dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Englischer Harem

Anthony McCarten

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257603255 , 592 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

11,99 EUR


 

[27] Fleisch

Auf die eine oder andere Weise war Fleisch von jeher der bestimmende Faktor im Leben von Saaman Sahar gewesen, dem Besitzer des Persischen Gartens.

Saaman, der redselige Sohn eines gewissen Mostafa Sahar, eines bekannten Schlachters in Teheran, war im Schatten des Hackbeils aufgewachsen. Das dumpfe Geräusch, wenn der Stahl auf den massigen hölzernen Hackklotz traf, war seine früheste und stärkste Erinnerung. In den späten fünfziger Jahren war der Junge auf dem sengend heißen Markt des Meidan-e-tareh-bar seinem Vater nicht von der Seite gewichen.

Da er als Kind immer klein war – selbst jetzt als Erwachsener brachte er es nur auf eins fünfundsechzig –, hatte er von dem eigentlichen Schlachten nie viel sehen können, doch das erbarmungslose Geräusch des Hackbeils hinterließ tiefe Spuren in seiner Seele und besiegelte sein Schicksal.

Um die Mitte der siebziger Jahre – sein Vater hatte es zu Wohlstand gebracht, besaß eine ganze Kette von Läden, und der Marktstand existierte nur noch in nostalgischer Erinnerung – wurde Saaman wie viele seiner Generation unter beträchtlichen Unkosten auf eine westliche Universität geschickt, um sich die heiligen Lehrsätze der [28] Keynesianischen Ökonomie anzueignen. Alle gingen davon aus, dass er nach dem Examen in die Heimat zurückkehren würde, um dort in die Fußstapfen seines Vaters zu treten, den Familienbetrieb weiter auszubauen und zu modernisieren und so als Speerspitze des Fortschritts Zugang zur gesellschaftlichen Elite des modernen Teheran zu finden.

Aber in England geschahen zwei Dinge.

Als Erstes entwickelte er eine Vorliebe für alles Englische. Geistig erfrischt von der kühlen Luft in Oxford, fand er dieses Land den besten Ort für seine Tatkraft und sein Kapital. England, die Heimat aller höflichen Umgangsformen, der Inbegriff des gesunden Menschenverstands, die fortschrittlichste und charismatischste Kultur, die der Westen vorzuweisen hatte.

Mit der unbeirrbaren Zielstrebigkeit der Jugend ließ er sein ästhetisches Empfinden vom Anblick eines Sonnenuntergangs über den sanften Hügeln der Cotswolds prägen, der Duft des englischen Waldes nach einem Regenschauer setzte die Maßstäbe für seinen Geruchssinn, und ein warmes englisches Bier nach einem langen Spaziergang war für ihn der Gipfel des Wohlgeschmacks. Er idealisierte England über alle Maßen. Mit dem sentimentalen Blick eines John Constable machte er es zur Heimat seiner Seele.

Als er seiner Mutter dieses Märchenland schilderte, schrieb sie zurück: »Wenn du so denkst, kannst du gleich ganz dableiben.«

Dabei war sie stolz auf ihren Sohn, prahlte bei jeder Gelegenheit damit, dass die Sahars es sich jetzt leisten konnten, ihren Ältesten an der »bedeutendsten Universität der Welt« studieren zu lassen; ja sie glaubte selbst an die [29] kulturelle Überlegenheit des Westens, aber sie wollte doch nicht ihren Sohn an ein degeneriertes, sittenloses Leben verlieren. Der Westen hatte keinen Sinn für die Seele. In diesen Dingen konnte man nichts von ihm lernen. Was sie verehrte, fürchtete sie zugleich. Mochte ihr Sohn England ruhig vergöttern, aber bald würde er wieder zu Hause sein, und das ohne Bedauern.

Der zweite Vorfall, der sein Leben erschütterte, ereignete sich nach einer Kricketpartie am Christ Church College in Oxford.

Als er nach einem trägen Eintagesmatch, bei dem er und seine Kommilitonen ein gepflegtes Unentschieden erreicht hatten, an seinem Earl-Grey-Tee nippte, geschah das Unvorstellbare.

An dem fraglichen Nachmittag – die Anzeigetafel zeigte fünfundzwanzig Runs hinter dem Namen SAHAR S. – entschied das Los, dass er für alle das Mittagessen spendieren sollte: Fleischpastete. Woher hätte er wissen sollen, was ihm bevorstand, als er hungrig die Füllung aus Rindfleisch und Nieren hinunterschlang, die in der Teighülle vor sich hinmoderte? Und wie hätte er ahnen können, was für eine Kettenreaktion dieses sommerliche Picknick in seinem Leben auslösen würde?

Die Wirkung ließ nicht lange auf sich warten. Eine Salmonelleninfektion setzte ihn drei Wochen lang außer Gefecht. Der Flüssigkeitsverlust durch Erbrechen und explosionsartigen Durchfall war so hoch, dass er ins Krankenhaus kam und unter intensive Beobachtung gestellt wurde. Man benachrichtigte sogar seine Eltern. Er verlor zwölf Kilo, als seien sie Ballast, den man einfach über Bord werfen konnte. [30] Er rang mit dem Fieber. Und irgendwann im Delirium wurde ihm die Vorstellung von Fleisch unerträglich. Danach konnte er nicht einmal mehr an Fleisch denken, ohne dass aus seinem Zwölffingerdarm eine Gasblase aufstieg. Allein die Vorstellung, er könne an die Seite seines Vaters zurückkehren, in die dampfenden Läden mit dem unablässigen dumpfen Wumm-Wumm-Wumm, den aufgerissenen Mäulern und Kadavern aus Fleisch und Knochen, reichte aus, um ihm jede Mahlzeit aus schonend gedämpftem Gemüse und frischen Salaten wieder hochkommen zu lassen. Nur mit größter Anstrengung konnte er das Würgen unterdrücken.

In den Augen der Daheimgebliebenen war er natürlich ein Versager. Seine Postkarten wurden verbrannt. Ein Sahar, der kein Fleisch aß? Eine unverzeihliche Schande.

Bei der Rückkehr nach Teheran erklärte Saaman (der sich inzwischen lieber mit Sam anreden ließ, weil das englischer klang, und der zu allem Überfluss einen Abschluss in Englischer Literatur in der Tasche hatte) seinem Vater, er wolle lieber ein vegetarisches Restaurant aufmachen.

Messer, Hackklötze und Wetzsteine landeten unter Getöse auf der Straße vor dem neuesten Laden der Saharschen Metzgereikette. Erst nach Stunden ließ das Gebrüll nach. Dass Saaman an diesem Tag nicht Bekanntschaft mit der Klinge eines Hackbeils machte, verdankte er weniger der Beherrschung des alten Mannes als dessen nachlassenden Kräften. Sein Vater kehrte ihm den Rücken und ging in seinem weiten Nadelstreifenanzug gebeugt von dannen. Dabei hinterließ er eine blutige Fußspur auf dem grauen Zementboden. Sam betrachtete die Abdrücke: Sie wurden mit jedem Schritt schwächer, der Stempel musste zurück [31] aufs Stempelkissen, ein Abbild des allmählichen Niedergangs seiner Familie, ein Vorbote für das Ende des alten Mannes.

Von diesem Tag an ging es mit Mostafa bergab. Kaum einen Monat später erlitt er einen leichten Schlaganfall, und bis an sein Ende würde er nicht begreifen, wie sein Sohn eine so abartige Vorliebe für Gemüse entwickeln konnte. Als es Zeit war, sich zur Ruhe zu setzen, kam eine weitere, noch größere Sorge dazu: Er hatte keinen Erben. Sams jüngere Brüder waren beide noch nicht alt genug, um das Familienimperium zu übernehmen. Er hatte keine Wahl.

»Da gehen sie hin, tausend Jahre Patriarchat, und nur wegen einer englischen Pastete«, verkündete er.

Die Läden wurden einzeln zum Verkauf angeboten und rasch versteigert, zu Preisen, die weit über den Mindestgeboten lagen, denn nichts galt in Teheran als so sicher wie ein weiteres Jahrtausend Fleischtöpfe und Bratpfannen. Aber der plötzliche Überfluss an Bargeld war nur ein schwacher Trost für Mostafa, für den Fleisch gleichbedeutend mit Leben war und umgekehrt. Das konnte man nicht einfach so wegwerfen. In ihrem letzten Streit darüber versuchte der alte Mann, seinen Sohn vor der göttlichen Vergeltung zu warnen.

»Ohne einen Bissen Fleisch im Bauch bist du schon so gut wie tot. Hör auf die Stimme deiner Vorfahren. Du bist nicht dazu geschaffen, dich von Gemüse zu ernähren. Ein solcher Mann ist eine Null!«

Sein Vater rollte sanft aufs Abstellgleis, und seine Mutter verbrachte ihre Tage in verdunkelten Zimmern. Doch inzwischen wuchs und gedieh Sams Restaurant, weit besser [32] als er je geglaubt hatte. Er gewann Geldgeber für einen Markt mit Zukunft. Mit der Eröffnung eines zweiten und dritten Lokals profitierte er von der Begeisterung für alles Westliche in der Regierungszeit des letzten Schahs. Seine Gemüseburger zum Mitnehmen waren bald der letzte Schrei in Tausenden trendbewussten Haushalten Teherans. Er bescherte seiner Generation Pommes frites und Ketchup. Der Höhepunkt seiner Karriere war der Kauf eines legendären Restaurants im Herzen von Teheran, wo Stalin, Churchill und Roosevelt 1943 beim Lunch die Rückeroberung Europas geplant hatten. Er war so erfolgreich, dass man ihn – zu Unrecht – für einen Playboy hielt.

Aber als er den Ayatollah Khomeini in seinem Exil zum ersten Mal im Fernsehen sah, wusste er, dass die Party zu Ende war. Er hörte den flammenden Aufruf zur Erneuerung der religiösen Werte, zum Kampf gegen die Korruption durch die Eliten und erkannte die Zeichen der Zeit. Das Antlitz des Irans würde sich über Nacht verändern, und für jemanden, der, wie er, gefangen war zwischen zwei unvereinbaren Welten – vor einer wichtigen Entscheidung las er bisweilen im Koran, aber in England hatte er Madrigale in einer anglikanischen Kirche gesungen –, war es nicht mehr der richtige Ort. Er beschloss, zu gehen, wenn er sein Vermögen irgendwie mitnehmen konnte.

Wie vorher die väterlichen Läden kamen seine Restaurants schnell unter den Hammer und erzielten einen guten Preis. Für kurze Zeit war er reich. Die neuen Besitzer, junge Unternehmer, die das schnelle Geld witterten und kein Gespür für den gesellschaftlichen Wandel hatten, hielten die Anzeichen eines Aufstands für das übliche Gejammer der [33] Unterschicht. Jahre später hörte Sam, dass sie bei dem Umsturz alles verloren hatten.

Auch seine besten Freunde kümmerten sich nicht um die Zeichen der Zeit und fuhren mit ihren italienischen Autos weiterhin viel zu schnell, ohne...