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Seeluft - Ein Fall für Sebastian Fink

Friedrich Dönhoff

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257602852 , 368 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

[124] 25

Auf der Autobahn hatte er mit Jens telefoniert und ihm von dem mysteriösen Dreieck erzählt, den Geschwistern Henning und Gesa Keilenweger und der Geliebten Isabelle Seidel. Einer der drei log. Oder logen sogar zwei? Henning Keilenweger war über Telefon noch immer nicht erreichbar gewesen, aber Sebastian würde ihn in Bönningstedt schon aufspüren.

Ein leises Rauschen trieb durch die Baumkronen, als er vor dem Gutshaus seinem Wagen entstieg. Er schloss die Autotür leise und hörte ein Klatschen, als wäre jemand in das Schwimmbad gesprungen. Sebastian ging um das Gebäude herum. Am anderen Ende des frisch gemähten Rasens am Rand des Schwimmbeckens stand ein sportlicher Mann in einer roten Badehose, offenbar unschlüssig, ob er hineinspringen sollte. Das musste Henning Keilenweger sein. Die Stimme von Constanze Keilenweger wehte herüber: »Na los, komm rein!«

Henning Keilenweger ging an den oberen Rand des Beckens, beugte sich nach vorn und sprang kopfüber ins Wasser. Seine Mutter schaute auf die Wasseroberfläche. Ihr Kopf drehte sich einmal nach rechts, verharrte einen Moment, drehte sich dann wieder nach links, wo der Schwimmer mit einem lauten Schnaufen auftauchte.

[125] Sebastian hatte plötzlich eine Idee. Auch wenn er nicht wusste, was er konkret suchte, so war die Gelegenheit zu einem schnellen Rundgang durch das Haus günstig, solange Mutter und Sohn im Becken waren. Sebastian schlich hinter den Rhododendronbüschen zur Veranda.

Im Salon roch es immer noch intensiv nach Rosen und Zigarettenauch. In der Ecke stand ein zierlicher Tisch mit einer Kristallvase und einem frischen rosaroten Strauß. Die Familienfotos auf dem Kaminsims, die Sitzgruppe, in der Pia und er der Frau des Hauses die Todesnachricht überbracht hatte – alles wie immer. Nur keine Musik, kein weicher Bass, der leise durch die Räume schwang. Stattdessen Stille. »Hallo!«, rief Sebastian sicherheitshalber.

Keine Antwort. Nur gelegentlich ein Juchzen und Plätschern von draußen. Durch die offene Flügeltür ging er ins Esszimmer, an dessen hellblauen Wänden mehrere goldgerahmte Ölbilder mit Jagdszenen hingen. Auf der antiken Kommode stand das Modell eines Containerschiffs, ähnlich jenem, das sich während des Gesprächs mit Frau Seidel auf der Elbe vorbeigeschoben hatte. Das Modell trug den Namen Lena. Auf die Namensaufschrift des echten Frachtschiffs hatte Sebastian nicht geachtet.

Am Ende des Raums befand sich eine weitere Flügeltür. Sebastian öffnete sie. Eine Treppe führte ins obere Stockwerk. Er schaute sicherheitshalber durch die hohen Fenster. Mutter und Sohn alberten vergnügt miteinander herum. Schon erstaunlich: Die Bedrückung über den [126] Tod des Ehemanns und Vaters schien schon verflogen. Trauer war allerdings von Mensch zu Mensch verschieden, jeder reagierte anders.

Sebastian lief lautlos über den dicken Teppich und die Treppe hinauf. Der Gang oben ging in zwei Richtungen. Er trat in das erste Zimmer rechts, ein Schlafzimmer. Das Bett, notdürftig gemacht, schätzte er auf mindestens drei Meter breit und zwei Meter lang, sechs erwachsene Menschen hätten problemlos darin Platz gefunden. Angereiht war ein Ankleidezimmer, in dem alle Schränke geöffnet waren. Auf der einen Seite waren zahlreiche Anzüge, ordentlich aufgehängt, Krawatten, Oberhemden, nach Farben geordnet. Die Kleidung des Toten. Ein Mensch verschwand von dieser Welt, und seine Kleidung blieb zurück.

Er drehte sich um. Hier hingen Kleider, Sommerröcke und mehrere lange Abendkleider. Im Regal Damenschuhe, er schätzte knapp fünfzig. Eigenartig: Einerseits hatte man hier alle Vorrichtungen, um Kleidung ordentlich hinzulegen und aufzuhängen, dennoch wirkte die Ordnung wie sabotiert.

Er verließ die Kleiderkammer. Mitten im Schlafzimmer blieb er plötzlich stehen. Er horchte. Nichts. Aber genau das war es. Seit ein paar Sekunden, vielleicht waren es sogar Minuten, war vom Schwimmbecken kein Ton mehr zu hören. Sebastian stürzte ans Fenster. Im ersten Moment wollte er, peinlich berührt, sofort wieder wegschauen, aber er zwang sich, die Augen nicht abzuwenden.

Es war unglaublich: Im Schwimmbad waren noch [127] immer Mutter und Sohn, und sie küssten sich. Sebastian wurde von einem leichten Schwindel erfasst.

Als er wenig später über die Wiese auf das Schwimmbad zuging, war er froh, dass sich die beiden inzwischen aus der Umarmung gelöst hatten. Albern tollten sie im Wasser herum, spritzten und planschten wie die Kinder. Sie waren so sehr mit sich beschäftigt, dass sie Sebastian gar nicht bemerkten. Erst als er am Beckenrand stand, schaute Constanze Keilenweger hoch: »Herr Fink?«, rief sie mehr erfreut als überrascht. Der blonde Mann neben ihr balancierte im Wasser und grüßte mit einem Nicken.

»Herr Keilenweger? Ich muss mit Ihnen sprechen«, sagte Sebastian.

»Sie wollen Henning sprechen?«, fragte Constanze Keilenweger. »Der ist ausgeritten.«

Zwei Sekunden lang sagte keiner etwas. Sebastian spürte eine gewisse Erleichterung. »Darf ich fragen, wer Sie sind?«, sagte Sebastian zu dem Mann.

Der schaute wieder Constanze Keilenweger an, als bedürfte seine Antwort ihrer Erlaubnis.

Sie antwortete für ihn: »Das ist Björn Nyström.«

Der Mann musterte Sebastian aus hellblauen Augen, während er eine Hand aus dem Wasser hob und ein Winken andeutete. Constanze Keilenweger schwamm zur Leiter rüber und stieg aus dem Wasser. Sie hatte für ihr Alter eine sehr gute Figur. Auf einem Stein am Rande des Pools lag ein weißes Handtuch, das sie sich jetzt um den Körper schlang.

»Vielleicht kann ich Ihnen weiterhelfen?« Sie reichte [128] Sebastian die nasse, kühle Hand. »Henning müsste ansonsten auch jederzeit zurück sein, er ist schon länger unterwegs.« Sie blickte hinüber zu dem weiten Feld, das sich hinter dem Garten erstreckte.

Im Schwimmbad kraulte der blonde Mann Bahnen. »Darf ich fragen, wer der Herr ist?«, fragte Sebastian. Constanze Keilenweger und er standen sich auf dem Rasen gegenüber wie zwei Schachfiguren zu Beginn eines langen Spiels.

Sie verschränkte die Arme, schaute hinunter auf ihre Füße. Rotlackierte Zehennägel blinkten im grünen Gras, und Sebastian dachte, wie jung und frisch alles war: der Frühling, die weiche Luft, der leuchtende Rasen, der Mann im türkisfarbenen Wasser und diese Frau. In diese Umgebung passte der gewaltsame Tod eines Menschen nicht. Eigentlich.

»Björn und ich haben uns vor zwei Jahren in Stockholm kennengelernt«, antwortete Constanze Keilenweger. »Bevor Sie fragen: Ja, wir sind ein Paar, und ja, ich war ohne meinen Ehemann dort. « Sie schaute zum Schwimmbad, wo ihr Geliebter unter Wasser eine Rolle rückwärts vollzog und sich mit Schwung wieder abstieß. »Ich habe mich zunächst alleine durch Stockholm treiben lassen, habe Museen angeschaut, am Wasser gesessen, bin schöne Straßen vier-, fünf-, sechsmal auf und ab gegangen, einfach so. Dann traf ich auf diesen strahlenden Mann, der alternative Stadtführungen anbot. Ich habe eine gebucht, er zeigte mir seine Stadt. Seitdem sind wir zusammen unterwegs.« Sie schaute wieder auf ihre Füße. »Es fiel mir nicht schwer, meinem [129] Ehemann alles zu erzählen. Er hat es akzeptiert. Er hatte auch keine andere Wahl. Sie wissen ja, warum.« Constanze Keilenweger senkte den Kopf ein wenig, während ihre Augen Sebastian weiter ansahen.

Obwohl es ihm unangenehm war, fragte Sebastian: »Wollten Sie es Ihrem Mann heimzahlen?«

Sie schlenderten nebeneinander über den Rasen. »Wahrscheinlich kam die ganze Entwicklung meinem Mann und mir entgegen. Maik und ich waren sehr jung, als wir geheiratet haben. Ich war neunzehn, er einundzwanzig. Wir hatten keine Ahnung vom Leben. Maik hatte später immer mal wieder Affären. Eine Frau wurde durch die nächste ausgetauscht. Am Anfang hat mich das gestört, nachher hat es mich immer weniger gekümmert. Mit dieser Isabelle aber wurde es zum ersten Mal ernst.« Constanze Keilenweger schaute auf ihre Füße. »Es ist doch schon viel, wenn es einem gelingt, eine Zeitlang zusammen glücklich zu sein, meinen Sie nicht?«

»Wie haben Sie von dem Verhältnis zu Isabelle Seidel erfahren?«, fragte Sebastian.

»Maik hat es mir gesagt. Einfach so. Bei einem Cognac. Wir saßen da vorne auf der Terrasse.« Nach einem Moment des Schweigens fuhr sie fort: »Wissen Sie, was mich am meisten verwirrt hat? Das Gefühl der Freude, das mich in dem Moment überkam. Das hat mich beschämt. Viel später habe ich begriffen, was mit mir los war.« Sie schaute Sebastian von der Seite an, als wollte sie sich vergewissern, ob er an der Fortsetzung ihrer Geschichte interessiert war. »Wissen Sie, ich hatte strenge Eltern, bin früh die Ehe eingegangen, habe sehr [130] jung Kinder bekommen, alles nach festen Regeln. Und immer hat mich etwas gestört, aber ich wusste nicht, was es war. Als mein Mann mir dann von seinem Verhältnis erzählt hat, war es, als hätte er ein Spiel umgeworfen und mit ihm alle Regeln. Endlich.« Constanze Keilenweger schaute zum Himmel, als würde sie ihrem Ehemann im Nachhinein noch danken. »Ich habe zum ersten Mal ganz allein eine Reise unternommen. Ich fand es traumhaft. Tja, und dann lernte ich sogar noch Björn kennen.«

In diesem Moment beendete der Schwede seine Runden im Pool und stieg aus dem Wasser. Er schaute zu ihnen herüber, unschlüssig, ob er herkommen sollte oder störte.

»Er ist dreißig«, sagte Constanze Keilenweger, als wollte sie Sebastians Frage zuvorkommen. Sie sagte es mit einer Selbstverständlichkeit, als wären die neunzehn Jahre, die zwischen ihnen lagen, nicht der...