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Liebesbeweise

Barbara Vine

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257601145 , 416 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

[7] 1

Wenn man in Rom ist (sagte Sandor), muß man über die Via Condotti gehen, Geschäfte anschauen. Denn da ist das Geld, und die Fenster sind voll von schönen Dingen.

»Was heißt das?« fragte ich. »Was ist das, die Via Condotti?«

»Kidnap-Straße.«

»Im Ernst?« fragte ich. »Heißt die wirklich so?«

Er lachte nur, wie es seine Art ist. Dann erzählte er die Geschichte weiter, die erste Geschichte, die er mir je erzählt hat. Wenn du ein Geschäft in der Via Condotti hast, sagte er, hast du es geschafft, dann bist du reich, ein Schaufenster in der schicksten Einkaufsstraße Roms ist ein sicheres Zeichen von Wohlstand.

Dort gibt es den Juwelier Bulgari. Ein Mitglied der Familie Bulgari wurde 1975 entführt und gegen Zahlung eines Lösegeldes von 650 000 Pfund freigelassen. Das heißt, das Lösegeld war in italienischem Geld, sagte Sandor, aber soviel war es in Pfund. Acht Jahre später wurden noch mal zwei Mitglieder der Familie entführt, die kamen für eindreiviertel Millionen Pfund frei. Wenn man auf dieser Straße weitergeht, kommt man zu Piatelli, Herrenbekleidung. Barbara Piatelli wurde entführt, fast ein Jahr lang festgehalten und für 500 000 Pfund auf freien Fuß gesetzt.

Gegenüber ist Fürst Piraneso, der Parfümeur. Ob ich [8] schon mal von den Parfüms gehört hätte, die so heißen, fragte Sandor. Nein, sagte ich, von so Sachen hatte ich noch nie gehört, natürlich nicht, und benutzt hatte ich sie schon gar nicht.

»Haben sie den auch entführt?« fragte ich.

»Ihn nicht. Seine Frau.«

»Und wie war das mit ihr?«

Ganz träumerisch, als wäre er mit seinen Gedanken weit weg, sagte er: »Das war gegen Ende der Kidnapping-Ära. Erst vor fünf Jahren. Das Goldene Zeitalter des Menschenraubs war vorbei, sogar in Italien.«

Ich sah ihn erwartungsvoll an. Eigentlich war es gar keine richtige Geschichte. Mehr ein Bericht, eine Darstellung. Nicht wie die Geschichten von der Señora Santa Anna oder von Lichnikoff, die einen Anfang und ein Ende hatten. Aber da wußte ich schon, daß man Sandor nicht drängen darf. Daß er erzählt, wie und wann es ihm paßt. Daß man es ihm überlassen muß, ob er über etwas reden oder ob er es nie mehr zur Sprache bringen will. Er zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich mit halb geschlossenen Augen zurück. Ich sah ihn an. Drei oder vier Tage war meine Liebe jetzt alt, ich spürte, wie sie sich in mir regte, und wie ich ihn so ansah, stieg sie immer höher, wurde immer stärker, als ob sie mit einem Schrei aus meinem Mund herausfahren wollte. Ich legte die Hand über die Lippen und saß da und sah ihn an.

Am nächsten Tag gingen wir zusammen weg. Es war wohl das erste Mal, daß Sandor mich herumführte; er zeigte mir die Stadt, in der ich geboren bin und die ich doch nie richtig gesehen habe. Wir fuhren U-Bahn; ich [9] sollte mich wieder daran gewöhnen, und ich merkte, wie er mich beobachtete, weil er wissen wollte, ob alles in Ordnung war. Oxford Street, im Wind treibender Schnee, der auf den warmen Gehsteigen schmolz.

»Wohl kaum eine Via Condotti«, sagte er.

Ich wußte nicht, wie er das meinte. Menschen und Geschäfte gab es genug. Vielleicht meinte er das Geld. Die Kauflust war schon da, das spürte man, aber es haperte am Geld. Wir gingen in ein großes Warenhaus. Schon von weitem roch man die Abteilung, wo es die Parfüms gibt, die Puder und Cremes und solche Sachen. So stelle ich mir das in exotischen Ländern vor, wenn man zu einem tropischen Garten kommt und ihn noch nicht sehen kann. Sandor führte mich zu einem Tresen, wo alles, was es zu kaufen gab, Fürst Piraneso hieß. Die Sachen für die Frauen waren auf der einen Seite und die für die Männer auf der anderen. Ein Mädchen mit einem Kristallglasflakon in der Hand sprühte mich mit Parfüm an und Sandor auch, und ich staunte nicht schlecht, weil das Sandor offenbar gar nichts ausmachte, er war überhaupt nicht böse. Er hielt sich sogar sein Handgelenk an die Nase und roch daran und lächelte ein bißchen.

Die Sachen für die Frauen waren hellblau verpackt und die für die Männer rot. Sie waren so teuer, daß sie eigentlich viel zu schade fürs Gesicht waren, von Rechts wegen hätte man das Zeug essen müssen. Von diesem Fürsten gab es keine Bilder, nur von weiblichen Models und von einem Mann, der, wie ich fand, Sandor sehr ähnlich war, aber als ich ihm das sagte, schüttelte er den Kopf und runzelte die Stirn. Er machte mich besonders auf ein kleines Photo in [10] einem Oval mit Goldrahmen aufmerksam, das war auf dem Deckel von einer großen Puderschachtel, ein ganz kleines Bild von einem blonden Mädchen mit ganz viel goldenem Haar in einer Hochsteckfrisur mit Perlenschnüren. Sandor stieß mich fast mit der Nase drauf, damit ich es genau sehen konnte.

Wir standen so lange da, daß das Mädchen mit dem Kristallglasflakon uns noch mal ansprühte, aber diesmal fand Sandor das gar nicht gut, er sah sie finster an.

»Komm jetzt, Klein-Joe«, sagte er zu mir. »Das reicht für heute.«

Zu der Zeit wohnte ich schon seit fast einer Woche in Sandors Zimmer in Shepherd’s Bush. Nun hatte ich abends was zu denken, wenn er las. Damals habe ich wohl damit angefangen, über den vergangenen Tag nachzudenken und vielleicht noch über den davor und über alles, was passiert war, und die Sachen, die Sandor mir beigebracht hatte. Meist hatte ich auch neue Worte gelernt, die sagte ich dann leise vor mich hin. Es war ein ziemlich großes Zimmer im ersten Stock, mit einem Doppelbett und einem Stuhl und einem Möbel, das Chaiselongue heißt. Wenn ich an all die Sachen denke, die ich damals zum ersten Mal gemacht und erlebt habe, dann war das, glaube ich, das erste neue Wort, das Sandor mir beigebracht hat. Daß so ein komisches Sofa, sehr hart und unbequem, mit einer Rückenlehne wie das gepolsterte Kopfteil von einem Bett, eine Chaiselongue ist. Die ersten Nächte habe ich auf diesem Ding verbracht, aber so nach einer Woche sagte Sandor vom Bett aus: »Meinetwegen kannst du zu mir rüberkommen.«

[11] Ich schlief ganz am Rand, um ihn in der Nacht nicht anzufassen. Ich hätte ihn sehr gern in der Nacht angefaßt, nur um ganz nah bei ihm zu sein, nicht irgendwie häßlich, nichts mit Sex oder so, sehr sehr gern hätte ich das gemacht, aber das war nun mal nicht möglich. Einmal rollte ich aus Versehen zu ihm hinüber. Er wachte auf und sagte schreckliche Sachen, machte mir Vorwürfe, die mir furchtbar weh taten, und dann schlug er mich ins Gesicht, erst auf die eine Wange, dann auf die andere, mit harten Händen, hart wie ein Gewehrkolben. Die Erinnerung an diese Worte und diese Schläge haben wohl in mein Unterbewußtsein so was wie einen Daueralarm eingebaut, denn nachts, wenn mein Körper dem Schlaf nachgeben will und der Sehnsucht, ertönt ein Warnsignal in meinem Kopf, und ein Ruck geht durch meine Muskeln und hält sie zurück.

Mittlerweile war ich mir über meine Gefühle für Sandor schon klargeworden. Natürlich war ich dankbar. Und ich bewunderte ihn wegen seines Aussehens und seiner Art zu reden. Aber es war auch Liebe. Ich hatte das Gefühl, daß ich mein Leben lang jemanden gesucht hatte, den ich lieben konnte, der irgendwo auf mich wartete, und dieser Jemand war Sandor. Natürlich hatte ich Tilly liebgehabt, ich habe sie immer noch lieb, auch wenn ich sie jetzt seit Monaten nicht mehr gesehen habe, aber so wie ich Sandor liebe – es klingt verrückt, denn er ist ja nur zwei Jahre älter als ich – also ich glaube, so könnte ein Kind seinen Vater lieben. Zu Hause, bei Mams und Paps, wurde über Liebe nicht gesprochen, das Wort ist nie gefallen. Es gab Leute, die »mochte« man, die »konnte man gut leiden«, an denen »hing man«, wie Mams sagte, und das war dann schon das [12] höchste der Gefühle, aber Liebe, nein, ich glaube, Liebe war für die beiden was Sexuelles, und Sex gab es für sie nur, wenn das Licht aus war. Oder in Witzen.

Viel schwerer zu verstehen ist, was Sandor an mir findet. Ich mag im Moment gar nicht an das denken, was mich hauptsächlich zu dem gemacht hat, was ich bin, vor allem nicht an diese letzte Sache, vor der Sandor mich gerettet hat, aber ich will gern zugeben, daß ich praktisch total ungebildet bin und daß ich ehrlich gesagt nichts zu geben habe. Oder besser gesagt: nichts zu bieten. Meine Liebe, ja, die könnte ich ihm geben, aber ich glaube eigentlich nicht, daß es ihm um die zu tun ist. Vielleicht gefällt ihm ja meine Anhänglichkeit (auch einer dieser Ausdrücke von Mams) und daß ich ihm so bereitwillig in allem folge. Oder vielleicht braucht er einen Diener. Ich verdanke ihm mein Leben, weil er es mir damals gerettet hat, und er hat mir erklärt, was das bedeutet: daß ich ihm angehöre und zu tun habe, was er mir sagt.

Das Neueste ist, daß ich mir einen Bart stehenlassen soll. Ob er davon anfing, ehe er mir die nächste Geschichte oder nachdem er mir den ersten Teil der letzten Geschichte erzählt hatte, weiß ich nicht mehr genau, es ist wohl auch nicht weiter wichtig. Damals dachte ich, Sandor hätte mal wieder meine Gedanken gelesen. Es war mir ein bißchen peinlich, daß ich einen dieser Bic-Rasierer benutzte, diese orangefarbenen Plastikdinger, die man in Zehnerpackungen kaufen kann, während Sandor so elegant und fachmännisch mit dem Rasiermesser seines Urgroßvaters hantierte. Es war, als wenn er mich nicht in Verlegenheit bringen wollte.

[13] »Ich hab noch nie einen Bart gehabt«, sagte ich.

»Dann wird’s aber langsam Zeit, Klein-Joe«, sagte er.

Wenn ich diesen Namen höre, wird mir immer...