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Hunkeler und der Fall Livius - Hunkelers sechster Fall

Hansjörg Schneider

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257602951 , 240 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

[79] Anwesend war die ganze Basler Crew samt Madörin. Von französischer Seite waren da Madame Godet, Monsieur Bardet und Monsieur Morath. Die Stimmung war von Anfang an gereizt. Staatsanwalt Suter versuchte zwar, sich entspannt zu geben. Er hatte sich sportlich leger gekleidet. Hellgrauer Flanellanzug, hellrosa Hemd, dunkelblaue Krawatte. Er brauchte wohl etwas Zeit, sich von den Schneehängen Graubündens zu verabschieden in den tristen Basler Alltag hinein.

Er begrüßte kurz und ohne Erwähnung der Nationalität die Anwesenden und übergab das Wort an Madame Godet. Sie erklärte sich befriedigt von der Art, wie die Zusammenarbeit angelaufen sei. Sie selber seien noch nicht so weit, genaue Ergebnisse vorlegen zu können. Die Untersuchungen seien am Laufen, die ersten Befunde der Autopsie seien auf morgen Dienstag zu erwarten.

Auch Bardet fasste sich kurz. Er schien sich nicht allzu wohl zu fühlen in der Runde, er sprach ohne seine gewohnte Schärfe. Vielleicht lagen ihm Vouvray und Austern noch schwer im Magen.

Er wolle sich nicht in Spekulationen ergehen, sagte er. Nur so viel:

Erstens sei Anton Flückiger 58 Kilo schwer gewesen. Ein Leichtgewicht also, es sei durchaus denkbar, dass ein einzelner kräftiger Mann genügt haben könnte, die Leiche aufzuhängen.

Zweitens sei Flückiger aus sehr kurzer Distanz erschossen worden, ohne Gegenwehr. Die Kugel sei in der Holzwand einer benachbarten Hütte gefunden worden. Es sei eine Kugel neuerer Produktion, die aus einer Pistole älterer [80] Produktion abgefeuert worden sei. Denkbar sei eine Pistole aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges.

Drittens sei es noch nicht gelungen, Flückigers militärische Laufbahn zu eruieren. Grund dafür sei der heutige Feiertag, an dem die entsprechenden Archive geschlossen seien.

Viertens sei die Parzelle B35 äußerst karg bepflanzt. Eine Rose, eine Eibe, ein Seerosenteich. Der Teich sei mit armiertem Beton gebaut. Sie seien daran, den Beton aufzubrechen und tiefer zu graben, in der Hoffnung, auf einen relevanten Fund zu stoßen. Sie würden das ganze Areal umgraben, was schwierig sei, weil der Boden gefroren sei.

Fünftens stamme der Fleischerhaken von Füglistallers Hütte. Dort würden weitere solcher Haken hängen.

Sechstens würden sie noch heute Abend einen neuen Kommandoposten einrichten, und zwar im französischen Zollhaus.

Siebtens bitte er darum, jemanden nach Rüegsbach zu schicken, um sich nach Flückigers Einbürgerung zu erkundigen. Er denke an Kommissär Hunkeler.

Hier schniefte Staatsanwalt Suter vernehmlich durch die Nase, als wäre ihm eine Mücke hineingeflogen. Offenbar fühlte er sich in seiner Souveränität beeinträchtigt. Aber er sagte nichts.

Achtens, fuhr Bardet weiter, hätten sie die Telefonnummer in Thailand angerufen, hätten aber keine klare Auskunft erhalten. Sie hätten sich beim thailändischen Telefonamt erkundigt. Die Auskunft sei verwirrend gewesen. Es handle sich beim Eigner der Nummer um so etwas wie eine Mischung aus Drogerie und Puff. Sie hätten es mehrmals [81] versucht. Es scheine dort niemand einen Anton Flückiger zu kennen.

Neuntens sei auffallend, dass gestern Mittag Moritz Hänggi, der Pächter von B26, nach Fuerteventura abgeflogen sei. Hänggi habe erwiesenermaßen die Silvesternacht auf B26 verbracht, was ungewöhnlich anmute, so kurz vor dem Abflug. Sie hätten mehrmals versucht, ihn auf dem Handy anzurufen. Sie hätten stets vom Beantworter gehört, dass der Abonnent nicht gestört werden wolle.

»Warum Moritz Hänggi?«, fragte Suter.

»Weil uns der Mann interessiert.«

»Und warum?«

»Wir werden das bekanntgeben, wenn wir es für richtig halten.«

Suter griff sich an den rosa Kragen, sagte aber wieder nichts.

»Wir leiten die Ermittlungen«, sagte Bardet. »Wir sind nicht verpflichtet, Sie in allen Details zu informieren. Ist es nicht so, Monsieur Morath?«

»Doch«, sagte Morath, »laut Staatsvertrag ist es so.«

»Danke. Dr. de Ville wird Sie jetzt über die Ergebnisse der Untersuchung von Flückigers Wohnung an der Dammerkirchstraße informieren. Ich bitte um Entschuldigung, dass ich mich so knapp fassen muss. Mehr wissen wir nicht.«

»Außer B26«, sagte Madörin spitz. »Außer dem, was auf B26 passiert sein könnte.«

Er saß da in eigenartig geduckter Haltung, als ob er demnächst an die Decke fahren würde.

Hunkeler steckte sich eine Zigarette an. Er war froh, dass Bardet den Aschenbecher vor sich auf dem Tisch stehen hatte.

[82] Eine Weile sagte keiner ein Wort. Dann griff Suter zum Handy und bestellte in der Cafeteria eine Runde Kaffee.

»Und einen Cognac, bitte«, sagte Bardet.

»Tut mir leid, Monsieur«, sagte Suter durchaus freundlich, »Cognac haben wir nicht. Aber ich habe aus Davos einen köstlichen Kräuterschnaps mitgebracht. Die Flasche steht in meinem Büro. Ich hole Ihnen gern ein Glas, wenn Sie es dringend brauchen.«

»Messieurs«, sagte Madame Godet, »ich bitte Sie. Wo sind wir denn? Im Kindergarten? Sie werden sich doch nicht noch zu prügeln anfangen. Vergessen Sie bitte nicht, dass eine Frau anwesend ist.«

Sie versuchte wieder ihr charmantes Lächeln. Diesmal gelang es hervorragend.

»Mais non, Madame«, sagte Suter honigsüß, »wir sind gute Nachbarn. An uns jedenfalls soll es nicht fehlen.«

Der Mann aus der Cafeteria brachte den Kaffee. Sie saßen alle vor ihren Tassen, rührten Zucker hinein, schlürften. Einmal war Lüdis Kichern zu hören. Es klang ziemlich hilflos.

»Ich möchte gerne wissen«, sagte Madörin endlich, »was Sie mit B26 vorhaben. Warum Sie Moritz Hänggi haben entwischen und nach Fuerteventura ausfliegen lassen. Zusammen mit Jeannette Wiest, seiner Lebensgefährtin. Sie ist Elsässerin, was ein interessanter Punkt sein könnte. Im weiteren möchte ich wissen, warum Sie so wenig Interesse an der Belegschaft der Gärten zeigen. An den Schweizern, Jugoslawen und Türken. Ist Ihnen nicht zu Ohren gekommen, dass heute Nacht vier Enten getötet worden sind? Wissen Sie nichts von den toten Kaninchen? Sie scheinen sehr einseitig vorzugehen, Monsieur Bardet.«

[83] Bardet drückte seine Zigarette aus. Er war drauf und dran, den Raum zu verlassen.

»Gut«, sagte er mit versteinerter Miene, »ich schlage vor, Monsieur de Ville wird uns jetzt über Flückigers Wohnung informieren.«

»Was soll das?«, schrie Madörin. »Bekomme ich eine klare Antwort oder nicht?«

»Non«, sagte Bardet.

Madörin schmiss seinen Stuhl um und ging wortlos hinaus.

»Mais Messieurs«, sagte Madame Godet, »ist es nicht möglich, dass wir uns wie zivilisierte Menschen unterhalten? Je vous en prie.«

Suter strich sich kurz übers Haar, als ob er sich vergewissern wollte, dass es noch da war. Die Bräune im Gesicht hatte er nicht verloren. Lüdi kicherte, fast unhörbar. Hunkeler hätte am liebsten laut herausgelacht. Aber er hielt sich zurück.

»Es gibt nun einmal Landesgrenzen«, sagte de Ville endlich, »ob uns das passt oder nicht. Es gibt den Staatsvertrag. Was isch de los, nom de Dieu? Sind ir alli eberegschnappet? Hoppla jeze. Andenken und Erinnerungsstücke gibt es fast keine in der Wohnung. Es ist, als hätte Anton Flückiger versucht, die Spuren seines Lebens auszulöschen. Drei Papierblumen und ein paar Ansichtskarten, sonst nichts. Die Papierblumen, es sind drei Rosen, die früher einmal feuerrot gewesen sein müssen, stammen von einem Schießstand auf einer Kirmes. Im Elsass sind sie heute noch zu haben. Flückiger wird sie vermutlich einer Frau herausgeschossen haben. Die Ansichtskarten stammen aus Amsterdam, Prag, [84] Karlsbad, Altkirch und Sumiswald im Emmental. Sie sind nicht abgeschickt worden. Sie sind alle auf der Rückseite datiert und beschrieben mit männlichen Vornamen. Die Schrift ist teilweise verblichen. Wir haben sie von einem Spezialisten transkribieren lassen. Ich schlage vor, wir schauen sie uns an, in der zeitlichen Reihenfolge.«

Er schaltete den Projektor ein.

»Links sehen Sie die Originalkarte, rechts die Transkription. Bitte beachten Sie die großen Buchstaben AK und FW. Es werden weitere solche großen Buchstaben zu sehen sein. Bitte achten Sie auch auf diese.«

Alle lasen, was auf der Leinwand erschien.

Amsterdam, 8. Oktober 1940. AK. Hans FW, Friedbert, Werner, Eberhard, Alfred, Anton.

Prag, 8. April 1941. AK. Egon HM, Matthias, Thomas, Jürg, Pirmin, Dieter, Christoph, Anton.

Karlsbad, Weihnachten 1941. AK. Egon HM, Martin, Friedrich, Adolph, Anton.

Altkirch, Kathrinenmarkt 1942. AK. Peter OF, Jürg, Robert, Rudi, Joseph, Viktor, Theo, Anton.

Sumiswald, Kalter Markt 1958. AK. Küssu, Köbu, Wäutu, Fridu, Ülu, Tönu.

»Der Kathrinenmarkt in Altkirch«, sagte de Ville, »findet immer Ende November statt. Weiß jemand, wann der Kalte Markt in Sumiswald abgehalten wird?«

»Immer am 30. Dezember«, sagte Hunkeler. »Ich weiß das, weil ich in jener Gegend ein paar Jahre lang ein Wochenendhaus hatte. Die Namen sind Markus, Jakob, Walter, Fritz, Uli und Anton.«

»Gut«, sagte de Ville. »Vermutlich sind alles Namen von [85] Kollegen, mit denen zusammen Livius diese Orte besucht hat. Anhand der Karten können wir seinen Weg durch Europa in den ersten Kriegsjahren verfolgen, bis Ende 1942 in Altkirch. Dann bricht seine Spur ab, bis sie bei Kriegsende in...