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Die im Dunkeln sieht man doch

Barbara Vine

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257601213 , 368 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

[5] 1

An dem Morgen, als Vera starb, wachte ich sehr früh auf. Die Vögel hatten schon angefangen zu singen, in unserem grünen Vorort war ihre Zahl größer und ihr Gesang lauter als auf dem Land. So hatten sie vor Veras Fenstern im Tal von Dedham nie gesungen. Ich lag da und horchte auf Laute, die sich monoton wiederholten. Es muß eine Drossel gewesen sein, eine Drossel, von der Browning so schön gedichtet hat, daß sie jedes Lied zweimal singt. Es war ein Donnerstag im August vor hundert Jahren. In Wirklichkeit natürlich ist es vielleicht fünfunddreißig Jahre her, es kommt einem bloß so lange vor.

Nur unter diesen Umständen weiß man genau, wann ein Mensch sterben wird. Jeder andere Tod läßt sich mit einiger Bestimmtheit voraussagen, mutmaßen, ja sogar absehen, nicht aber auf die Stunde, die Minute genau, ohne jeden Hoffnungsschimmer. Vera würde um acht sterben, basta. Mir wurde flau. Ich lag übertrieben still und horchte auf Geräusche aus dem Nebenzimmer. Wenn ich wach war, würde mein Vater es auch sein. Bei meiner Mutter war ich mir nicht so sicher. Sie hatte nie ein Hehl daraus gemacht, daß sie seine beiden Schwestern nicht leiden mochte. Das war einer der Gründe für die Entfremdung zwischen ihnen, obgleich sie nach wie vor zusammen im Nebenzimmer schliefen, in einem Bett. Einen Ehebruch, eine Trennung, diese Dinge ging man damals nicht so leichten Herzens an.

Ich überlegte, ob ich aufstehen sollte, aber zuerst wollte ich wissen, wo mein Vater war. Ihm auf dem Gang zu begegnen, wir beide im Morgenrock, mit vor Schlaflosigkeit verquollenen Augen, beide auf dem Weg ins Badezimmer und uns höflich den Vortritt lassend – irgendwie war das eine scheußliche [6] Vorstellung. Gewaschen wollte ich ihm gegenübertreten, gekämmt und gegürtet. Ich hörte nichts, nur die Drossel, die ihre stupide Strophe nicht zweimal, sondern fünf- oder sechsmal wiederholte.

Bestimmt würde er wie gewohnt zur Arbeit gehen. Und Veras Name würde nicht fallen. In unserem Haus hatte über die ganze Geschichte seit Vaters letztem Besuch bei Vera niemand ein Wort verloren. Einen schwachen Trost gab es für ihn: Niemand wußte etwas. Man kann seiner Schwester, seiner Zwillingsschwester, sehr nahe stehen, ohne daß jemand um die Beziehung weiß, und keinem unserer Nachbarn war bekannt, daß er Vera Hillyards Bruder war. Auch von den Bankkunden wußte es niemand. Wenn heute der Hauptkassierer eine Bemerkung über Veras Tod machte, was durchaus denkbar war, was viele Leute tun würden, besonders auch ihres Geschlechts wegen, würde mein Vater ein liebenswürdig-glattes, gemäßigt interessiertes Gesicht machen und eine passende Platitüde äußern. Schließlich ging das Leben ja für ihn weiter.

Auf dem Gang knarrte ein Bodenbrett. Ich hörte, wie die Schlafzimmertür, dann die Badezimmertür zuschlug. Daraufhin stand ich auf und besah mir den Tag. Ein sauberer, weißer, stiller Morgen ohne Sonne und blauen Himmel, ein Morgen im Wartestand, so schien es mir, weil ich wartete. Wenn man in einem bestimmten Winkel an diesem Fenster stand und hinausschaute, sah man keine Häuser, so üppig waren die Bäume und Büsche, so dicht ihr Laub. Es war wie der Blick in die Lichtung eines sehr gepflegten Waldes. Vera hatte über die Wohnlage meiner Eltern die Nase gerümpft, nicht richtig Stadt und nicht richtig Land, sagte sie immer.

Jetzt war meine Mutter auf. Wir waren alle blödsinnig früh dran, wie vor einer Urlaubsreise. Früher, vor einer Fahrt nach Sindon, war ich manchmal so früh wach gewesen, zappelig, voller Vorfreude. Wieso hatte ich mich immer auf Vera gefreut, die, wenn sie mit mir allein war, ständig und unmotiviert an [7] mir herumnörgelte, die gemeinsam mit Eden jeden abgeschmettert hatte, der versuchen mochte, in ihren Bund einzudringen? Ich hatte wohl immer noch Hoffnung gehabt. Bei jedem Besuch war ich ein bißchen älter geworden, vielleicht hatte sie sich ja inzwischen geändert. Doch das geschah nie – fast bis zum Schluß nicht. Und dann brauchte sie so dringend Verbündete, daß sie es sich nicht mehr leisten konnte, wählerisch zu sein.

Ich ging ins Badezimmer. Man merkte sofort, ob mein Vater dort fertig war. Er benutzte ein altmodisches Rasiermesser und wischte die Klinge nach jedem Strich an einem Stückchen Zeitungspapier ab. Die Zeitung und den Krug mit heißem Wasser holte er sich selbst, aber die Überbleibsel mußte immer meine Mutter wegräumen, das Papier mit der Rasierseifenschicht, die voller Stoppeln war, und den leeren Krug. Ich wusch mich mit kaltem Wasser. Im Sommer setzten wir den Boiler nur einmal in der Woche in Gang, zum Baden. Vera und Eden badeten jeden Tag, und das gehörte zu den Dingen, die mir an Sindon gefallen hatten, mein tägliches Bad, obschon Vera behauptete, daß ich mich, wäre das möglich gewesen, bestimmt gedrückt hätte.

Die Zeitung war gekommen. Die Meldung, einige wenige nüchterne Zeilen, würden sie natürlich erst morgen bringen. Heute stand nichts über Vera drin. Sie war nicht mehr aktuell, war vergessen gewesen bis zu diesem Morgen, da, wie in einer jäh aufschießenden Stichflamme, das ganze Land von ihr sprechen würde; den einen würde sie leid tun, und die anderen würden sagen, es sei ihr recht geschehen. Mein Vater saß am Eßtisch und las die Zeitung. Den Daily Telegraph, eine andere Tageszeitung kam uns nicht ins Haus. Das Kreuzworträtsel würde er sich für heute abend aufheben, genau wie Vera, die in all den Jahren nur einmal meinen Vater angerufen und um die Lösung für ein Stichwort gebeten hatte, das sie verrückt machte. Als Eden ihr eigenes Heim hatte und reich war, hatte sie sich oft von ihm das Rätsel telefonisch [8] komplettieren lassen. So gut wie die anderen beiden war sie nie gewesen.

Er sah auf und nickte mir zu. Er lächelte nicht. Auf dem Tisch lag das Tischtuch von gestern, gelbe Karos, damit man die Eiflecken nicht so sah. Die Lebensmittel waren noch rationiert, Fleisch war sehr knapp, wir aßen immerfort Eier, die uns Mutters Hühner lieferten. Daher die krähenden Hähne in unserem Villenvorort, versteckt hinter Geißblatt- und Lorbeerbüschen. An diesem Morgen aber gab es keine Eier. Auch keine Cornflakes. Meine Mutter hätte Cornflakes in ihrer weiß-gelben Packung als frivol empfunden. Vera war ihr unsympathisch gewesen, Vaters intensive Familienbindungen waren ihr gegen den Strich gegangen, aber sie hatte ein ausgeprägtes Gefühl für das, was in einer bestimmten Situation schicklich war. Wortlos brachte sie uns Toast, der – noch heiß – dünn mit Margarine bestrichen worden war, ein Glas Kürbis-Ingwer-Konfitüre, eine Kanne Tee.

Ich wußte, daß ich nichts würde hinunterbringen können. Er aß. Demnach hatte er für sich beschlossen, daß dies ein Tag wie jeder andere war. Es war vorbei, ausgelöscht, er hatte eine gewaltige Anstrengung unternommen, wenn nicht zu vergessen, so doch zumindest vorzugeben, daß alles vergessen sei.

Heiser-theatralisch brach seine Stimme das Schweigen. Er las laut vor, irgend etwas über den Koreakrieg. Er las und las, spaltenweise, es wurde zunehmend peinlich, weil niemand ohne Einführung, ohne Erklärung oder Anlaß in dieser Weise liest. Etwa zehn Minuten ging das so. Er las bis zum Ende der Seite, wo vermutlich auf die Fortsetzung des Artikels im Innenteil des Blattes verwiesen wurde. Er blätterte nicht um. Er hielt mitten im Satz inne. »Im Fernen«, sagte er, kam nicht mehr bis zum »Osten«, sondern legte die Zeitung aus der Hand, rückte die Seiten zurecht, faltete das Blatt einmal, zweimal, ein drittes Mal, bis es wieder so dalag, wie der Zeitungsjunge es durch den Schlitz gesteckt hatte.

»Im Fernen« hing in der Luft und nahm eine eigenartige [9] Bedeutung an, die der Verfasser gewiß nicht beabsichtigt hatte. Mein Vater nahm noch einen Toast, ohne ihn zu essen. Meine Mutter beobachtete ihn. Ich denke mir, daß sie früher einmal Zärtlichkeit für ihn empfunden hat, aber da er keine Zeit oder keine Verwendung dafür gehabt hatte, war das Gefühl verkümmert. Ich erwartete nicht, daß sie zu ihm gehen, seine Hand nehmen, die Arme um ihn legen würde. Hätte ich es getan, wäre sie nicht dabei gewesen? Vielleicht. Mitglieder dieser Familie zeigten ihre Liebe zueinander nicht. Mit anderen Worten: Es hatte keine Umarmungen gegeben. Die Zwillinge hatten sich nicht geküßt, die Frauen allenfalls luftige, spitze Wangenküßchen ausgetauscht.

Es war Viertel vor acht. Ich wiederholte (wie die Drossel, die indessen verstummt war) immer wieder: »Im Fernen, im Fernen.« Als es geschehen war, als man es ihm sagte, hatte er sich wütend, ungläubig, in ohnmächtigem Protest aufgebäumt.

»Ermordet, ermordet!« rief er immer wieder, wie ein Schauspieler in einer elisabethanischen Tragödie, wie jemand, der mit einer Schreckensbotschaft in den Burgfried stürzt. »Meine Schwester!« und »Meine arme Schwester!« und »Meine kleine Schwester!«

Doch dann waren Schweigen und Verschweigen heruntergegangen wie ein Rolladen, der sich nach Veras Tod kurz hob, als wir, nach Anbruch der Dunkelheit in einem geschlossenen Raum beieinandersitzend wie Verschwörer, von Josie hörten, was sich an jenem Apriltag zugetragen hatte. Er sprach nie mehr davon. Die Zwillingsschwester war aus seiner Erinnerung getilgt, und er machte sich – unglaublich, aber wahr – zum Einzelkind. Ich hörte ihn zu jemandem sagen, er habe es nie bedauert, keine Geschwister zu haben.

Erst als er krank und selbst dem Tode nahe war, holte er wieder Erinnerungen an seine Schwester hervor. Sein Schlaganfall hatte wie in einer physiologischen Reaktion Hüllen der Reserve, der Hemmungen von ihm geschält, brachte ihn...