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Astas Tagebuch

Barbara Vine

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257601183 , 560 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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11,99 EUR


 

[38] 2

Für Skandinavier ist die Frage, wie man die Großeltern nennt, ein für allemal gelöst. Die Entscheidung, welche Großmutter mit Großmama und welche mit Oma anzureden ist, welcher Großvater der Großpapa und welcher der Opa sein soll, entfällt für sie ebenso wie die unbeholfene Formulierung »Opa Smith« oder »Opa Jones«. Die Mutter der Mutter ist schlicht und einfach Mormor, der Vater der Mutter Morfar, auf der väterlichen Seite sind die entsprechenden Benennungen Farmor und Farfar. Von Anfang an sprach ich von der Mutter meiner Mutter stets als Mormor, weil meine Mormor ihre Großmutter immer so genannt hatte. Zweifel kamen mir erst, nachdem ich zur Schule gekommen war und die anderen Kinder sich darüber lustig machten.

Später sprach ich dann meist von »meiner Großmutter« und im Zusammenhang mit Padanaram von »meinem Großvater«. Die früheren Bezeichnungen blieben dem Familiengebrauch und im Fall von Mormor der direkten Anrede Vorbehalten. In diesem Buch werde ich sie manchmal Mormor und Morfar nennen, öfter allerdings ihre Vornamen, Asta und Rasmus, verwenden, denn dies ist nur zu einem kleinen Teil meine Geschichte. Ich bin nur Beobachterin, Schriftführerin, Zeitzeugin. Mormor und Morfar kommen hier nicht als meine Großeltern vor, sondern als sie selbst, die Einwanderer Asta und Rasmus [39] Westerby, die in wenig glücklicher Zeit aus Dänemark in ein insulares, fremdenfeindliches Land kamen, der Puppenhausbauer und seine Frau, die Tagebuchschreiberin und ihr Mann.

Dennoch ist es auch nicht ihre Geschichte, wenngleich sie wichtige Rollen darin spielen, ebensowenig die Geschichte meiner Mutter, für die das Puppenhaus gebaut wurde, oder die von Jack und Ken, die als Mogens und Knud zur Welt kamen, oder die der Nachkommen von Hansine Fink. Es ist die Geschichte von Swanny, der ältesten Tochter der Großeltern, Swanhild Asta Vibeke Kjær, geborene Westerby (oder auch nicht).

In unserer Gesellschaft der fast schon ausgestorbenen Großfamilien sieht man seine Vettern nur bei Beerdigungen, wo man sie meist nicht erkennt. So ging es mir 1988, als wir Tante Swanny zu Grabe trugen. Wer der Mann war, der sich in der Kirche neben mich setzte, wußte ich nur, weil er zielstrebig die erste Bank ansteuerte, was nur den Neffen der Verstorbenen zustand. Demnach mußte dies John Westerby sein. Oder sein Bruder Charles?

Ich hatte beide zum letztenmal bei der Beerdigung meiner Mutter vor zwanzig Jahren gesehen, und auch da nur kurz. Dringender geschäftlicher Verpflichtungen wegen hatten sie gleich wieder abreisen müssen. Dieser Mann sah kleiner aus, als ich ihn in Erinnerung hatte. Und er sah meinem Großvater Rasmus Westerby, den ich wie die Dänen Morfar genannt hatte, sehr ähnlich. Im Flüsterton klärte er mich auf: »Da kommt John.« Also war er Charles.

Mein zweiter Vetter – ich habe nur die beiden – war mit [40] der kompletten Familie angereist. Die Bank war gerade groß genug für uns alle, Charles, John, Johns Frau, Sohn, Tochter, Schwiegersohn und… ja, wahrscheinlich ein Enkelkind. Vorübergehend lenkte mich die Überlegung ab, wie dieser Sohn, diese Tochter heißen mochten, und ich war noch zu keinem Ergebnis gekommen, als ein Orgelvorspiel ertönte und sechs Mann langsam Swannys Sarg hereintrugen.

In der Kirche saßen an die hundert Leute. Sie sangen alle wacker mit, es war ein bekanntes Kirchenlied. Ich hatte mich nicht entscheiden können, weil meines Wissens Swanny keinen Lieblingschoral gehabt hatte, aber Mrs. Elkins wußte es besser. In jenen letzten schlimmen Monaten, als Swanny nicht »sie selbst« gewesen war, sondern »die andere«, sei sie oft herumgegangen und habe ›Abide with me‹ gesummt. Das also sangen wir jetzt aus vollem Hals zu Orgelmusik vom Band, denn Organisten sind heutzutage Mangelware.

Ich verließ die Kirche als erste. Für diese Dinge gibt es ein festes Protokoll, und Johns Sohn, der offenbar genau Bescheid wußte, ließ seine Familie stehen und schritt an meiner Seite. Sehr nett von dir, sagte ich halblaut, und er neigte gemessen den Kopf. Mir wollte nicht einfallen, wie er hieß, und erst recht nicht, was er machte oder wo er wohnte.

Die nicht geweinten Tränen brannten mir in den Augen. Ich würgte. Hätte ich mir in diesem Augenblick vorgestellt, wie sie summend und brabbelnd durchs Haus geschlurft war, hätte ich vermutlich angefangen zu heulen. Statt dessen zwang ich mich, während wir uns um das [41] Grab scharten und der Sarg in die Grube gesenkt wurde, daran zu denken, wie anders es hier ausgesehen hätte, wäre sie vor zehn Jahren gestorben, was sehr gut vorstellbar war, schließlich war sie damals schon über siebzig.

Ohne die Tagebücher wären all diese Menschen nicht da gewesen. Swanny Kjær (von den Medien unweigerlich falsch ausgesprochen) hätte ein zurückgezogenes Leben geführt, ein kaum bemerktes Ende gehabt. Wer wäre zur Beerdigung gekommen? Ich natürlich, John oder Charles – aber nicht beide –, Mr. Webber, ihr Anwalt, und ein, zwei Nachbarn aus der Willow Road. Harry Dukes Tochter und vielleicht deren Tochter. Mehr nicht. So aber waren sämtliche Medien da. Die Vertreter der Medien nannten sich Swannys Freunde und waren es vielleicht auch, all diese Verlagslektoren und PR-Menschen, eine ganze Meute von der BBC, ein Produzent und der Leiter der Features-Abteilung des Privatsenders, der die Serie gedreht hatte. Die Presse war mit Rekordern und Kameras angerückt, um ihre Blätter zu beliefern.

Was wäre gewesen, wenn all diese Leute sie in ihren letzten Tagen gesehen hätten? Welch aufregende Story in der Story: Swanny Kjær, zweigeteilt durch ein befremdliches Seelenleiden, immer weniger »sie selbst«, immer mehr von »der anderen« verdrängt. Viele der Jüngeren, denen 1905 genauso fern war wie 1880, verwechselten sie ohnehin mit ihrer Mutter. Für sie war Swanny nicht so sehr die Herausgeberin als die eigentliche Verfasserin der Tagebücher.

Die blassen, glatten Gesichter waren in Langeweile erstarrt, als wir über das feuchte Gras zu dem hygienisch [42] mit Kunstrasen ausgeschlagenen Grab zogen. Nachdem der Sarg in die Grube gesenkt worden war, warf einer der dänischen Vettern, der den weiten Weg von Roskilde gemacht hatte, eine Handvoll Erde hinein. In der Frau nach ihm erkannte ich Margaret Hammonds Tochter, aber wer sich sonst noch die feinen Handschuhe mit feuchtem Londoner Lehm schmutzig machte, hätte ich nicht sagen können. Viele Damen waren eher für eine Hochzeit als für eine Beerdigung gekleidet. Die hohen Absätze sanken tief in den matschigen Boden ein. Als wir das Grab verließen, regnete es auf ihre Hüte.

Ich nahm Mr. Webber in meinem Wagen mit zur Willow Road, die übrigen Trauergäste – soweit sie eingeladen waren – folgten. Ich hatte Swannys Agentin dazugebeten und ihren Verleger und den Produzenten, hatte es aber nicht über mich gebracht, die ganze Rotte der PR-Damen und Sekretärinnen, die alle danach gierten, das Haus, in dem Swanny Kjær gewohnt hatte, von innen zu sehen, mit Bier und Kanapees zu bewirten.

Es ist ein hübsches Haus, ich hatte es immer gern, fand aber nie, daß es etwas Besonderes war, bis Torben mir sagte, daß es als eins der besten Londoner Beispiele der Dreißiger-Jahre-Architektur galt. Als sie einzogen, ein paar Jahre vor meiner Geburt, war es ganz neu gewesen. Ich schloß auf und trat über die Schwelle, dabei sah ich zu Mr. Webber hin, das heißt, ich versuchte seinen Blick aufzufangen, aber er mied den meinen. Sein Gesicht wirkte noch unbewegter als sonst. Ich überlegte, ob Anwälte nach der Beerdigung tatsächlich zur Verlesung des Testaments schreiten, oder ob so was nur in Krimis vorkommt.

[43] Mrs. Elkins hatte für Häppchen gesorgt, Sandra, Swannys Sekretärin, war plötzlich wieder da und kümmerte sich um die Getränke. Räucherlachs, Weißwein und Mineralwasser – es ist überall dasselbe. Ich sah, daß auch die beiden Pflegerinnen, Carol und Clare, gekommen waren, und dann war der Verwandte, dessen Name mir nicht einfallen wollte, an meiner Seite und sagte, er erinnere sich an Swanny von der Beerdigung seines Großvaters her. Ihr Aussehen, ihre Größe und Schönheit hätten damals großen Eindruck auf ihn gemacht.

»Ich konnte nicht glauben, daß das meine Großtante sein sollte. Ich war erst zwölf, aber wie elegant sie war, um wieviel besser gekleidet als die anderen Frauen, das habe ich sofort gemerkt.«

»Sie unterschied sich von der übrigen Familie.«

»Ja, in vieler Beziehung«, sagte er.

Demnach wußte er es nicht. Sein Vater hatte es ihm nicht gesagt, weil dessen Vater ihm nichts gesagt hatte. Ich mußte daran denken, daß Ken es nie hatte glauben wollen.

Überraschend sagte er: »Man sollte denken, daß bei den vielen Kindern, die Asta und Rasmus hatten, zahlreiche Nachkommen da sein müßten, aber es gibt nur uns. Nur ich könnte den Namen weitertragen. Tante Swanny hatte keine Kinder, Charles hat keine – und du auch nicht, oder?«

»Ich war nie verheiratet«, sagte ich.

»Pardon.« Er lief dunkelrot an.

Daran – und an der Bemerkung, daß er bei Kens Tod erst zwölf gewesen war – konnte ich ermessen, wie jung er sein mußte. Allerdings kleidete er sich nicht danach. Wo [44] sieht man heute noch einen Mann unter fünfzig mit steifem Kragen und dunklem Paletot? Sein Haar war sauber gescheitelt und hinten und an den Seiten kurz geschnitten. Gut und gern eine halbe Minute lag die Röte auf seinem Gesicht, und als sie...