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Auf der Strecke - Ein Fall für Berlin und Wien

Claus-Ulrich Bielefeld, Petra Hartlieb

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257601718 , 368 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

[13] 2

»Piep-piep«. Anna Habel schreckte hoch. In den 22-Uhr-Nachrichten beteuerte gerade der Bundeskanzler mit schiefem Grinsen, dass der aktuelle Streit in der Koalition sicher nicht an seiner Partei liege. Anna versuchte, sich zu orientieren. Auch wenn sie nur knapp 1,60 Meter maß, das Fernsehsofa war eindeutig zu kurz zum Schlafen, ihr Ischiasnerv zog besorgniserregend bis ganz unten ins Bein und von da wieder hoch bis in ihr schlaftrunkenes Hirn. Vor dem Sofa lagen unzählige zerknüllte Tempos, und der Becher mit Tee balancierte gefährlich auf einem Bücherstapel. Warum kann ich nicht einfach nur Schnupfen haben wie andere Menschen auch, dachte Anna und fischte das letzte Taschentuch aus der Packung. Seit Tagen plagte sie eine schlimme Erkältung, das feuchtkalte Septemberwetter tat sein Übriges, und die halbe Flasche Rotwein, die sie sich gestern als therapeutische Maßnahme genehmigt hatte, war für ihren Brummschädel wohl nicht die richtige Medizin gewesen. Das Handy, dachte sie, wer will denn um diese Uhrzeit noch was von mir? Mühsam zog sie das Mobiltelefon aus ihrer Hosentasche. »1 neue Mitteilung«, Absender Andrea. »Melk« las sie und musste grinsen. Seit mehr als sieben Jahren pflegte sie mit ihrer Freundin Andrea den »Melk-Brauch«. Immer wenn eine der beiden an dem [14] imposanten Benediktinerkloster zwischen Wien und Linz vorbeifuhr, schrieben sie sich eine SMS. In völlig unmöglichen Situationen bekam sie Andreas Melk-Meldungen, und jedes Mal war sie froh, ein Lebenszeichen ihrer besten Freundin zu erhalten. »Sofa, Bett« schrieb sie zurück, holte sich eine neue Packung Tempos aus dem Bad, schlüpfte in den Flanellpyjama, zog die Frotteesocken an und schlurfte in ihr Schlafzimmer. Arme Andrea, dachte sie noch, schon wieder auf der Autobahn, hoffentlich wenigstens Richtung Wien. Vom Bücherstapel neben ihrem Bett reizte sie heute nichts – alles viel zu anstrengend für ein schnupfengeplagtes Hirn. Sie stellte den Wecker auf 7 Uhr 30 und fiel in einen unruhigen Schlaf.

Anna schlug auf den Wecker ein, doch das durchdringende Klingeln hörte nicht auf. 5 Uhr 10. Was soll das denn, lasst mich doch alle in Ruhe. Plötzlich war sie hellwach: Scheiße, kein Wecker, irgendwo klingelte ihr Handy. Sie sprang aus dem Bett, der schweißnasse Pyjama klebte unangenehm auf ihrer Haut, der Klingelton verstummte. Ich könnte so tun, als hätte ich es nicht gehört, dachte Anna und machte sich seufzend auf die Suche nach dem ständigen lästigen Begleiter. Viel zu pflichtbewusst war sie für so eine Schummelei. Zwischen den Sitzpolstern des Fernsehsofas fand sie endlich das Handy: »1 Anruf in Abwesenheit«, Anrufer: »Kolonja«. Anna drückte auf die Rückruftaste, und nach dem ersten Klingeln schnaufte ihr der Kollege ins Ohr:

»A Leich. Im Weinviertel. Im Zug.«

»Auch ich wünsch Ihnen einen schönen guten Morgen, [15] Herr Kollege, ich bitte um nähere Angaben.« Robert Kolonja mit seinem Floridsdorfer Gemeindebau-Slang reizte Anna auch nach drei Jahren Zusammenarbeit noch immer dazu, in eine sehr gewählte Ausdrucksweise zu verfallen.

»Ich steh da auf einem Abstellgleis der Österreichischen Bundesbahnen, irgendwo zwischen Bernhardsthal und Hohenau. Leiche männlich, zwischen 25 und 30 Jahre alt, aufgefunden im Schlafwagen.« Auch Kolonja konnte schön sprechen, wenn er sich bemühte. Dennoch blaffte Anna ihn aus reiner Gewohnheit noch einmal an.

»Erschossen, erdrosselt, erstochen oder gar vergewaltigt?«

»Der Doktor Schima is noch nicht da, aber die Leich is in Wien-West in Zug eingstiegen und bald darauf war’s scho tot. Jetzt hat er an ganzn Waggon für sich allein.«

Richtig witzig heute, der Kolonja, dachte Anna. »Okay, gib mir zehn Minuten, ich ruf dich an, wenn ich im Auto sitze, dann gibst du mir die Koordinaten durch.«

Ein kurzer Abstecher ins Bad, ein hoffnungsloser Blick in den Kühlschrank und dann die Suche nach dem Autoschlüssel. Schon in Jacke und Schuhen ging sie noch mal in die Küche, stellte einen Teller auf den Tisch, nahm die Butter aus dem Kühlschrank und schnitt zwei Scheiben Brot von dem nicht mehr ganz frischen Laib. »Musste früh weg, schönen Tag! Komm nicht zu spät, und kauf dir was zu essen«, schrieb sie auf einen kleinen Zettel, den sie zusammen mit einem Zehn-Euro-Schein unter den Teller schob.

Auf einem Nebengleis stand ein einsamer Waggon der Österreichischen Bundesbahnen, er hing ein wenig schief in [16] der Kurve und sah irgendwie absurd aus. Eine Tür stand offen, Leute liefen geschäftig umher, und aus einem Autoradio plärrte die Musik von Radio Niederösterreich. Aus dem Waggon stieg gerade der Gerichtsmediziner, Doktor Schima. Wie immer wirkte er gutgelaunt.

»Also, ein netter junger Mann, Typ: Schwiegermutterliebling. Wurde wohl mit einer dünnen Drahtschlinge erwürgt. Die Mordwaffe haben wir allerdings noch nicht gefunden. Der Schaffner hat ihn kurz nach der Tat gefunden, so um 22 Uhr 45. Mehr gibt’s von meiner Seite nicht zu sagen. Der braucht ja leider keinen Arzt mehr. Aber mir scheint, Sie bräuchten einen. Soll ich Ihnen was verschreiben?«

Anna lächelte gequält. »Mindestens eine Woche Krankenstand und einen guten Krimi.«

Ein blasser Trenchcoat mit Schnauzer und Kappe kam auf sie zu.

»Grüß Gott, mein Name ist Kronberger, ich bin der zuständige Beamte aus St. Pölten.«

»Guten Tag, Habel, Mordkommission Wien.«

Sie bemühte sich, freundlich zu klingen, sie wollte diesen niederösterreichischen Polizeibeamten so schnell wie möglich loswerden und das Mordopfer sehen.

»Ach, die Wiener san da. Ja, da samma froh.«

O je, das wird nicht leicht, dachte Anna und blickte zu Kolonja, der mit den Schultern zuckte. Sie bemühte sich um ein Lächeln und einen herzlichen Händedruck für den Herrn Kollegen. Doch der ging gleich in die Offensive.

»Wieso kommts’ ihr denn so spät?«

Anna merkte, dass sie gleich in die Luft gehen würde. Sie [17] wusste stets von Anfang an, wie ihre Stimmung bei einer Untersuchung sein würde. Und wenn ein neuer Fall mit einem so übereifrigen Provinzbeamten wie diesem Trenchcoat begann, verhieß das nichts Gutes.

»Spät, Herr Kronenburger? Ich find’s ziemlich früh.«

»Mein Name ist Kronberger! Wie ich gesehen hab, dass der Tote Wiener ist, hab ich euch sofort informiert. Mit eurem Alarmierungssystem läuft was schief, das ist das Problem, ihr habt ja erst Stunden später reagiert.«

Kolonja lief rot an. »Ja, ich hab da irgendeinen Knopf falsch gedreht. Aber jetzt samma ja da.«

Kronberger lief augenblicklich zur Hochform auf.

»Na schauts’, einen Knopf falsch gedreht… Und wir machen hier die Arbeit. Ihr habts’ jetzt ja gar nix mehr zu tun.«

Anna schnaufte und nieste dreimal vulkanmäßig. Jetzt musste auf der Stelle ein Punkt gesetzt werden.

»Das entscheiden immer noch wir, lieber Kronenburger. Immerhin handelt es sich hier um einen Mord, und ich glaube, den aufzuklären ist ein bisschen mehr Arbeit, als den Tatort zu sichern und ein paar zuständige Kollegen anzurufen. Was weiß man denn über die Identität des Opfers?«

Kolonja kam Kronberger zuvor.

»Alles, also, ich meine nicht viel außer den Personalien.«

»Und die wären?«

»Xaver Pucher, geboren am 30. August 1973 in Salzburg, wohnhaft in Wien, erster Bezirk, Bäckerstraße 7.«

»Was sagst du da? Xaver Pucher? Der Xaver Pucher?«

»Was meinst du damit? Kennen wir den? Ist der einschlägig?«

[18] »Ja, sag mal, liest du denn nie Zeitung? Hörst kein Radio und schaust nicht fern?«

»Doch, schon, aber anscheinend nicht die gleichen Ressorts wie du.«

Kolonja wurde nicht müde, Anna mit ihrem »Kulturtick« aufzuziehen. Bücher, Theater, Kulturradio, all das war ihm zuwider, er empfand ein tiefes Misstrauen gegen alles, was im Entferntesten mit Kunst und Kultur zu tun hatte.

»Jetzt sag schon, wer ist der Typ?«

»Xaver Pucher ist – Verzeihung war – der Shooting-Star der deutschsprachigen Literaturszene. Sein letzter Roman Herodots wilde Reisen ist überall besprochen worden und verkauft sich wie warme Semmeln.«

»Entschuldigen Sie, wenn ich Ihre Literaturvorlesung unterbreche, aber möchten Sie vielleicht einen Blick auf das Opfer und den Tatort werfen?«

Kollege Kronenburger wird langsam ungeduldig, er sehnt sich wohl nach der Wärme der St. Pöltener Amtsstube, nach Kaffee und Kipferl, dachte Anna, stapfte an ihm vorbei durch den inzwischen völlig aufgeweichten Boden und zog sich am Haltegriff des Waggons in den hell erleuchteten Zug. Der Tote lag halb im Abteil, halb im Zuggang, bedeckt mit einem makellos weißen Leintuch der Österreichischen Bundesbahnen. Anna ärgerte sich, dass sie so spät dran war, sie fühlte sich betrogen um den ersten Eindruck, das Gespür für einen Fall, das entsteht, wenn man ein Opfer so sieht, wie es sein Mörder hinterlassen hat. Dieses Zugabteil hatte nicht mehr viel mit einem Tatort zu tun, und auch der Tote, der so akkurat unter seinem Laken lag, sah irgendwie seltsam normal aus. So, als müsse er hier liegen. Anna hob [19] vorsichtig das Tuch an, und das Gesicht erinnerte nur vage an das des jungen Schriftstellers, den sie ein paar Wochen zuvor bei einer Signierstunde in einer großen Wiener Buchhandlung gesehen hatte. Jung hatte er da ausgesehen, sein...