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Verwechseljahre - Roman

Hera Lind

 

Verlag Diana Verlag, 2013

ISBN 9783641091347 , 400 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

1

Nebenan wurde was für dich abgegeben.« Meine Mutter saß mit ihrer Lieblingswolldecke vor dem Fernseher. Sie war gerade einundneunzig geworden und wohnte noch bei mir. Na ja, die Wahrheit war: Ich wohnte noch bei ihr. Das Schicksal hatte es so gewollt, dass wir seit sechsundvierzig Jahren eine eingeschworene Zweck- und Wohngemeinschaft waren. Abgesehen von meinem schrecklichen Aufenthalt in dieser grauenhaften Klinik damals, waren Mutter und ich noch nie länger als drei Tage getrennt gewesen.

»Bei welchem Nebenan?« Schwungvoll stellte ich die Einkaufstüten auf den Tisch und schob Mutter ein Kissen in den Rücken. Bitte sag jetzt nicht: »Bei Rainer«, flehte ich innerlich.

Rainer Maria Frohwein war unser direkter Nachbar im Sechsparteienhaus. Ein früh pensionierter Lehrer, der mich aus irgendeinem Grund vergeblich liebte. Es war wirklich anstrengend, ihm ständig begegnen zu müssen.

»Bei Rainer!«

Ich schluckte. Anscheinend gab es kein Entrinnen. Ich meine, Rainer Frohwein war nett, keine Frage. Aber irgendwas in mir stellte sich quer. Ich konnte auch ohne Rainer leben.

»So ein hilfsbereiter Mann.« Mutter richtete sich auf und lächelte mich an. Im Schein der Nachmittagssonne, die durch den Vorhangspalt fiel, sah ich ihre tausend lieben Fältchen. Sie streckte ihre mageren Hände nach mir aus. »Komm, Kind, setz dich!«

Ich ließ mich auf die Lehne ihres Rollstuhls sinken. Mutters Augen wurden wässrig: »Carin, Liebes. Der Rainer ist doch so ein netter Kerl.«

»Ja, Mutter. Ich weiß.«

»Und er schreibt dir so nette Briefe.«

Ich verdrehte die Augen.

»Mutter, was wurde bei Rainer für mich abgegeben?«

»Ein Zettel. Mit einer Telefonnummer. Ich hatte meine Brille nicht griffbereit, deshalb habe ich zu Rainer gesagt, er soll ihn dir doch nachher selber geben.«

Wenn das nicht ein Trick war. Rainer gab mir ständig Zettel. Da standen Gedichte drauf.

Kostprobe gefällig?

Dort,

wo ich

immer hinwollte –

am Ende

des Regenbogens –

dort

fand ich

dich.

Schön, nicht? Wenn unsere benachbarten Wohnungen im Maiblümchenweg 17 a für ihn das »Ende des Regenbogens« waren – warum nicht. Ich sah darin eher eine Warteschleife. Meine Mutter wollte nur, dass Rainer wieder einen Grund hatte, vorbeizuschauen. Sie hatte einen Narren an ihm gefressen. Klar, er war ein »alleinstehender Mann«, geschieden, gediegen, nett und zuverlässig … leider auch sterbenslangweilig. Seinen Modeberater hätte ich erschlagen können. (Kleiner Scherz: Er hatte keinen. Irgendjemand hatte ihn bereits erschlagen.) Ich versuchte, unseren Nachbarn auf Abstand zu halten, was gar nicht so einfach war.

»Verstehe. Und was ist das für eine Telefonnummer?«

»Keine Ahnung. Laut Rainer hat jemand aus Hamburg bei ihm angerufen, der eigentlich dich sprechen wollte.«

»Wer ist denn so blöd und ruft Rainer an, wenn er mich sprechen will?« Ich lachte auf. Wenn das nicht schon wieder einer seiner Tricks war. »Haben wir etwa kein Telefon?«

»Doch.« Mit zitternder Hand griff Mutter nach dem kleinen Gerät, mit dem sie die Lehne ihres Rollstuhls elektrisch verstellen konnte. Versehentlich fuhr sie erst mal in die Horizontale. »Aber ich hab das Klingeln nicht gehört, mein Hörgerät war nicht an. Und du warst ja nicht da.«

»Nein, Mutter.« Ich fuhr sie wieder in die Sitzposition. »Ich war in der Bibliothek. Wie jeden Tag.« Ich verdrehte die Augen. »Ich arbeite dort. Auch da bin ich telefonisch zu erreichen.« Ich tätschelte meiner Mutter liebevoll die Hand. Manchmal hatte sie den einen oder anderen kleinen Aussetzer. Vielleicht kultivierte sie das aber auch und spielte mir die Verwirrte vor, um ihre Ziele zu erreichen.

»Rainer sagt, der Anrufer war von irgendeinem Verlag.«

Ach so. Jetzt verstand ich, was los war. Ich wollte den Stern abonnieren und hatte irgendeinem Zeitschriftenanbieter auf den AB gesprochen und um Rückruf gebeten. Ich begann, die Einkäufe auszupacken. »Das ist nicht so wichtig, Mutter. Aber erzähl, wie ist es dir heute so ergangen?«

Mutter schilderte mir, was sie den ganzen Tag erlebt hatte. Erst war die Putzfrau da gewesen. Dann war der Briefträger gekommen, anschließend Essen auf Rädern, schließlich war sie vor dem Fernseher eingenickt, bis Rainer wegen dieser Telefonnummer vorbeigeschaut hatte – und schon war der Tag fast wieder vorbei.

»Warum hat Rainer den Zettel nicht einfach hiergelassen?« Leicht verärgert stellte ich Milch und Joghurt mit etwas zu viel Karacho in den Kühlschrank.

»Ich glaube, er will dir einfach mal wieder Hallo sagen.«

Ich seufzte. »Mutter. Bitte hör endlich auf, mich mit Rainer zu verkuppeln.« Mit einem Joghurt und einer Serviette setzte ich mich zu ihr. »Hier. Vanille. Deine Lieblingssorte.« Mutter ließ sich folgsam füttern.

»Er wäre immer für dich da, mein Kind.«

»Ja, ich weiß. Es ist schön, wenn man nette Nachbarn hat.«

»Wenn ich mal nicht mehr bin.«

»Mutter: Erstens bist du noch, und zweitens bin ich erwachsen.«

»Aber du brauchst doch jemanden …« Mutter bekam feuchte Augen. »Du warst doch noch nie allein auf dich gestellt …«

»Aber Mutter!« Ich wischte ihr mit dem Serviettenzipfel eine Träne ab, die sich gerade verselbstständigen wollte. »Was sind denn das heute für düstere Gedanken?«

»Ich habe Angst, dass ich bald abkratze.«

Oh. Dieses Gespräch nahm eine immer unerfreulichere Wendung. »Wir müssen alle eines Tages sterben!«

»Aber ich habe vielleicht nicht mehr lange …« Sie sah mich mit einem verzweifelten Lächeln an.

Ich musste ein Grinsen unterdrücken. Diesen Spruch hörte ich nun seit über dreißig Jahren. Seit dreißig Jahren sagte sie: »Das könnte mein letztes Weihnachten sein. Das könnte mein letzter Frühling sein. Das könnte mein letzter Muttertag sein.« Jeder Feiertag wurde von ihr auf diese Weise anmoderiert.

Jetzt sagte sie weise: »Das könnte mein letzter Sommer sein.«

Mir gefror das Lächeln auf den Lippen. »Dann lass ihn uns doch noch genießen! Komm, ich bringe dich auf den Balkon.«

Energisch zog ich die Vorhänge auf und schob meine Mutter hinaus in die Sonne.

Auf dem Balkon nebenan hantierte Rainer. Im Moment hängte er seine gewaschenen Hemden umständlich auf einen Wäscheständer. Alle hatten dieselbe undefinierbare Form und Farbe und waren von der Marke »Keiner wäscht Rainer«. Rainer war immer zufällig auf dem Balkon, wenn unsere Balkontüre aufging. Er schien eine Art Frühwarnsystem in seiner Wohnung zu haben: Achtung, die Nachbarbalkontür! Wenn das Alarm schlug, flitzte er aus seinem Bau, um Witterung aufzunehmen. Ich warf einen Blick auf seine unsägliche Wachstuchtischdecke, auf der seine Kakteensammlung stand. »Hallo«, sagte ich freundlich.

»Oh, Carin, gut, dass ich dich sehe!« Rainer wurde ein bisschen rot. »Grüß Gott, Frau Bergmann!«, begrüßte er meine Mutter artig.

»Er ist so ein netter Mann!«, flüsterte die mir unüberhörbar zu. »Er braucht dringend eine Frau im Haus!«

»Mutter!«, zischte ich zurück. »DENK nicht mal dran!«

Das hatte er gehört.

Seine Unterlippe zitterte leicht, und er steckte die Hände in die Taschen seiner ausgebeulten Cordhosen. Sein schütterer Haarkranz lag wie ein verdorrter Adventskranz um seine Glatze. Rainer sah irgendwie rührend aus in seinem eingelaufenen Wollpullunder über dem angegrauten Hemd, das er wahrscheinlich mit der Buntwäsche in die Maschine getan hatte. Der Kragen wellte sich wie eine Wurstscheibe, die zu lange in der Sonne gelegen hat. Ich musste mich schwer beherrschen, ihn nicht in Form zu ziehen. Aber das hätte eindeutig ein falsches Signal gesetzt. Ich räusperte mich, bemühte mich um einen neutralen Nachbarinnen-Ton.

»Mutter sagt, du hast eine Nachricht für mich?«

»Ja. Hier.« Mit zitternden Fingern reichte Rainer mir den Zettel. Ich erkannte seine Handschrift auf Anhieb, schließlich war sie mir wohlvertraut.

Zwischen

gestern und heute

habe ich dich

ganz deutlich

an mir

gespürt –

auch wenn da

noch eine gewisse

Entfernung war.

Aha. Die Entfernung betrug zwar nur wenige Zentimeter in Form einer Wohnungszwischenwand, aber er meinte wahrscheinlich eher meine freundliche, aber unwiderrufliche Distanziertheit, die er einfach nicht akzeptieren wollte. Der letzte Brief, den er mir zugesteckt hatte, lag mir noch schwer im Magen:

Nichts,

was im Kopf entsteht,

ist

unveränderlich.

Aber

meine Liebe zu dir

entstand im Herzen.

Auf seine Art war Rainer Frohwein wirklich bezaubernd, aber er war weit davon entfernt, mein Traummann zu sein. Mutter hingegen fand sein altmodisches Werben einfach nur hinreißend.

»Wer schreibt denn heute noch so wundervolle Gedichte?«, sagte sie immer wieder. »Und dann noch in dieser wunderbaren Handschrift. Jeder normale Mann benutzt inzwischen den Computer!«

Tja, wo sie recht hatte, da hatte sie recht. Natürlich war es romantischer, seine Angebetete mit grüner Tinte zu besingen, statt ihr eine SMS oder eine...