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Liebe pur

Yael Hedaya

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257603033 , 224 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

[79] 17

Kurz vor Mitternacht kam der Mann nach Hause. Er hatte eine Einzimmerwohnung im Parterre, mit einer kleinen Küche, einem kleinen Bad zum Duschen und einem japanischen Paravent mit schneebedeckten Bergen, der sein Doppelbett vom übrigen Zimmer abschirmte. Er war länger als achtundvierzig Stunden nicht bei sich zu Hause gewesen, und die kleine Wohnung empfing ihn beleidigt und strafte ihn mit Staub, stickiger Luft und dem Geruch von Moder und schmutzigen Socken. Unter dem Fensterbrett sah er den Blumentopf mit dem Bonsai, den er einmal von der Freundin geschenkt bekommen hatte, in Scherben auf dem Fußboden liegen. Der starke Herbstwind, der am Abend eingesetzt hatte, mußte das Fenster zugeschlagen und die Pflanze hinuntergefegt haben. Das Bäumchen war noch heil, an den knorrigen Wurzeln hingen Bröckchen von Erde, doch der Tontopf war zersprungen.

Er hob den Bonsai auf und legte ihn sanft auf das Bett, dann hörte er den Anrufbeantworter ab. Ganze fünf Nachrichten, das enttäuschte ihn. Immerhin war er mehr als zwei Tage nicht zu Hause gewesen. Die erste Nachricht war von der Kupplerfreundin, die sich erkundigte, wie es so gehe und wie das blind date gewesen sei, und daß sie vor Neugier platze. Die zweite stammte von einer der Produktionsassistentinnen, einer jungen Frau von zweiundzwanzig Jahren, mit der er im letzten Winter eine kurze Affäre gehabt hatte. Sie informierte ihn darüber, daß auch am morgigen Tag nicht gedreht würde. Der dritte Anruf war von [80] seinem besten Freund, der nachfragte, ob er am Freitag zum Abendessen kommen wolle, und ihm mitteilte, daß die Kleine ihn vermisse, der vierte war noch einmal die Freundin, die wissen wollte, wo er denn stecke und wohin er sich abgesetzt habe. Der letzte Anruf stammte von der Frau.

Es war eine lange und verwirrte Nachricht: Sie entschuldigte sich für die späte Uhrzeit, ohne diese zu nennen, und der Mann folgerte, daß sie vor nicht langer Zeit angerufen haben mußte. Sie sagte, dem Hund sei etwas Furchtbares zugestoßen. Und daß sie an allem schuld sei. Sie erzählte, wie sie ihm auf dem Markt einen Knochen gekauft und der Hund ihn abgenagt habe. Alles sei in bester Ordnung gewesen, bis er plötzlich zu ersticken drohte. Nun huste und röchle er, und sie wisse nicht, was sie tun solle. Sie habe keine Ahnung, wen sie rufen könnte. Es sei beängstigend. Womöglich würde er sterben. Sie bat ihn, so schnell wie möglich vorbeizukommen, wenn er die Nachricht abgehört habe. Dann herrschte Stille, und er hörte nur ihre Atemzüge und dann das Geräusch vom Auflegen des Hörers – als hätte sie Angst davor, aufzulegen, als müßte der Hund sterben, wenn sie auflegte.

Er hätte gerne zurückgerufen, hatte aber ihre Nummer nicht. Es war zwecklos, sie bei der Auskunft zu erfragen, da die Frau zur Miete* [* In Israel ist der Eigentümer der Wohnung auch Eigentümer des Telefonanschlusses, und somit steht nur er im Telefonbuch. (A.d.Ü.)] wohnte und somit nicht registriert war. Er hätte zu gerne gewußt, ob der Hund noch lebte, ob es überhaupt noch einen Sinn hatte, bei der Frau [81] vorbeizufahren. Es war mittlerweile Viertel nach zwölf, und die Nachricht mindestens eine halbe Stunde alt. Mit einem im Hals steckengebliebenen Knochen hätte der Hund wohl kaum so lange durchhalten können. Vielleicht war es der Frau inzwischen gelungen, einen Tierarzt aufzutreiben. Vielleicht hatte sie ein Taxi bestellt und den Hund hingefahren. Aber wie dem auch sei, ob der Hund lebte oder tot war, der Mann wußte, er mußte zu ihr. Er verließ die Wohnung, sperrte hinter sich ab, stieg ins Auto und fuhr los.

Die Frau öffnete die Tür und fiel ihm um den Hals. Ein breites Lächeln erhellte ihr Gesicht, doch der Mann wußte nicht, wem sie dankbar war – ihm, daß er gekommen war, um den Hund zu retten, oder einer höheren Macht, die den Knochen aus dem Schlund des Welpen hinausbefördert hatte. Der Welpe hatte eben noch schwanzwedelnd auf dem Sofa gesessen, nun stürzte er sich gleichfalls unter Freudengewinsel auf den Mann. Er wirkte ganz und gar nicht wie ein Hund, der bis vor kurzem in Lebensgefahr geschwebt hatte. Der Mann bat die Frau, ihm den gesamten Vorfall genau zu schildern, doch die Frau meinte, das sei mit Worten nicht zu beschreiben. »Du kannst dir einfach nicht vorstellen, was hier heute abend los war«, erklärte sie und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Der Mann war dennoch neugierig. Er erkundigte sich, wo der Knochen sei, und die Frau deutete in Richtung Küche. Der Mann ging hin und sah die Splitter – als hätte jemand den Knochen mit einem riesigen Hammer zertrümmert. Ihm war unbegreiflich, wie der Welpe das mit seinen kleinen Zähnchen hatte bewerkstelligen können. Daß in einem [82] solch kleinen Hund so viel Kraft steckte, hätte er nicht vermutet. Der Boden war übersät mit großen und kleinen, spitzen Splittern. Welcher davon dem Hund im Hals gesteckt hatte, ließ sich nicht ergründen.

Der Mann sammelte die Splitter ein, kehrte zurück ins Wohnzimmer, setzte sich neben die Frau und hielt sie ihr hin, aber die Frau schlug die Hände vor die Augen: »Hör auf! Ich halte das nicht aus!« Der Mann hob den Hund hoch, damit auch er sich die Splitter ansehe, doch der Hund zeigte keinerlei Interesse. Er wedelte mit dem Schwanz, legte seinen Kopf auf den Oberschenkel des Mannes und schloß die Augen.

»Gib ihm nie wieder einen Knochen«, sagte der Mann und kippte die Splitter enttäuscht auf den Tisch. Die Frau schlang die Arme um ihn: »Nein. Ich habe meine Lektion gelernt. Wie gut, daß du vorbeigekommen bist.«

Im Kabelfernsehen lief ein Horrorfilm, ein alter Schwarzweißfilm, und sie schauten ihn sich an, ohne Ton, nur den übertriebenen Ausdruck von Angst auf den Gesichtern der Protagonisten und die Münder, die jedesmal, wenn das Monster auf sie zukam, zum Schreien aufgerissen wurden. Aber das Monster war gar nicht so beängstigend. Im Gegenteil. Irgendwie war es sogar putzig und herzergreifend. Der Mann spürte die Atemzüge des Hundes auf seinem Oberschenkel und die schweren Atemzüge der Frau an seinem Hals. Er streichelte ihr Haar und fragte sie: »Für wen sind wir eigentlich?«, und die Frau murmelte schlaftrunken: »Für das Monster.«

[83] 18

Die langen Spaziergänge am Strand. Er versuchte jetzt, sich an sie zu erinnern. Es war sein erster Winter gewesen, und alles hatte ihn beeindruckt. Der riesige Schatten, den sie in ihrer Umarmung auf den Gehsteig warfen, sein eigener hinterdreinhechelnder kleiner Schatten, die letzte Ampel, an der die drei lange warten mußten und hinter der die Promenade begann, und das Rennen im Sand, nachdem sie die Straße mit der langen Ampel endlich überquert hatten.

Eingerollt auf dem Betonboden des Zwingers, überkam ihn ein Schauder, als er die Augen schloß und in der Dunkelheit plötzlich klar und gestochen scharf ein Bild erschien: die Welpenversion seiner selbst beim Laufen im Sand. Immer wieder taumelte er, überschlug sich, kam wieder auf die Beine, schüttelte sich und schnaubte, toll vor Freude. Und wenn er den Kopf wandte, sah er hinter sich die beiden, gemächlich schlendernd, händchenhaltend, immer wieder blieben sie stehen, um sich zu küssen, zwei dunkle Punkte, die über ihn wachten, daß er nicht ausbüxte oder verlorenging. Damals war er von allem zutiefst beeindruckt gewesen.

Jetzt aber störte ihn das Gekläffe und Gewinsel seiner Nachbarn in dem Übergangslager, und in dem Lärm, den die anderen Hunde machten, versuchte er angestrengt, die Route, die sie zu dritt von zu Hause zum Strand zurückgelegt hatten, in allen Einzelheiten zu rekapitulieren.

Da war ein Kiosk gewesen. Manchmal hielten sie an, um etwas zu kaufen oder mit dem Inhaber zu plaudern, der ihm dann immer etwas schenkte: ein Stückchen [84] Schokolade oder eine klebrige Kokosleckerei. Damals war er ungeduldig, tänzelte unaufhörlich um den Mann und die Frau herum und bettelte unter Winseln und Hüpfen, daß sie endlich weitergehen sollten. Ohne sie wagte er sich nicht voran. Der Verkäufer musterte die drei und lachte und stellte alle möglichen Fragen, die den Hund betrafen, und schaute oftmals neidisch hinter ihnen her, wenn sie sich wieder von dem Kiosk entfernten. Er beneidete sie, wie sie sich gegenseitig Zigaretten anzündeten oder wie sie unterwegs stehenblieben und sich einander zuwandten, die Hand des Mannes auf der Schulter der Frau oder die Hand der Frau in die Manteltasche des Mannes geschoben, und er beneidete sie um den großen Schirm, der sie bei Regen schützte, und um den stolzen Welpen, der immer wieder den Kopf wandte, um den Kiosk in der Ferne entschwinden zu sehen.

Manchmal dauerte der Weg zum Meer sehr lang, weil der Mann und die Frau Bekannten begegneten. Die Frau stellte den Mann dann immer ihren Bekannten vor, und der Mann die Frau den seinen, und die Bekannten blickten nach unten und fragten: »Wer ist das denn? Gehört er euch? Wie heißt er?« Und der Mann und die Frau gaben immer dieselbe Antwort: »Wir konnten uns noch für keinen Namen entscheiden.« Manchmal schlugen die Bekannten dann Namen vor, und der Mann und die Frau schauten den Hund an und probierten die verschiedenen Namen an ihm aus, aber alles klang zu groß oder zu klein, zu verniedlichend oder zu bedrohlich, zu unverbindlich oder zu verpflichtend.

Einmal waren sie auf der Straße der Kupplerfreundin [85] begegnet. Sie hatte den Mann umarmt, ihn auf die Wange geküßt und gesagt: »Lange nicht gesehen.« Dann hatte der Mann sie der Frau vorgestellt. Die Freundin hatte gegrinst und die Frau gefragt: »Wo hältst du ihn die ganze Zeit versteckt?« Es war als Witz gemeint,...