dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Eine Mittelgewichts-Ehe

John Irving

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257601275 , 288 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

9,99 EUR


 

[9] 1.

Der Engel namens
»Das Lächeln von Reims«

Meine Frau Utschka (deren Namen ich vor einiger Zeit zu Utsch verkürzt habe) könnte einer Zeitbombe Geduld beibringen. Mit etwas Glück hat sie mir ein bißchen beigebracht. Utsch, so könnte man sagen, lernte unter Zwang Geduld. Sie wurde 1938, im Jahr des Anschlusses, in Eichbüchl, Österreich, geboren – einem kleinen Dorf außerhalb der proletarischen Stadt Wiener Neustadt, die eine Autostunde von Wien entfernt liegt. Als sie drei war, wurde ihr Vater als bolschewistischer Saboteur umgebracht. Es ist unbewiesen, daß er Bolschewist war, aber er war ein Saboteur. Bis zum Ende des Krieges wurde Wiener Neustadt zur größten Landebahn in Europa und zum unfreiwilligen Standort der deutschen Messerschmitt-Fabrik. Utschs Vater wurde 1941 umgebracht, als man ihn dabei erwischte, wie er auf der Rollbahn von Wiener Neustadt Messerschmitts in die Luft sprengte.

Die örtliche SS-Standarte von Wiener Neustadt stattete Utschs Mutter in Eichbüchl einen Besuch ab, nachdem Utschs Vater erwischt und umgebracht worden war. Die SS-Männer sagten, sie seien gekommen, um das Dorf vor der »Saat des Verrats« zu warnen, die in Utschs Familie offenbar reichlich aufging. Sie sagten den Dorfbewohnern, sie sollten Utschs Mutter sehr genau im Auge behalten, um sicherzugehen, daß sie keine Bolschewistin war wie ihr verstorbener Mann. Dann vergewaltigten sie Utschs Mutter und stahlen aus dem Haus eine hölzerne Kuckucksuhr, die Utschs Vater in Ungarn gekauft hatte. Eichbüchl liegt ganz dicht an der ungarischen Grenze, und der ungarische Einfluß ist überall erkennbar.

[10] Einige Monate nachdem die SS abgezogen war, wurde Utschs Mutter erneut vergewaltigt, und zwar von einigen Männern aus dem Dorf, die, als man sie wegen ihrer Gewalttat verhörte, behaupteten, sie hätten sich an die Anweisungen der SS gehalten: Utschs Mutter sehr genau im Auge zu behalten, um sicherzugehen, daß sie keine Bolschewistin war. Sie wurden nicht unter Anklage gestellt.

1943, als Utsch fünf war, verlor Utschs Mutter ihre Stelle in der Klosterbibliothek im nahegelegenen Katzelsdorf. Man deutete an, daß sie Jugendlichen entartete Bücher andrehen könnte. Tatsächlich war sie des Bücherdiebstahls schuldig, aber dessen bezichtigten sie sie nie, noch kamen sie je dahinter. An das kleine Steinhaus, in dem Utsch geboren wurde – am Ufer eines Flusses, der durch Eichbüchl fließt –, schloß sich ein Hühnerstall an, den Utschs Mutter versorgte, und ein Kuhstall, den Utsch seit ihrem fünften Lebensjahr täglich ausmistete. Das Haus war voller gestohlener Bücher; es war eigentlich eine theologische Bibliothek, obwohl sich Utsch ihrer eher als einer Kunstbibliothek erinnert. Die Bücher waren riesige, plakatgroße Register der Kirchen- und Kathedralenkunst – Bildhauerei, Architektur und Kirchenglas – von einiger Zeit vor Karl dem Großen bis zum späten Rokoko.

Am frühen Abend, wenn es dunkel wurde, half Utsch ihrer Mutter die Kühe melken und die Eier einsammeln. Die Dorfbewohner bezahlten die Milch und die Eier mit Wurst, Decken, Kohl, Holz (selten Kohle), Wein und Kartoffeln.

Glücklicherweise war Eichbüchl weit genug von dem Messerschmitt-Werk und der Landebahn in Wiener Neustadt entfernt, um den meisten Bombenangriffen zu entgehen. Bei Kriegsende warfen die alliierten Flugzeuge auf diese Fabrik und diese Landebahn mehr Bomben ab als auf jedes andere Ziel in Österreich. In der verdunkelten Nacht lag Utsch in dem Steinhaus bei ihrer Mutter und hörte das Rums! Rums!

[11] Rums! der in Wiener Neustadt fallenden Bomben. Manchmal flog ein angeschossenes Flugzeug niedrig über das Dorf, und einmal wurde zur Blütezeit Haslingers Apfelgarten bombardiert; die Erde unter den Bäumen war mit Apfelblütenblättern dichter als Hochzeitskonfetti übersät. Das geschah, bevor die Bienen die Blüten befruchtet hatten, und so war die Herbst-Apfelernte ruiniert. Frau Haslinger wurde vorgefunden, wie sie mit einer Heckensichel auf sich einhackte, im Mostkeller, wo man sie mehrere Tage lang einschließen mußte – gefesselt in einer der großen, kühlen Apfelhorden, bis sie wieder zur Besinnung kam. Während ihres Eingesperrtseins, behauptete sie, sei sie von einigen Männern aus dem Dorf vergewaltigt worden, aber man hielt das für ein Hirngespinst aufgrund ihrer Geisteszerrüttung beim Verlust der Apfelernte.

Es war kein Hirngespinst, als die Russen 1945, als Utsch gerade sieben war, nach Österreich kamen. Sie war ein hübsches kleines Mädchen. Ihre Mutter wußte, daß die Russen schrecklich zu Frauen und freundlich zu Kindern waren, aber sie wußte nicht, ob sie Utsch als Frau oder als Kind betrachten würden. Die Russen kamen durch Ungarn und von Norden her und wüteten besonders in Wiener Neustadt und Umgebung, wegen des Messerschmitt-Werkes und all der hohen Offiziere der Luftwaffe, die sie dort vorfanden.

Utschs Mutter brachte Utsch in den Kuhstall. Es waren nur noch acht Kühe übrig. Sie ging zur größten Kuh hinüber, deren Kopf in ihrem Fanggatter feststeckte, und schnitt ihr die Kehle durch. Als die Kuh tot war, machte sie den Kopf vom Fanggatter los und wälzte die Kuh auf die Seite. Sie schnitt den Bauch der Kuh auf, zog die Eingeweide heraus und säbelte den Anus heraus und bedeutete Utsch sodann, sich zwischen den ausgehöhlten Rippenbögen der großen Kuh hinzulegen. Sie stopfte so viele von den Innereien in die Kuh zurück, wie hineinpaßten, und brachte den Rest nach [12] draußen in die Sonne, wo sie Fliegen anlocken würden. Sie schloß die aufgeschlitzten Bauchlappen der Kuh wie einen Vorhang um Utsch; sie sagte Utsch, sie könne durch den herausgeschnittenen Anus der Kuh atmen. Als die Gedärme, die in der Sonne gelegen hatten, Fliegen anlockten, brachte Utschs Mutter sie in den Kuhstall zurück und verteilte sie auf dem Kopf der toten Kuh. Mit den um ihren Kopf schwirrenden Fliegen sah die Kuh so aus, als sei sie schon lange tot.

Dann sprach Utschs Mutter durch das Arschloch der Kuh mit Utsch. »Rühr dich nicht und mach keinen Mucks, bis jemand dich findet.« Utsch hatte eine mit Kamillentee und Honig gefüllte, große, schlanke Weinflasche und einen Strohhalm. Davon sollte sie trinken, wenn sie durstig war.

»Rühr dich nicht und mach keinen Mucks, bis jemand dich findet«, sagte Utschs Mutter.

Utsch lag zwei Tage und zwei Nächte lang im Bauch der Kuh, während die Russen das Dorf Eichbüchl verwüsteten. Sie schlachteten alle anderen Kühe im Stall, und sie brachten auch ein paar Frauen in den Stall, und sie schlachteten dort außerdem ein paar Männer, aber der toten Kuh mit Utsch darin kamen sie nicht zu nahe, weil sie meinten, die Kuh sei schon lange tot und ihr Fleisch sei verdorben. Die Russen benutzten den Stall für eine Menge Scheußlichkeiten, aber Utsch machte keinen Mucks und rührte sich nicht im Bauch der Kuh, wo ihre Mutter sie untergebracht hatte. Selbst als ihr der Kamillentee ausging und die Innereien der Kuh trockneten und um sie herum hart wurden – und all die glitschigen Gedärme an ihr festklebten –, rührte Utsch sich nicht und machte keinen Mucks. Sie hörte Stimmen; es war nicht ihre Sprache, und sie gab keine Antwort. Die Stimmen klangen angewidert. Die Kuh wurde angestochen; die Stimmen stöhnten. An der Kuh wurde gezerrt und geruckt; die Stimmen grunzten – manche Stimmen würgten. Und als die Kuh hochgezogen wurde – die Stimmen machten hau ruck! –, glitschte Utsch in einer klebrigen Masse heraus, die in den [13] Armen eines Mannes mit schwarzem Schnurrbart und rotem Stern an seiner grau-grünen Mütze landete. Er war Russe. Er fiel mit Utsch in den Armen auf die Knie und schien ohnmächtig zu werden. Andere Russen um ihn herum nahmen ihre Mützen ab; sie schienen zu beten. Jemand brachte Wasser und wusch Utsch. Ironischerweise waren sie die Sorte Russen, die freundlich zu Kindern waren, und hielten Utsch keineswegs für eine Frau; tatsächlich hielten sie sie zunächst für ein Kalb.

Nach und nach wurde klar, was geschehen war. Utschs Mutter war vergewaltigt worden. (Fast jedermanns Mutter und Tochter waren vergewaltigt worden. Fast jedermanns Vater und Sohn waren umgebracht worden.) Dann hatte eines Morgens ein Russe beschlossen, den Stall niederzubrennen. Utschs Mutter hatte ihn angefleht, es nicht zu tun, aber ihre Verhandlungsposition war schwach; sie war schon vergewaltigt worden. So war sie gezwungen gewesen, den Russen mit einem Feldspaten umzubringen, und ein anderer Russe war gezwungen gewesen, sie zu erschießen.

Nach und nach reimten die Russen es sich zusammen. Das mußte das Kind dieser Frau sein, die nicht gewollt hatte, daß der Stall niedergebrannt wurde, und zwar weil… Der Russe, der die glitschige Utsch mit den Armen aufgefangen hatte, als die verwesende Kuh auf einen Lastwagen geworfen wurde, kam darauf. Außerdem war er Offizier, ein Georgier von den Ufern des aalglatten Schwarzen Meeres; man hat dort eigenartige Redewendungen und haufenweise Slangausdrücke. Einer davon ist utsch – Kuh. Ich habe mich erkundigt, und die einzige Erklärung ist, daß utsch für verschiedene saloppe Georgier das Geräusch imitiert, das eine Kuh macht, wenn sie kalbt. Und utschka? Na, das ist natürlich ein Kalb, und so nannte der georgische Offizier das kleine Mädchen, das ihm aus dem Leib der Kuh geboren wurde. Und es ist ja wohl klar, daß eine Frau Mitte Dreißig keine Utschka mehr sein kann, also nenne ich sie Utsch.

[14] Ihr wirklicher Name war Anna Agathe Thalhammer, und nachdem der georgische Offizier die...