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Berlin liegt im Osten

Nellja Veremej

 

Verlag Jung und Jung Verlag, 2013

ISBN 9783990271049 , 318 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

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Erst am Ende der Wolfsstunde, als im Osten schon ein vages Licht entfacht wird, schlafe ich ein und stehe viel später als sonst auf. Es ist heller Tag, ich schiebe die orangefarbenen Gardinen auseinander. Über meinem Haus in der Nähe des Berliner Alexanderplatzes schwebt der Fernsehturm, immer noch ein Meilenstein an der unsicher punktierten und imaginären Grenze zwischen dem Osten und dem Westen. Zwischen zwei Hemisphären? Vielleicht.

Im Bad ist es dunkel und kühl. Die Füße frieren auf dem karierten Boden, der Griff zum Lichtschalter macht der Glühbirne den Garaus. Erschrocken durch die kleine Explosion, tappe ich durchs gekachelte Dunkle und vermeine wieder eine Botschaft aus der fernen Kindheit zu spüren, aus jenem Pionierlagermorgen, wo es nach bulgarischer Zahnpasta duftete, wo die Wasserhähne eiserne Kreuze trugen und die emaillierten Becken ihre rostigen Tränen fließen ließen. Die abgeschabten Holzdielen der Terrasse waren samtig wie die Haut eines Säugers, und sie wärmten die kalten Fußsohlen. Wenn die Sonne meiner Kindheit hoch stand, rochen die staubigen Haare nach Spatzen, und die junge Indianerhaut schimmerte mit leisem Goldflaum im Gegenlicht, als ich, erstarrte Wachhabende, meine Hand an den Pony warf: Die Pioniergruppe ‚Richard Sorge‘ ist zum Morgenappell bereit! Unsere Losung ist: ‚Nicht schwelen! Brennen! Leuchten!‘

Damals wollte ich, dass das Leben so schnell wie möglich passiert. Und hier, im verschwitzten Morgenspiegel, komme ich mir wie eine alte Tante vor, mit Rinnen an den Schultern, die mir Hunderte BH-Träger in die Haut geschnitten haben. Noch gestern hieß es, es liegt alles vor mir und alles ist möglich, und über die Nacht stehen mir keine Wunder und Überraschungen mehr bevor. Ich bin ausgewachsen, fertig gestellt. Ich werde keine Stewardess mehr, keine Professorin, keine Diva. Diese Optionen stehen aber Marina, meiner Tochter, noch offen: Sie ist achtzehn, sie will irgendwann Regisseurin werden oder Designerin, und nicht Altenpflegerin wie ich. Tag für Tag drehe ich große und kleine Runden um den Alexanderplatz, besuche die alten Menschen und fange ihre schwindenden Schatten auf. Während ich ihren Erinnerungen zuhöre, kämme ich ihre schwachen Nylonhaare oder schneide ihre zähen Plastiknägel. Manchmal mag ich meine Arbeit sogar. Meiner Mutter aber, die jetzt bei mir zu Besuch war, habe ich gesagt, dass ich als Russischlehrerin arbeite. Nicht viele Stunden, aber es ist nette Kundschaft und so. Mir ist es peinlich, dass ich hier im Paradies nicht so weit gekommen bin wie erhofft. Und dass ich die fremden Alten mit dem Löffel füttere, während meine eigene Mutter irgendwo im weiten Osten allein in ihrem weißen, einäugigen Häuschen sitzt.

Sie besucht uns immer im Winter, wenn der Garten ihre Fürsorge nicht braucht. Jedes Jahr, wenn wir uns sehen, hat ihr Körper weiter nachgegeben. Dieses Mal war es die rechte Hand – wie ein bräunliches Ziegeldach verkrümmt ist sie, und steif wie eine Krebsschere. Das war das erste, was mir auffiel, als Marina und ich sie am Ostbahnhof abholten. Sie stand auf der hohen eisernen Waggontreppe und streckte uns ihre alten Hände entgegen, so wie es kleine Kinder tun, die im Begriff sind, sich in die Arme der Großen fallen zu lassen.

In meinem Erwachsenen-Leben war meine Mutter kaum präsent: Früh entschlüpfte ich dem Elternhaus, weil ich nicht so werden wollte wie meine peinlich provinziellen Ahnen, Verwandten und Nachbarn. Ich eilte weg, den wunderbaren Dingen entgegen, die mein Herz im Voraus zu schmecken glaubte. Mit Siebenmeilenstiefeln habe ich etliche Grenzen und Gräben überquert, eine Revolution gefeiert, meinen Kaschmirmantel abgetragen, tausende Avocados verzehrt, Dutzende von Wurstsorten gekostet, und nun bleibe ich immer öfter stehen und schaue zurück.

Plötzlich werden mir viele Menschen aus meinem ehemaligen Leben wieder wichtig, und ich schaue nach Osten, wo sich verschwommene, vage Gesichter tummeln. Es sind die Onkel mit den weißen Hemden und den beißenden Papirossy, oder rundliche, scheue Tanten mit dicken Waden und geblümten Kleidern, die sich um eine festliche Tafel reihen. Auf dem Tisch Tomaten, Gurken, erschwingliche Cervelatwurst, Hähnchen mit obszön ausgebreiteten Schenkeln und eine langhalsige, mit einer silbernen Schirmmütze gekrönte Flasche. Wenn die Flasche leer ist, rücken die Frauen enger zusammen und singen, während die Männer sich um eine Sensation sammeln: Ein nagelneuer Moskwitsch mit kecken und spitzen Trabant-Flossen am Heck.

Die Menschen erscheinen mir immer zusammen zu sein wie die Beeren bei den Weintrauben. Einsamkeit war ein rares Gut in den übervölkerten Räumlichkeiten, und ich phantasiere mir zusammen, dass sie sich alle auch wirklich geliebt haben. Das muss aber nicht wahr sein, denn das Ganze ist nichts mehr als ein Stummfilm, an dessen Montage mein launisches Gedächtnis jahrelang hartnäckig gearbeitet hat. Aus diesem Film scheint mir die Mutter ihre alten, verbogenen Hände entgegengestreckt zu haben, heraus ins heutige Berlin. Ich nahm sie in meine, und sie landete auf dem Bahnsteig des leeren Ostbahnhofes. Die Griffe ihrer schweren Taschen teilten wir uns, und so, verbunden wie die Glieder einer Kette, zwängten wir uns in den S-Bahn-Waggon.

Zu Hause aßen wir erst eine dicke, mohnrote Kürbissuppe und dann kleine, weiße Nürnberger Würstchen. Meine Mutter isst sie sehr gerne, Marina rümpft dabei immer ihre Nase. Was Augen hat, isst man nicht!

Ich habe etwas für euch! Meine Mutter ging ins Zimmer und händigte uns jeweils einen chinesischen Fächer aus dünnem Holz aus.

Sie können ganz nützlich sein bei der Hitze, sagte sie, wegen der Klimaerwärmung. Ein gewaltiger Riss breitet sich schon unaufhaltsam im Gletschereis aus, demnächst wird ein Riesenstück von der Antarktis abbrechen!

Sie redet viel über Weltuntergang, detailgetreu und glaubwürdig. Wie Inseln in erwärmten Gewässern versinken, Küsten von Stürmen weggefegt werden, das Binnenland verbrennt. Selig sind die Erstgestorbenen, denn diese können noch anständig begraben und beweint werden. Selig werden die Vernachlässigten und geistig Armen sein, denn im Kampf um den letzten Brotkrümel wird ihnen die ungehemmte Kraft ihrer Ellbogen zum Vorteil gereichen – die Letzten werden die Ersten sein. Das Salzwasser wird unsere Quellen und Flüsse vergiften, Fische werden in den zu warmen Gewässern ersticken, Bienen sterben, Bären und Rehe auch – nur der Menschenschwarm wird sich auf der schrumpfenden Erde immer dichter zusammendrängen und immer eifriger an rasenden und fliegenden Maschinen schmieden, und diese werden wie Insektenschädlinge mit harten glatten Chitinrücken die restliche Erde befallen, um den letzten Hinterbliebenen Profit, Mobilität und Komfort zu gewährleisten.

Beim Weltuntergang kommt es sowohl aufs Auto als auch auf das Fleisch an! Ich wünschte mir, dass die Fleischfresserei mit dem Kannibalismus gleichgesetzt wird! – Marina löffelte die rote Suppe und schaute dabei verächtlich mein angebissenes Würstchen an. Wieder entflammt eine feurige Diskussion. Marina sagt, es sei dringend ein Paradigmenwechsel erforderlich, denn unsere heutige Lebensweise sei unzeitgemäß und so empörend, wie es seinerzeit Inquisition und Sklaverei waren. Oder nehmen wir nur die kommunistischen oder faschistischen Regime in ihren Endphasen, als schon offensichtlich wurde, dass das alles moralisch nicht trägt, dass das Schiff eine fatale Schlagseite bekommt. Trotzdem haben fast alle mitgemacht … So wie die heutigen Autofahrer, Spaßflieger und Fleischfresser!

Worauf ich meine Gabel auf den Teller warf und Marina mit vor Wut gedämpfter Stimme fragte, ob sie mich mit einer Faschistin gleichsetzten wolle?

Da eilte mir meine Mutter zur Hilfe und leitete die Diskussion von meinem Würstchen weg zum durchschnittlichen amerikanischen Bürger, der ein Champion im Wasser-, Strom-, Benzin- und Fleischverbrauch ist und der das Klimaabkommen nicht unterschreiben will.

Einkaufspaläste, tausende Quadratkilometer lang, offene Tiefkühltruhen, bescheuerte Kreuzfahrten! Amerikanischer Traum für alle! Und notabene – sie befördern ihre wohlgenährten Körper ausschließlich mit Personenkraftwagen!

Das zählt alles nicht! Was zählt, ist mein Würstchen!, biss ich erbost in das weiche Ding auf meiner Gabel, und es blieb mir buchstäblich im Hals stecken.

Um uns abzulenken oder zu beschwichtigen, legte meine Mutter ihre gekrümmten Hände auf unsere und berichtete, dass wir hier ganz nah an Satans Thron sitzen, und dieser befinde sich, laut Bibel, im Tempel von Pergamon. Es sei auch bewiesen, dass da Menschenopfer dargebracht wurden – für ein Huftier ist die Treppe zum Altar zu steil, die Stiege zu kurz. Kein Wunder, dass die zwei Weltkriege von Berlin aus angestiftet wurden – das Ungetüm strahle immer noch Unheil aus und sei gefährlich, vor allem wenn die letzten Tage so nah seien, orakelte meine Mutter. Das Fegefeuer kommt bald, sagt Vater Michail. Am 15....