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Leise Musik hinter der Wand

Viktorija Tokarjewa

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257603057 , 144 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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17,99 EUR


 

 

 

 

 

 

[5] Als Ariadna das Licht der Welt erblickte, war ihre Mutter Lisa zwanzig, ihre Großmutter fünfundvierzig und ihr Großvater fünfundsechzig Jahre alt.

Alle liebten einander: Der Großvater und die Großmutter waren ganz vernarrt ineinander, sie setzten sämtliche Hoffnungen ihres Herzens auf ihre Tochter Lisa, und alle im Chor begrüßten und liebten sie das neugeborene kleine Mädchen Ariadna. Ariadna, so hatte auch die Mutter des Großvaters geheißen, die Gräfin Ariadna Scheremetjewa.

Die Sache war die, dass Großvater und Großmutter zu den ›Ewiggestrigen‹ gehörten. Ihre Vorfahren waren aus einem weitverzweigten, reichen und kultivierten Adelsgeschlecht hervorgegangen. Dieses Geschlecht hätte wohl noch lange weiter blühen und gedeihen können, doch die Revolution des Jahres 1917 hatte dem ein Ende gesetzt.

Der Großvater verbarg seine Herkunft sorgsam. Er war, gezwungenermaßen, Konformist. In jenen Jahren die Wahrheit zu bekennen, hätte unweigerlich geheißen, das Leben zu verlieren. Und das Leben ist mehr als die Wahrheit. Das Leben lässt die Wahrheit [6] erst entstehen. Wenn du das Leben selbst verlierst, wer braucht dann noch deine Wahrheit? Wahrheit ist nur ein Wort, das Leben aber ist von Gott gegeben, und nur Gott allein darf es für null und nichtig erklären. So jedenfalls dachte der Großvater. Und sowieso lebte er am liebsten unabhängig von Gesellschaftsordnungen und deren Begriffen von Gerechtigkeit.

In seiner Jugend hatte der Großvater gesungen: ›Gott, schütze den Zaren‹, als Erwachsener musste er singen: ›Wir stammen alle aus dem Volke‹. Aber was war schon dabei? Der Großvater hatte ein gutes Gehör und eine schöne Stimme und wurde sogar zum Vorsänger bestimmt.

Die Eltern der Großmutter waren Großgrundbesitzer gewesen. Nach der Revolution sagte die Großmutter immer, dass sie Landwirte waren. Das war gelogen, aber nicht ganz. Ein gut ausgebildeter Großgrundbesitzer kannte sich mit Landwirtschaft aus, und so waren sie, in gewissem Maße, tatsächlich Landwirte. Den Familiennamen Scheremetjew verkürzten sie um ein Drittel, so entstand der Name Schermet. Ein guter Name, der in den Arbeiter- und Bauernstaat passte.

Ariadna wurde auf den Nachnamen Schermet eingetragen, da der biologische Vater nicht anwesend war.

[7] Es hatte ihn natürlich einmal gegeben, aber man hatte ihn, da er aus dem einfachen Volk war, aus der Familie gedrängt.

Der Vater hieß Alik. Jedes Mal, wenn sie sich zu Tisch setzten, hatte Alik den Platz des Großvaters eingenommen. Die Großmutter hatte sich darüber aufgeregt und gesagt: »Setzen Sie sich auf Ihren Platz«, worauf Alik verwundert die Brauen hochgezogen und gefragt hatte: »Ist es denn nicht völlig egal, wo man sich hinhockt?«

Die Großmutter hatte schwer aufgeseufzt. Ihr war klar geworden, dass es in Aliks Familie keinerlei Traditionen gab und dass Alik selbst ohne anständige Herkunft, sozusagen ohne Stammbaum, war. Anständig essen konnte er auch nicht. Er wusste mit dem Besteck nicht richtig umzugehen und verschlang das Essen derart schnell, als hätte er Angst, dass man es ihm wegnähme. Zudem trank er den Tee aus der Untertasse, ja er schlürfte ihn geradezu wie aus einer Pfütze.

Alik ging gern in die Sauna, doch danach zog er ein ungewaschenes Hemd über, das stets nach Schweiß roch. Die Großmutter packte ihm ein sauberes, gebügeltes Hemd ein. Aber Alik tat es leid, so viel Schönheit zu beschmutzen und zu zerknittern, und so zog er doch das alte Hemd wieder an. Er war nämlich ein bescheidener Mensch. Jedoch die [8] Scheremetjews schätzten ihn nicht, und Lisa hatte ihre eigene Stimme noch nicht entdeckt. Natürlich hatte sie eine, aber die war noch zu schwach entwickelt, sie ging unter im lautstarken Lamento der Großmutter. Die war und blieb eben eine Gräfin.

Alik passte wirklich nicht zu seiner Frau. Sie waren einfach zu verschieden. Adas Mutter Lisa begann eine Karriere als Sängerin, sie liebte die Bühne, den vollen Saal, den Applaus und die Komplimente. Sie war ein öffentlicher Mensch. Und Adas Vater hasste all das. Er wollte nur in seiner Garage stehen und ein Regal zusammenschreinern. Äußerlichkeiten interessierten ihn überhaupt nicht. Aber Lisa konnte nicht bloß für sich selbst singen. Sie sang für andere. Nur dadurch lebte sie.

Ihre gemeinsame Eisscholle bekam immer mehr Risse, und schließlich trieben sie in verschiedene Richtungen auf den Ozean des Lebens hinaus. Lisa seufzte leicht auf, als wäre ihr ein schwerer Sack von der Schulter gefallen. Im Gegensatz zur Mutter litt Ada unter der Trennung. Sie liebte ihren Vater. Und auch der Vater liebte sein Töchterchen zärtlich und voller Hingabe. Die beiden hatten viel gemeinsam. Es gab wohl eine gemeinsame Prägeform.

Lisa hatte eine Singstimme wie ein Engel. Wenn sie sang, weinte die Großmutter. Sie konnte die [9] Tränen der Liebe und des Entzückens nicht zurückhalten. Alle erwarteten nun, dass Ariadna, abgekürzt Ada, eines Tages ebenfalls singen würde. Aber Ada hatte wohl einfach kein Ohr dafür. Sie heulte eher wie eine Sirene.

Ada wuchs in einer unvollständigen Familie auf, ohne Vater. Doch wer eine solche Großmutter hatte, dem fehlte ein Vater nun wirklich nicht.

Die Großmutter kümmerte sich um die Ausbildung, die Erziehung und die Ernährung. Sie brachte Ada ›gute Manieren‹ bei: richtig sitzen, den Rücken gerade halten, beim Essen den Mund schließen, Erwachsene nicht unterbrechen, keine Fragen stellen, nicht ungefragt von sich erzählen, das Gegenüber nicht für dümmer halten als sich selbst, nicht mit jedem Dahergelaufenen aus einer Schüssel essen, mit anderen Worten: Abstand halten. Ada sollte sich an der Mode orientieren, aber sich nicht lächerlich machen, und vor allem keine offensichtlich billigen Sachen tragen.

Die Großmutter ihrerseits trug an den Fingern die Familienbrillanten, die sie nie ablegte. Man könnte sie ja stehlen. Ihre Hände waren ständig im Wasser, mal wusch sie Kleidung, mal putzte sie Gemüse. Die Hände waren irgendwann nicht mehr gepflegt, die Finger waren aufgedunsen vom Wasser und vom Alter, aber die Brillanten veränderten [10] sich nicht und schossen immer noch mit blauen Funken um sich. Im vollen Licht funkelten sie in allen Farben des Regenbogens, denn sie waren von lupenreiner Qualität.

Die Großmutter kümmerte sich um Adas Ausbildung, sie sprach mit den Lehrerinnen, überließ nichts dem Zufall. Einmal sah sie, dass Ada im Zeugnis einen Einser im Singen hatte. Wie sollte man denn das verstehen? Ada konnte keine Melodie halten, verfehlte jeden Ton – und plötzlich eine Eins im Singen. Das war Laschheit und Ungerechtigkeit in einem. Es war genauso ungerecht und falsch, wie wenn Ada in Allgemeinwissen eine Fünf bekommen hätte. Dieser Einser könnte das Verständnis des Kindes, was seine Möglichkeiten und Grenzen anbetraf, völlig aus dem Lot bringen.

Die Großmutter ging also zur Musiklehrerin und fragte nach: »Wieso haben Sie meiner Enkelin eine Eins gegeben?«

Die offensichtlich sehr in die Jahre gekommene Lehrerin verdrehte gequält die Augen und erklärte: »Diese Kinder führen sich alle dermaßen schrecklich auf in der Stunde. Sie springen über die Bänke, schreien herum. Nur Ihre Ada sitzt brav da und schweigt.«

Das hieß also, die Eins war nicht fürs Singen, sondern fürs Schweigen. Fürs Stillsein. Für die [11] Bescheidenheit. Fürs richtige Betragen. Die ganze Klasse quälte die schwache alte Frau und machte sich über sie lustig. Und das taktvolle kleine Mädchen hatte Mitgefühl mit ihr. Mitgefühl war ein kostbarer Zug, genauso wie Mitleid und Anteilnahme. Einen fremden Menschen spüren wie sich selbst, so dass eine Verbindung entsteht. Das kann man nicht andressieren. Damit muss man geboren sein.

Die Großmutter bestand feinfühlig auf der Note Vier. Das war keine Fünf oder Sechs, aber doch wenigstens keine Eins.

Die Lehrerin zuckte bedauernd mit den wenigen Wimpern.

›Warum arbeitet sie überhaupt noch?‹, fragte sich die Großmutter, hütete sich aber, es laut zu sagen. Um sie herum gab es inzwischen so viele unerklärliche ›Warums‹.

Lisa, Adas Mama, bekam nach dem Konservatorium im Bolschoi-Theater eine Stelle. Das Theater lag nicht weit von ihrer Wohnung entfernt, man konnte zu Fuß hingehen und den öffentlichen Verkehr meiden.

Die kleine Ada liebte das Bolschoi mit all seinem Prunk, dem vielen roten Samt und dem Gold. Außerdem gefiel ihr die Pracht der musikalischen [12] Ausstattung: ein ganzer Graben voller Musiker, dazu eine ganze Bühne voller Sänger, und alle musizierten zusammen, durchschnitten den Raum mit den höchsten Tönen. Und erst das Publikum, das, festlich gekleidet und sorgfältig frisiert, mit Wohlwollen lauschte. In der Pause sprangen die Leute nicht einfach durcheinander, sondern erhoben sich lautlos, bewegten sich würdig und setzten sich später anständig wieder hin.

Ada erstarrte in angespannter Stille, gemeinsam mit dem ganzen Publikum. Sie war ein Teil dieses Saales, ein Teil dieser menschlichen Gemeinschaft, und diese Teilhabe erfüllte sie mit Sinn und Stolz. Vielleicht hatte sie wirklich kein gutes Gehör, aber dafür hatte sie einen festen Platz in diesem Saal für die Auserwählten. Erste Reihe, Sitz Nummer sechs.

Ada lief ins Bolschoi-Theater wie zu sich nach Hause. Alle Frauen an der Theaterkasse kannten sie und ließen sie einfach durch. Sie setzte sich in ihre erste Reihe, dort waren immer freie Plätze. Anders, als man denken könnte, gilt die erste Reihe...