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Lila, Lila

Martin Suter

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257603330 , 352 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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11,99 EUR


 

[13] 3

Marie Berger war mit Lars im Raumschiff essen gegangen, ein Versöhnungsessen, wie er es nannte.

Sie brauchte kein Versöhnungsessen, denn sie hatte keinen Streit. Lars war einfach ein Mißverständnis. Aber weil er so unglücklich dreingeschaut hatte und es Dezember war und auch sie nicht gegen die Tristesse des Weihnachtsrummels gefeit, hatte sie zugesagt.

Das war ein Fehler gewesen. Der Tag der Verabredung überraschte sie mit einem Frühlingshimmel und einem Lüftchen voller Süden. Nicht das Wetter für eine Aussprache mit einem Verflossenen, der noch nicht wußte, daß er einer war.

Am liebsten hätte sie ihm abgesagt, aber sie konnte ihn nicht erreichen, er hatte sein Handy ausgeschaltet. In weiser Voraussicht, wie sie vermutete.

Das Raumschiff war ein zu großes, zu lautes, zu teures Designerlokal, nicht Maries Welt. Schon eher die von Lars, der Nationalökonomie studierte und im Vertrauen auf eine große Wirtschaftskarriere schon einmal etwas über seine Verhältnisse lebte.

Als Marie eintraf – pünktlich, denn sie wollte den Abend nicht mit dem Handicap beginnen, zu spät gekommen zu sein –, saß Lars schon an einem Tischchen mitten im [14] Getümmel. Er sprang auf und winkte mit beiden Armen, wie ein Schwimmer in Not. Sie steuerte auf seinen Platz zu und versuchte, die Gäste zu ignorieren, die sie, ohne ihre Gespräche zu unterbrechen, mit einem Seitenblick taxierten.

Lars empfing sie stehend und bot ihr seinen Platz an. »Von hier aus siehst du die Leute.«

»Die interessieren mich nicht«, entgegnete sie. Erst als sie sich mit dem Rücken zum Lokal gesetzt hatte, wurde ihr klar, daß er die Bemerkung nicht als Kritik am Lokal, sondern als Kompliment an ihn verstanden hatte. Er setzte sich ihr gegenüber, faltete die Hände unter dem Kinn und schaute ihr lächelnd in die Augen.

»So habe ich das nicht gemeint, Lars.«

»Wie?«

Wenn er sich dabei nicht so unwiderstehlich gefunden hätte, hätte sie es ihm bestimmt schonender beigebracht. So aber sagte sie: »Ich wollte damit nicht sagen, daß mich dein Anblick mehr interessiert.«

Eigentlich hätte sie jetzt aufstehen und gehen sollen. Aber Lars blickte sie so erschrocken an, daß sie dem Satz mit einem kleinen Lächeln etwas von seiner Schroffheit nahm. Er lächelte erleichtert zurück, winkte einem Kellner und bestellte zwei Glas Champagner.

Wenn er sie gefragt hätte, hätte Marie gerne ein Glas Champagner genommen. Aber jetzt sagte sie: »Mir lieber ein Mineralwasser.«

Marie Berger war vierundzwanzig. Seit etwas über einem Jahr ging sie wieder zur Schule. Sie wollte das Gymnasium abschließen, das sie mit sechzehn aufgegeben hatte, um [15] eine Ausbildung als Dekorateurin anzufangen. Um ihr kreatives Potential auszuschöpfen, wie sie ihrer Mutter erklärt hatte.

Marie hatte fast fünf Jahre gebraucht, um ihrer Mutter recht geben zu können, daß das ein Fehler gewesen war. Und sie zu bitten, sie bis zum Abschluß der Schule wieder in ihrer Dreizimmerwohnung aufzunehmen. So sparte Marie sich die Miete. Die Kosten für die Ausbildung und was sie zum Leben brauchte, bezahlte sie aus ihrem Ersparten und dem Honorar, das ihr drei Stammkunden für die monatliche Schaufensterdekoration bezahlten. Ein Laden für Modeschmuck, eine Boutique für Designermode und ein Apotheker, der sich weigerte, die Werbedisplays der Pharmaindustrie in die Fenster zu stellen.

Vielleicht hätte sie mit einem andern Job mehr verdient, aber Schaufenster dekorieren besaß den Vorteil, daß es sich mit dem Schulbetrieb vereinbaren ließ. Und auch den, daß es sie immer wieder daran erinnerte, welchen Beruf sie auf keinen Fall mehr ausüben wollte. Sie hatte schon während der Lehre ihre Liebe zu Büchern entdeckt und wollte diese zu ihrem Beruf machen, indem sie Literatur studierte.

»Das ist, als ob du aus Liebe zur Gerechtigkeit Jura studieren wolltest«, hatte ihr Vater gesagt, als sie ihn fragte, ob er allenfalls bereit wäre, sich an den Kosten des zweiten Bildungswegs zu beteiligen. Ein ziemlich hoffnungsloses Unterfangen, denn er hatte sich seit der Scheidung auch am ersten nur widerwillig beteiligt.

Das Leben mit ihrer Mutter war nicht einfach. Nicht aus den üblichen Gründen. Myrtha, so mußte sie ihre Mutter seit frühster Kindheit nennen, mischte sich nicht in ihre [16] Angelegenheiten. Im Gegenteil, sie ließ Marie ihr Leben leben und lebte ihres. Und das war es, was das Zusammenleben immer öfter schwierig gestaltete. Myrtha führte für Maries Geschmack ein etwas zu aktives Liebesleben. Immer wieder mußte Marie aus der kleinen Wohnung flüchten, um die Schäferstündchen ihrer Mutter nicht zu stören. Nicht, daß es Myrtha peinlich gewesen wäre. Marie war es peinlich.

An einem solchen Abend hatte sie auch Lars kennengelernt. Ihre Mutter war kurz nach zehn mit einem dänischen Reiseführer – sie arbeitete in einem Reisebüro – nach Hause gekommen, und Marie hatte die Harmonie mit der Bemerkung »der hat doch bestimmt ein Hotelzimmer« gestört. Ihre Freundin Sabrina, die ihr in solchen Momenten jeweils Unterschlupf bot, gab Marie am Telefon zu verstehen, daß sie sich in einer ähnlichen Situation wie Myrtha befand.

So landete sie im Bellini, einer Bar, in der sie meistens jemanden traf, den sie kannte.

Aber an diesem Abend war im ganzen Bellini kein bekanntes Gesicht zu entdecken. Marie setzte sich an die Bar und trank ein Glas Asti. Und als der Barmann ihr nach einer Viertelstunde »von dem Herrn vis-à-vis« ein zweites brachte, lehnte sie es nicht ab und schickte dem Spender ein Lächeln über den Tresen. So kam sie mit Lars ins Gespräch.

Es war nicht Maries Art, sich in einer Bar aufreißen zu lassen. Aber an jenem Abend fühlte sie sich so ausgestoßen, daß sie Lars nach kurzer Zeit fragte: »Hast du eine eigene Wohnung, oder teilst du sie mit jemandem?«

[17] Daß sie Lars danach wieder traf, lag allein daran, daß sie sich aus Prinzip auf keine one-night-stands einließ.

So setzte sich die Reihe von Mißverständnissen fort. Beinahe zwei Monate, in denen sie es nicht schaffte, ihm reinen Wein einzuschenken. Kam dazu, daß es sich um November und Dezember handelte, die beiden Monate, in denen Myrtha ihre gefürchtete Jahresschlußdepression auslebte und Marie lieber einen Bogen um sie machte. Und kam auch dazu, daß Lars zwar nicht ihr Typ, aber ein großzügiger Restaurantbegleiter und guter Liebhaber war.

Daß sie sich nicht eingestehen wollte, daß die beiden letzteren Gründe eine Rolle spielten, hatte weiter dazu beigetragen, die Affäre in die Länge zu ziehen.

Und dann natürlich auch Lars selber. Seine Mischung aus Arroganz und Verletzlichkeit. Als hätten in den sechsundzwanzig Jahren seines Lebens weder er noch sonst jemand je an ihm gezweifelt. Beim kleinsten Verdacht, es könnte möglich sein, ihn nicht vorbehaltlos zu lieben und zu bewundern, stand er den Tränen nahe. Das machte es für Marie nicht einfacher, ihm den Laufpaß zu geben. Sie war in der Praxis weniger kühl als in der Theorie.

Deswegen war sie dankbar gewesen für den Vorwand, sich zurückzuziehen. Es war um die Börse gegangen. Lars hatte ihr im Detail den Unterschied zwischen einem Bullen- und einem Bärenmarkt erklärt, und sie hatte sich dabei ostentativ gelangweilt. Plötzlich hatte er seine Ausführungen pikiert abgebrochen mit der Bemerkung: »Entschuldige, das interessiert dich wohl nicht.«

Sie hatte geantwortet: »Das ist untertrieben. Es kotzt mich an. Ich verachte Leute, die daran Geld verdienen, daß [18] Firmen Leute entlassen, damit sie höhere Gewinne erzielen.«

Einen Moment war er fassungslos gewesen. Dann hatte er ihr das Stichwort geliefert: »Dann verstehe ich nicht, wie du mit einem Mann der Wirtschaft zusammensein kannst.« Mann der Wirtschaft!

»Das verstehe ich allerdings auch nicht«, hatte sie festgestellt und war gegangen.

Und jetzt saß sie also mit Lars im Raumschiff und mußte das Mißverständnis aufklären. Der Kellner brachte den Champagner für ihn und Mineralwasser für sie. Sie bereute es, daß sie ihre Unabhängigkeit nicht wenigstens mit einem Cocktail demonstriert hatte.

Der einzige Wandschmuck des Lokals bestand aus verschiedenfarbigen Streulichtern. Aus riesigen Boxen pulsierte der sture Beat der Chill-Out-Musik.

»Ich weiß nicht, ob man mit Champagner und Mineralwasser anstoßen darf«, sagte Lars.

»Ich wußte nicht, daß es auch dafür Vorschriften gibt.«

»Also stoßen wir an?«

»Von mir aus.«

Als sich die Gläser berührten, fragte Lars: »Frieden?«

Marie stellte das Glas ab. »Wir haben keinen Streit, Lars. Wir passen nicht zusammen.«

»Wir ergänzen uns.«

Marie seufzte. »Ich suche nicht die große Ergänzung. Ich suche die große Liebe.«

Lars schwieg.

»Mach nicht so ein Gesicht, es bricht mir das Herz.«

[19] »Dann besteht ja noch Hoffnung.«

Marie nahm Lars’ Champagnerglas und hielt es einem vorbeigehenden Kellner entgegen. Dieser nickte.

Schweigend warteten sie, bis er ihr auch ein Glas gebracht hatte. Marie hob es. »Laß uns auf die vergangenen Wochen anstoßen und die Sache wie zwei Erwachsene zu Ende bringen.«

Aber das war zuviel verlangt von Lars. Während der Vorspeise bettelte er, beim Hauptgang machte er ihr Vorwürfe und beim Kaffee hatte er es geschafft, der Sache den Anschein zu geben, als sei er es, der sie loswerden wolle. Das ärgerte sie zwar, aber es hatte den Vorteil, daß sie sich nicht verpflichtet fühlte, die Rechnung zu teilen. Sie hätte nämlich nicht...