach zwei Wochen eingestellt werden musste.

Romy war nach Kasper Schneiders Anruf am frühen Morgen mit gemischten Gefühlen von ihrer Wohnung in Binz nach Göhren aufgebrochen, und das lag nicht nur daran, dass am Südstrand eine Leiche gefunden worden war. Die Halbinsel Mönchgut, der Südosten von Rügen mit seiner ursprünglichen Schönheit, den sanften Wiesenhügeln und seinem ganz eigenen Charakter lag ihr besonders am Herzen. In der gotischen Backsteinkirche von Groß Zicker hatten Moritz und sie heiraten wollen. Romy konnte sich schmerzhaft intensiv daran erinnern, wie Moritz sie lachend darauf hingewiesen hatte, dass es sich um eine evangelische Kirche handelte und Romys Eltern katholisch waren – was sonst, musste man hinzufügen, denn Romys Vater war gebürtiger Neapolitaner und überzeugter Katholik. Er würde selbstverständlich niemals eine evangelische Kirche betreten, auch nicht, um seine Tochter zum Traualtar zu geleiten.

Dass Romy nach Zwischenstationen in Köln, Schwerin und Rostock als leitende Kommissarin in Bergen auf Rügen gelandet war, statt nach Moritz’ Tod im Sommer vor zwei Jahren in den Schoß der Familie oder zumindest in den Süden des Landes zurückzukehren, würde er wohl nie akzeptieren. Er machte nicht einmal den Versuch, seine Tochter zu verstehen, sondern spielte ständig den beleidigten Patriarchen; das hatte sich in den letzten Wochen wieder in aller Deutlichkeit gezeigt, während Romys Mutter stets händeringend nach einer Möglichkeit suchte, den Familienfrieden wenigstens über die Feiertage aufrechtzuerhalten. Manchmal wusste Romy nicht, was sie mehr nervte: die jähzornige Selbstherrlichkeit ihres Vaters oder die wehleidige Heuchelei ihrer Mutter.

Ihr könnt mich alle mal, dachte sie schließlich, während sie behutsam abbremste und kurz vor der Reha-Klinik am Südstrand hinter Kasper Schneiders Wagen und mehreren Polizeifahrzeugen anhielt. Diese ganze Familensoße geht mir dermaßen auf die Nerven; nächstes Jahr bleibe ich hier, und ihr dürft euch unterm Weihnachtsbaum dafür gegenseitig die Schuld in die Schuhe schieben, während ich mich von Kasper bekochen lasse oder in Middelhagen Heringe essen gehe! Damit schob sie das unerfreuliche Thema beiseite und öffnete die Wagentür.

Ein eisiger Windstoß fegte über ihr Gesicht, als sie über einen schmalen Dünenpfad, vorbei an einer niedrigen, schneebedeckten Fischerhütte, zum Strand hinunterging. Es herrschte mäßiger Wellengang. Schaumkronen aus Schnee und Eis züngelten über den Strand. Kommissar Kasper Schneider kam ihr entgegen.

Der Kollege war gut über sechzig, auf Rügen geboren und aufgewachsen und ein ebenso erfahrener wie besonnener Ermittler, der schon viel gesehen hatte und es in den Jahren vor seinem Ruhestand, hätte man ihn gefragt, gerne etwas ruhiger angehen lassen würde.

»Moin.« Er zog sich die Wollmütze tief über die Ohren. »Eine Frau«, erklärte er gewohnt knapp. »Monika Sänger aus Bergen, Mitte fünfzig. Hatte Papiere, Handy und Schlüssel bei sich, ihr Auto steht oben an der Straße. Ist gestern Abend vom Ehemann vermisst gemeldet worden.«

»Weiß man schon Genaueres über die Todesumstände?«

»Ja – die waren unerfreulich.«

»Kein Unfall oder natürlicher Tod?«

»Nö.« Kasper schüttelte den Kopf. »Und kein schöner Anblick«, fügte er noch hinzu, während sie auf den abgesperrten Bereich zugingen, in dem Kriminaltechniker unter der Leitung von Marko Buhl Spuren sicherten und fotografierten.

Buhl kniete neben der toten Frau, die bereits in einen Leichensack gebettet worden war, und hob kurz den Kopf, als er Romy bemerkte. Er winkte sie heran, während er den Reißverschluss ungefähr bis Hüfthöhe herunterzog.

Bei ihrem ersten großen Fall auf Rügen im letzten Frühjahr, bei dem der ermordete Geschäftsmann Kai Richardt als Serientäter entlarvt werden konnte, hatte Romy einige Anlaufschwierigkeiten gehabt, bis sie mit dem hageren Cheftechniker und seiner unwirschen, manchmal zynischen Art klargekommen war. Um genau zu sein, hatte er sie mehrmals fast bis zur Weißglut getrieben. Aber zum einen war es nicht ganz so schwer, Romys südländisches Temperament zum Kochen zu bringen, auch wenn sie es in den letzten Jahren im hohen Norden zu zügeln gelernt hatte. Zum anderen hatte Kasper letztlich mit seiner unerschütterlichen Ansicht, dass Marko ein guter Mann in seinem Fach sei, unbedingt Recht behalten. Und umgekehrt dürfte Buhl inzwischen davon überzeugt sein, dass »die Italienerin« eine ganz passable Ermittlerin war, wenn auch ein bisschen hitzköpfig und ungeduldig.

Romy hatte normalerweise keine Berührungsängste, wenn es darum ging, eine Leiche in Augenschein zu nehmen. Sie konzentrierte sich stets auf den Fall und die Untersuchung der Besonderheiten, die diesen Menschen das Leben gekostet hatten – sie ließ das Grauen und Leiden, das dem Tod vorausgegangen war, emotional so wenig wie möglich an sich heran. Ohne die innere Distanzierung hätte sie ihren Job nicht machen können. Doch diese Leiche war durchaus etwas Besonderes.

»Sie hat mit dem Gesicht im Wasser gelegen«, erläuterte Buhl, während Romy den vereisten Oberkörper der toten Frau betrachtete und kurz den Atem anhielt, als ihr Blick das entstellte Antlitz erfasste. Stirn, Nase und Augenpartie wiesen großflächige Verletzungen auf, die umso schockierender wirkten, als sie von bizarr schönen Eiskristallen übersät waren. Der Unterkiefer war verzogen, das Jochbein des rechten Auges sah zertrümmert aus.

»Ein paar Grad weniger heute Nacht, und wir hätten sie aus dem Eis schlagen müssen.« Buhl blickte kurz hoch. »Dürfte bald soweit sein, schätze ich mal.«

Schaurige Vorstellung, eine Leiche der zugefrorenen Ostsee entreißen oder aus Schneebergen freischaufeln zu müssen, dachte Romy. »Sie ist also tot geprügelt worden«, stellte sie dann in leisem Ton fest.

»Im Augenblick schwer zu sagen«, entgegnete Buhl. »Fest steht, dass sie heftig geschlagen wurde, bis zur Bewusstlosigkeit, denke ich, wahrscheinlich auch getreten – das wird Möller später genauer sagen können, wenn er sie auf dem Tisch hat. Eine Tatwaffe haben wir bislang jedenfalls nicht gefunden. Die Verletzungen sind übel, und falls sie zu Schädelbruch und Hirntraumata geführt haben, dürften sie todesursächlich gewesen sein. Das ist aber im Moment rein hypothetisch, zumal sie im Wasser lag und unter Umständen ertrunken ist.«

Dr. Ulrich Möller war der zuständige Rechtsmediziner vom Greifswalder Institut, und wie Romy ihn kannte, würde er sich sehr schnell mit einer ersten Einschätzung melden.

»Weitere offenkundige Verletzungen am Körper?«

»Das nicht, aber ihre Hände sehen genauso scheußlich aus«, erläuterte der Techniker weiter und öffnete den Leichensack um ein weiteres Stück. »Da hat sich jemand ähnlich ausgetobt wie im Gesicht.«

»Hände und Gesicht«, murmelte Romy nachdenklich, während sie die malträtierten Finger der Frau begutachtete. »Vielleicht wollte der Täter ganz sichergehen und hat sie nach der Prügelattacke ins Wasser gezogen und liegengelassen, damit sie ertrinkt.«

»Gut möglich«, stimmte Buhl zu. »Es hat in der zweiten Nachthälfte zwar ein bisschen geschneit, aber wir haben trotzdem einige Schleifspuren sichern können, die ihre Stiefelabsätze hinterlassen haben dürften. Dort gibt es auch Blutspuren.« Er machte eine unbestimmte Handbewegung in Richtung Dünen. »Wir haben das natürlich dokumentiert. Kriegen Sie so schnell wie möglich auf den Schreibtisch.«

»Könnte es sein, dass sie bereits verletzt an den Strand gebracht wurde?«

»Die bisherige Spurenlage gibt das zwar nicht her, aber unter Umständen kann ich mehr dazu sagen, wenn wir uns ihren Wagen genauer angesehen haben«, antwortete Buhl.

»Tipp, was den Todeszeitpunkt betrifft?«

»Bei der Kälte ist viel möglich, hab ich Kasper auch schon gesagt – gestern Abend, irgendwann heute Nacht, ganz früh morgens … Das macht es nicht einfacher für euch, ist mir klar, aber mehr kann ich im Moment nicht sagen. Ihr müsst Euch gedulden und auf Möllers Einschätzung warten.«

Romy erhob sich wieder. »Verstehe, danke.« Seine Erläuterungen waren vergleichsweise ausführlich gewesen. »Ach, bevor ich es vergesse – die Frau muss identifiziert werden. Dazu brauche ich erst mal ein Foto …«

»Hat Kasper schon gemacht, mit dem Handy.« Buhl wies beiläufig in Schneiders Richtung, der einige Schritte hinter ihr stehengeblieben war – offenbar alles andere als erpicht darauf, die tote Frau ein zweites Mal genauer in Augenschein zu nehmen. »Besser, man sieht nicht ganz so viel.«

»Wo Sie recht haben, haben Sie recht.«

...