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Das Paar im Kahn - Hunkelers dritter Fall

Hansjörg Schneider

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257602920 , 224 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

[76] Am nächsten Samstagmorgen stieg Hunkeler den Rheinsprung hoch. Rechter Hand stand ein Riegelhaus, in dessen Schaufenster Schmuck aus irgendwelchen asiatischen Ländern lag. Er ging hinein. An einem Tisch saß ein langhaariges Mädchen.

»Herr Paul Wyss«, sagte er, »wo finde ich ihn?«

»Der ist vor Jahren gestorben. Soviel ich weiß, wurde er in der Nähe von Lugano begraben.«

»Und seine Frau, wo lebt die?«

»Die ist auch tot.«

»Was ist mit seiner Sammlung geschehen?«

Das Mädchen warf ihr Haar nach hinten, unwirsch, sie hatte die Fragerei satt.

»Das weiß ich doch nicht. Wenn Sie Schmuck aus Indonesien kaufen wollen, bitte sehr. Aber ich bin doch keine Auskunftsstelle.«

Hunkeler verließ den Laden, durchaus beleidigt. Diese Jugend, dachte er, die weiß nicht mehr, was sich gehört. Besonders die weibliche Jugend. Die empfindet jeden alten Mann bereits als Zumutung, als potentiellen Alterslüstling. Keine Anmut, kein Charme, keine Freundlichkeit. Dann musste er lachen. Er war wohl selber unwirsch gewesen, er war in hässiger Laune.

Er stieg weiter hinauf Richtung Münsterplatz, er hatte Zeit. Er kam sich vor wie ein Rentner, der sich nach seiner Arbeit sehnt.

Oben auf dem Platz bog er nach links ab unter die Kastanienbäume, von denen das Regenwasser tropfte. Er betrachtete die Gallus-Pforte, die romanischen Figuren links und rechts des Portals, das Lebensrad darüber mit den [77] Menschen, die sich im Kreis drehten, einmal unten, einmal oben. Es fiel ihm ein, dass er schon lange nicht mehr hier gewesen war, er sagte sich, dass er im Moment ziemlich tief unten war.

Er dachte kurz daran, den Kirchenraum zu betreten und sich das Relief des heiligen Vinzenz anzuschauen, ließ es aber bleiben. Er ging weiter durch die Rittergasse. Das Gehen im Regen beruhigte ihn.

Er wusste nicht, was er suchte, er gab es jedenfalls nicht zu. Er redete sich ein, Basel sei eine schöne, alte Stadt mit Sehenswürdigkeiten von Weltrang, betrachtete links und rechts die alten Häuser. Er ging durch die St. Alban-Vorstadt, stieg den Mühlenberg hinunter zur alten Kirche. Die interessierte ihn nicht. Er trat auf den St. Alban-Rheinweg hinaus, schaute auf den Fluss, der braunes Hochwasser führte. Ein vollbeladener Öltanker schob sich hinauf. In der Steuerkabine brannte Licht.

St. Alban-Rheinweg, was fiel ihm denn zu diesem Weg ein? Richtig, Erika Frösch, die für ein Reisebüro arbeitete und bei Aische Aydin Türkischstunden genommen hatte. Er hatte ihre Adresse im Telefonbuch herausgesucht.

Erika Frösch wohnte in einem hohen Mietshaus, neben dem Goldenen Sternen. Er stieß die Haustür auf, stieg drei Treppen hoch und klingelte. Er musste lange warten, er hörte von drinnen Kindergeschrei. Dann ging die Tür auf, eine junge Frau stand vor ihm mit kurzem, leicht rötlichem Haar.

»Was wollen Sie?«

»Dürfte ich bitte hereinkommen?«, fragte er.

»Warum?«

[78] Er zeigte seinen Ausweis.

»Ich bin Kriminalkommissär. Es geht um Aische Aydin.«

»Es ist schon einer hier gewesen, ich habe seinen Namen vergessen. Ich habe keine Zeit mehr.«

Sie wollte die Tür schließen, aber er stellte den Fuß dazwischen. »Bitte«, sagte er, und er fragte sich, woher er seine Freundlichkeit nahm, »es ist sehr wichtig.«

Sie überlegte, schaute ihn genau an aus hellgrauen Augen und nickte. Sie ging voraus in die Küche, wo in Babystühlen zwei Kleinkinder saßen, die ihn reglos anstarrten. Einem quoll Brei aus dem Mund, Karottenmus wohl. Er setzte sich auf den Stuhl daneben und schaute sich um. Der Tisch war überstellt mit Dosen und Flaschen. Schmutziges Geschirr auf der Anrichte, eine Kiste mit zwei Meerschweinchen in der Ecke. An den Wänden hingen Fotos von romanischen Fresken.

»Zwillinge?«, fragte er.

»Ja, was denn sonst?«

»Sind Sie verheiratet?«

»Was geht Sie das an?«

»Entschuldigung«, sagte er, »ich bin manchmal blöde.«

Er schaute eines der Fotos an, das Christus mit einem Strick um den Hals zeigte, umgeben von Soldaten. Seltsam archaisch war das, er hatte noch nichts Ähnliches gesehen.

»Diese Fresken sind nicht aus Europa, nicht wahr?«, fragte er, um Zeit zu gewinnen und ein bisschen Stimmung zu machen. Mut, alter Mann, dies war eine entzückende Lady. Sei nett, sonst schmeißt sie dich wieder hinaus.

»Nein. Sie stammen aus der Türkei, aus Göreme. Aus dem 11. Jahrhundert vorwiegend.«

[79] »Ach so, Sie sind ja Reiseleiterin.«

»Ja. Ich wechsle mich ab mit Fritz Stampfli.«

Sie stand immer noch, wartete, beobachtete ihn. Ein bisschen zierlich, zerbrechlich, ein bisschen verhärmt, wie es schien.

»Und jetzt?«, fragte er. »Sie können ja nicht mehr hinfahren, wenn Sie zwei kleine Kinder haben.«

»Doch. Ich bringe die Kinder zu meiner Mutter.«

Bildschön, dachte er, eine bildschöne Frau, gescheit und entschlossen. Er hätte gern um einen Kaffee gebeten, aber er getraute sich nicht.

»Es will mir einfach nicht in den Kopf«, sagte er, »dass Herr Aydin seine Frau erschlagen haben soll.«

»Warum nicht? Der andere ist doch überzeugt davon.«

»Madörin, ja, der ist überzeugt davon. Aber ich nicht. Darf ich rauchen?«

»Nein. Das wäre nicht gut für die Kinder.«

Ach so, natürlich, ja. Er schämte sich fast.

»Deshalb also haben Sie Türkischstunden genommen, wegen Göreme.« Er nickte mehrmals, als ob sein Problem gelöst gewesen wäre.

»Jetzt sagen Sie, was Sie von mir wollen«, meinte sie schroff, »und dann gehen Sie bitte wieder. Ich habe keine Zeit zu verschenken.«

»Karottenmus, nicht wahr?« Er zeigte auf eine der Dosen. »Karottenmus ist gesund für kleine Kinder. Füttern Sie ruhig weiter, ich habe Zeit.«

Sie wartete eine Weile, setzte sich dann und begann, den Kindern Brei in die Münder zu löffeln. Er schaute zu, hingerissen, als ob er der Großvater gewesen wäre.

[80] »Gaffen Sie nicht so blöd«, sagte sie. »Hier, nehmen Sie.«

Sie gab ihm einen Löffel und ein volles Glas und zeigte auf das Kind, das ihm am nächsten saß. Er begriff und schob behutsam Brei in den Kindermund.

»Was meinen denn Sie?«, fragte er, während er den herausquellenden Brei zwischen die Kinderlippen zurückschob.

»Ich meine nichts. Das Einzige, was ich weiß, ist, dass Aische und ihr Mann tot sind.«

»Könnte das Amulett, das sie um den Hals getragen hat, aus Göreme stammen?«

»Nein, mit Sicherheit nicht. Das war ein heidnisches Amulett. Aus Afrika oder so.«

»Von wem hat sie es gehabt?«

Sie nahm ein Tuch, wischte die Kindermünder ab und räumte die Gläser weg.

»Können Sie ein Kind wickeln?«, fragte sie.

»Früher habe ich es gekonnt. Ich habe eine Tochter.«

»Also los. Machen Sie sich nützlich.«

»Hier auf dem Tisch?«

»Nein, drüben im Bad. Ich muss hier Gemüse rüsten.«

Sie trug eines der Kinder hinüber auf den Wickeltisch, und Hunkeler machte sich an die Arbeit. Druckknöpfe lösen, Plastik weg, Windel in den Kübel, waschen, pudern, neue Windel drauf und Druckknöpfe zu. So hatte er es gelernt, und so machte er es.

»Fertig«, rief er. Er merkte, dass er sich unbändig freute.

»Das geht ja ganz gut«, meinte sie, als sie das zweite Kind brachte. Sie lächelte beinahe, ein kurzes Leuchten war in ihren Augen.

[81] Als die Kinder versorgt waren und sie beide wieder in der Küche saßen, kam er auf sein Thema zurück. Es musste sein, er konnte nicht lockerlassen. Schließlich war es sein Beruf.

»Kennen Sie Beat Spälti?«

Sie blieb ganz ruhig, zog von einem Lauch die äußerste Hülle ab, zerschnitt den Stengel in schmale Scheiben.

»Nur vom Hörensagen, nicht persönlich. Das heißt, ich habe ihn einmal kurz gesehen.«

»Was haben Sie von ihm gehört?«

»Dass er den Gigolo spielt und sich an Frauen heranmacht.«

»Ich habe gemeint, er sei eine Attrappe, der keine Chancen hat.«

Sie hob kurz den Blick, hellgraue Augen, zurückhaltend und genau.

»Ich glaube, das kann ein Mann nicht beurteilen.«

»Und Sie? Können Sie es beurteilen?«

»Ja, ich kann es. Übrigens habe ich seit sechs Jahren den gleichen Freund. Die Kinder sind von ihm.«

»Was ist Ihr Freund von Beruf?«

»Er malt.«

Seltsam. Kein Bild dieses Freundes hing in der Küche, keines im Gang.

»Malt er ähnlich wie Theo Ruf?«

Sie schien zusammenzuzucken, aber nur kurz, sie hatte sich gleich wieder gefasst.

»Über Theo Ruf rede ich nicht. Das ist ein verkommener Mensch.«

Sie erhob sich, leerte das Gemüse in eine Pfanne, ließ [82] Wasser einlaufen und stellte sie auf den Herd. Sie setzte sich wieder, um sich auszuruhen, atmete ruhig.

»Ich weiß nicht viel, ich verkehre nicht in diesen Kreisen. Ich habe einiges von meinem Freund gehört. Er heißt Erwin Feess und ist ein begabter Künstler. Ich liebe ihn, wenn Sie das interessiert.«

»Was sind das für Kreise?«

Jetzt lächelte sie, sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Das wissen Sie doch. Ausläufer der ehemaligen Boheme. Bürgerschrecks, die glauben, die bestehenden Gesellschaftsstrukturen mit Suchtmitteln aus den Angeln heben zu können.«

Im Gang draußen ging eine Tür auf, man hörte Schritte. Eine lange Gestalt erschien unter der Tür, bekleidet mit einem Pyjama. Ein schlaksiger, junger Mann, bleich, träumend, sichtlich...