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Wie ein einziger Tag - Roman

Nicholas Sparks

 

Verlag Heyne, 2013

ISBN 9783641060091 , 256 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

Gespenster


Es war Anfang Oktober 1946, und Noah Calhoun beobachtete auf seiner Veranda, wie die Sonne sich langsam neigte. Er saß gern abends hier, vor allem nach einem harten Arbeitstag; dann ließ er seine Gedanken schweifen, ließ ihnen freien Lauf. So entspannte er – eine Gewohnheit, die er von seinem Vater übernommen hatte.

Besonders gern betrachtete er die Bäume, die sich im Fluss spiegelten. Die Bäume in North Carolina sind atemberaubend in ihrer Herbstfärbung – Grün, Gelb, Rot und Orange in allen denkbaren Schattierungen. Ihre Farbenpracht leuchtet im späten Sonnenlicht, und wohl zum hundertsten Male fragte sich Noah Calhoun, ob die ersten Bewohner des Hauses ihre Abende mit ähnlichen Gedanken zugebracht hatten.

Das Hauptgebäude, 1772 errichtet, hatte zu einer Plantage gehört und zählte zu den ältesten und größten Landhäusern in New Bern. Noah hatte es gleich nach dem Krieg gekauft und die letzten elf Monate sowie ein kleines Vermögen gebraucht, um es zu renovieren. Ein Reporter von der Raleigher Tageszeitung hatte vor wenigen Wochen in einem Artikel darüber berichtet und geschrieben, es seien die gelungensten Renovierungsarbeiten, die er je gesehen habe. Das mochte zutreffen, wenigstens für das Haus. Der restliche Besitz war eine andere Geschichte, und damit hatte Noah die meisten Stunden des Tages zugebracht.

Zum Haus gehörte ein etwa zehn Hektar großes Grundstück, das an den Fluss, den Brices Creek, grenzte. An den anderen drei Seiten musste der Holzzaun ausgebessert, nach Trockenfäule oder Termiten abgesucht und an manchen Stellen völlig erneuert werden. Damit war er die letzten Tage vor allem beschäftigt gewesen, und es gab noch eine Menge zu tun, besonders an der Westseite. Als er vor einer halben Stunde sein Werkzeug zur Seite legte, hatte er sich vorgenommen, beim Lager anzurufen und eine weitere Holzlieferung zu bestellen. Er ging ins Haus, trank ein Glas gesüßten Tee und duschte. Er duschte jeden Abend, und mit dem Wasser wurden sowohl der Schmutz als auch die Müdigkeit fortgespült.

Danach kämmte er sein Haar zurück und schlüpfte in saubere verblichene Jeans und ein langärmeliges blaues Hemd. Er schenkte sich ein weiteres Glas Tee ein und ging auf die Veranda zurück, wo er sich, wie jeden Abend, niederließ.

Er streckte die Arme aus, über den Kopf, dann zu beiden Seiten und rollte kräftig mit den Schultern, auch das eine alte Gewohnheit. Er fühlte sich gut, sauber und frisch. Seine Muskeln waren müde und würden morgen etwas schmerzen, doch er war zufrieden mit dem, was er an diesem Tag geleistet hatte.

Er griff nach seiner Gitarre, dachte dabei an seinen Vater und wie sehr er ihm fehlte. Er schlug langsam einen Akkord an, stimmte zwei Saiten nach, schlug einen weiteren Akkord an. Dann begann er zu spielen. Sanfte Klänge, ruhige Klänge. Er summte eine Weile und fing erst, als die Dämmerung hereinbrach, laut zu singen an. Er spielte und sang, bis der Himmel vollständig dunkel war.

Es war kurz nach sieben, als er die Gitarre zur Seite legte. Er nahm wieder in seinem Schaukelstuhl Platz und wiegte sich langsam vor und zurück. Und wie immer blickte er hinauf, sah den Orion, den Großen Bären, die Zwillinge und den Polarstern am Herbsthimmel schimmern.

Er rechnete im Kopf seine Ausgaben zusammen, hielt dann inne. Er hatte fast seine gesamten Ersparnisse für das Haus aufgebraucht und würde bald eine neue Stellung suchen müssen. Doch er schob den Gedanken beiseite und beschloss, die restlichen Monate der Hausrenovierung zu genießen, statt sich Sorgen zu machen. Die Rechnung würde schon aufgehen, so wie immer. Außerdem langweilte es ihn, über Gelddinge nachzudenken. Er hatte schon früh gelernt, sich an den einfachen Dingen des Lebens zu erfreuen, an Dingen, die nicht käuflich sind, und es fiel ihm schwer, Menschen zu verstehen, die anders dachten und fühlten. Auch das war ein Charakterzug, den er von seinem Vater hatte.

Seine Jagdhündin Clem kam herüber und beschnupperte seine Hand, bevor sie sich zu seinen Füßen niederließ. »He, Mädchen, alles in Ordnung?« Er streichelte ihren Kopf, und sie winselte zur Antwort, die sanften runden Augen auf ihn gerichtet. Bei einem Autounfall war ihr ein Hinterbein überfahren worden, doch sie konnte trotzdem noch ganz gut laufen und leistete ihm an ruhigen Abenden wie diesem Gesellschaft.

Er war jetzt einunddreißig, nicht zu alt, doch alt genug, um einsam zu sein. Er war nicht mehr ausgegangen, seitdem er wieder hierher zurückgekommen war, hatte niemanden kennengelernt, der ihn interessierte. Es war seine Schuld, das wusste er. Es gab etwas, das einen Abstand zwischen ihm und jeder Frau entstehen ließ, die ihm näherkommen wollte, etwas, das er nicht glaubte ändern zu können, selbst wenn er es gewollt hätte. Und manchmal, kurz vor dem Einschlafen, fragte er sich, ob es sein Schicksal war, für immer allein zu sein.

Der Abend blieb angenehm warm. Noah lauschte den Grillen und dem Rauschen der Blätter und dachte, dass die Laute der Natur wirklicher waren und tiefere Gefühle auslösten als Dinge wie Autos und Flugzeuge. Natürliche Dinge gaben mehr, als sie nahmen, und ihre Geräusche erinnerten ihn stets daran, wie der Mensch eigentlich sein sollte. Es hatte Zeiten gegeben während des Krieges, vor allem nach einem Großangriff, in denen er sich oft diese simplen Geräusche vorgestellt hatte. »Es wird dir helfen, nicht den Verstand zu verlieren«, hatte ihm sein Vater am Tag seiner Einschiffung gesagt. »Es ist Gottes Musik, und sie wird dich heil zurückbringen.«

Er trank seinen Tee aus, trat ins Haus, holte sich ein Buch und machte, als er wieder nach draußen ging, das Verandalicht an. Er setzte sich und betrachtete das Buch auf seinem Schoß. Es war alt, der Deckel war halb zerfetzt, und die Seiten waren mit Wasser- und Schmutzflecken übersät. Grashalme von Walt Whitman, er hatte den Band während der ganzen Kriegsjahre bei sich gehabt. Einmal hatte das Buch sogar eine für ihn bestimmte Kugel abgefangen.

Er strich über den Einband, wischte den Staub ab. Dann schlug er das Buch aufs Geratewohl auf und begann zu lesen:

Dies ist deine Stunde, o Seele, dein freier Flug in das Wortlose,

Fort von Büchern, fort von der Kunst, der Tag ausgelöscht, die Aufgabe getan,

Du tauchst empor, lautlos, schauend, den Dingen nachsinnend, die du am meisten liebst,

Nacht, Schlaf, Tod und die Sterne

Er lächelte still vor sich hin. Irgendwie erinnerte Whitman ihn immer an New Bern, und er war froh, wieder hier zu sein. Vierzehn Jahre war er von hier fort gewesen, dennoch war dies seine Heimat, und er kannte eine Menge Leute hier, hauptsächlich aus seiner frühen Jugend. Das war nicht verwunderlich. Wie in so vielen Städten des Südens änderten sich ihre Bewohner kaum, sie wurden nur ein wenig älter.

Sein bester Freund war Gus, ein siebzigjähriger Schwarzer, der etwas weiter die Straße hinunter wohnte. Sie hatten sich zwei Wochen nach Noahs Hauskauf kennengelernt. Gus hatte eines Abends mit einer Flasche selbst gebranntem Schnaps vor der Tür gestanden, und die beiden hatten sich ihren ersten gemeinsamen Rausch angetrunken und sich bis spät in die Nacht Geschichten erzählt.

Von da an tauchte Gus etwa zweimal die Woche auf, gewöhnlich gegen acht Uhr abends. Mit vier Kindern und elf Enkelkindern im Haus brauchte er ab und zu unbedingt einen Tapetenwechsel. Meist brachte er seine Mundharmonika mit, und wenn sie eine Weile miteinander geredet hatten, spielten sie ein paar Lieder zusammen. Manchmal spielten sie viele Stunden.

Er betrachtete Gus bald als eine Art »Familienersatz«, denn er hatte sonst niemanden, seitdem sein Vater im letzten Jahr gestorben war. Er besaß keine Geschwister; seine Mutter war gestorben, als er zwei war, und er hatte, obwohl er es einmal wollte, auch nie geheiratet.

Einmal aber hatte er geliebt, daran gab es keinen Zweifel. Einmal, nur einmal und das vor langer Zeit. Und es hatte ihn für immer verändert. Wahre Liebe verändert den Menschen, und es war echte Liebe gewesen.

Kleine Wölkchen trieben von der Küste her über den Abendhimmel, wurden silbrig im Schein des Mondes. Als sie dichter wurden, legte er den Kopf auf die Rückenlehne des Schaukelstuhls. Seine Beine bewegten sich automatisch, hielten den Rhythmus bei, und wie fast jeden Tag, schweiften seine Gedanken zu einer ähnlich warmen Nacht, die vierzehn Jahre zurücklag.

Es war 1932, kurz nach seiner Reifeprüfung, am Eröffnungsabend des Neuse River Festival. Die ganze Stadt war auf den Beinen, amüsierte sich bei Tanz und Glücksspiel oder an den Getränkeständen und Bratspießen. Es war schwül an jenem Abend, daran konnte er sich noch genau erinnern. Er war allein gekommen, und als er, auf der Suche nach Freunden, durch die Menge schlenderte, sah er Fin und Sarah, mit denen er zur Schule gegangen war, mit einem Mädchen plaudern, das er noch nie gesehen hatte. Sie war sehr hübsch, das war sein erster Gedanke gewesen, und als er sich seinen Weg zu ihnen gebahnt hatte, schaute sie mit ihren betörenden Augen zu ihm auf. »Hallo«, sagte sie einfach und streckte ihm die Hand entgegen. »Finley hat mir viel von dir erzählt.«

Ein ganz gewöhnlicher Beginn, den er, wäre sie es nicht gewesen, längst vergessen hätte. Doch als er ihr die Hand schüttelte und sein Blick in ihre smaragdgrünen Augen tauchte, wusste er, bevor er den nächsten Atemzug tat, dass sie für ihn die Richtige, die Einzige war und es auch immer sein würde. So gut schien sie, so vollkommen, und der Sommerwind rauschte in den Bäumen.

Von da an ging alles rasend schnell. Fin...