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Pestalozzi - Sein Leben und seine Ideen

Paul Natorp

 

Verlag Jazzybee Verlag, 2012

ISBN 9783849632533 , 188 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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0,99 EUR


 

§ 3. Das Prinzip der Spontaneität.

 

Das erste Prinzip besagt in Kürze: daß alle Bildung des Menschen im letzten Grunde Selbstentfaltung seiner Kräfte, nicht Mitteilung oder Aufprägung einer gewissen Form von außen, sei es von den Dingen oder von anderen Menschen, als seinen Bildnern, sei. Die Dinge könnten ihm allenfalls nur den zu verarbeitenden Stoff liefern, und die freilich nötige Hilfe des Anderen kann und soll stets nur »Hilfe zur Selbsthilfe« sein.

 

Schon in Rousseaus Naturevangelium schlummerte, und schlummerte kaum nur, diese Einsicht, Schon ihm ist Bildung wesentlich Selbstentwicklung ( développement interne). Vollends bei Pestalozzi bedeutet die »Natur«, die den Menschen bilde, weit an erster Stelle die eigene Natur des Menschen; sie bedeutet das, was in seiner Bildung vom eigenen Gesetz seines Wesens abhängt und daher unabänderlich gilt, im Unterschied von allem, was durch wandelbare äußere Umstände bestimmt, daher an sich überwindlich ist und im Fortgang seiner Entwicklung überwunden werden muß. Man kann es daher auch das Prinzip der Autonomie (Selbstgesetzgebung: daß der Mensch sich nach den eigenen Gesetzen seines Wesens bildet) nennen.

 

Schon in den Aufzeichnungen über die Erziehung seines Söhnchens sagt Pestalozzi: das Kind soll so viel als möglich selber tun, selber finden; gleichbedeutend: der Erzieher soll wissen, daß die Natur es besser lehrt als Menschen. Freiheit ist darum die Luft, in der die Erziehung allein atmen kann; auch der notwendige Gehorsam muß in freiem Zutrauen gegründet sein. In der »Abendstunde« sodann heißt es: »Auf welchem Wege, auf welcher Bahn werde ich dich finden, Wahrheit, die mein Heil ist und mich zur Vervollkommnung meiner Natur emporhebt? Im Innern meiner Natur ist Aufschluß zu dieser Wahrheit. Alle Menschheit ist in ihrem Wesen sich gleich und hat zu ihrer Befriedigung nur eine Bahn. Darum wird die Wahrheit, die rein aus dem Innersten unseres Wesens geschöpft ist, allgemeine Menschenwahrheit sein ... Alle reinen Segenskräfte der Menschheit sind nicht Gaben der Kunst und des Zufalls, im Innern der Natur aller Menschen liegen sie mit ihren Grundanlagen« usw. »Natur« bedeutet hier ersichtlich: Spontaneität, Autonomie. Sie steht über aller Willkür und »Kunst« des einzelnen Menschen oder besonderer gesellschaftlicher Ordnungen und Klaffen; aber sie ist nichts über dem Menschen, sondern der Ausdruck seiner eigenen inneren Schöpfungskraft.

 

Unmittelbar aus dieser eisten Voraussetzung folgert Pestalozzi, schon in diesen Sätzen selbst, die Allgemeinheit der menschlichen Bildung; Allgemeinheit in doppelter Bedeutung: als inhaltliche Gemeinsamkeit der »menschlichen« – das heißt fortan prägnant: aus dem Wesen, aus der »Natur« des Menschen fließenden – Bildung, und als geforderte Allgemeinheit der Ausbreitung dieser wahren Menschenbildung auf alle Glieder und Schichten der Menschheit. In jedem einzelnen soll die Bildung seiner inneren Kräfte die Richtung nehmen auf das, was seinem Wesen nach allen gemein ist und darum auch allen gemein werden kann; und für die vielen soll eben damit die Bildung wenigstens in der Grundlage gemeinsam, für alle dieselbe werden, wenn auch dann auf dieser gemeinsamen Grundlage sich nach den besonderen Lebensaufgaben differenzieren. Dieser absichtliche Doppelsinn der »allgemeinen« Bildung spricht sich deutlich aus in dem Satze: » Allgemeine Emporbildung dieser inneren Kräfte der Menschennatur zu reiner Menschenweisheit ist allgemeiner Zweck der Bildung auch der niedersten Menschen«. Dagegen »Übung, Anwendung und Gebrauch seiner Kraft in den besonderen Lagen und Umständen der Menschen ist Berufs- und Standesbildung. Diese muß immer dem allgemeinen Zweck der Menschenbildung untergeordnet sein«. Denn »wer nicht Mensch ist, in seinen inneren Kräften ausgebildeter Mensch ist, dem fehlt (die) Grundlage zur Bildung seiner näheren Bestimmung und seiner besonderen Lage«.

 

Etwas mehr im Hintergrund bleibt das Prinzip der Spontaneität in »Lienhard und Gertrud«; konnte doch sogar der Schein entstehen, als ob hier die »allgemeine« Menschenbildung gegen die Arbeits- und Berufsbildung ganz zurückgedrängt werde. Aber bei näherem Zusehen schwindet dieser Schein. »Die Umstände machen den Menschen«, aber der Mensch macht auch wieder die Umstände. » Von Natur« – so philosophiert er in deutlicher Erinnerung an Rousseau, aber über diesen doch wesentlich hinausgehend – »von Natur ist der Mensch weder gut noch vernünftig; eben deshalb muß die Gesellschaft aus ihm etwas ganz anderes machen, als er von Natur ist.« Sie muß ihn »durch Einrichtungen, Sitten, Erziehungsarten und Gesetze, die ihn in seinem Innersten verändern und umstimmen, in das Geleise einer Ordnung hineinbringen, die wider die ersten Triebe seiner Natur streitet... Das aber fordert die ganze Weisheit eines die menschliche Natur tief kennenden Gesetzgebers, den Menschen dahin zu bringen, daß er beim Werk seines bürgerlichen Lebens und bei Verrichtung seiner Berufspflichten eine das Innere seiner Natur befriedigende Laufbahn finde ... Dieses Geschlecht wird nicht anders und nicht besser, als wo es durch eine mit seiner Natur übereinstimmende Bildung und Führung mit Weisheit zu seiner bürgerlichen Bestimmung emporgehoben und zu dem gemacht wird, was es in der Welt wirklich sein soll.« – Hier sieht man klar vor Augen, wie vielsinnig das Wort »Natur« für Pestalozzi ist. Einmal heißt der »Naturmensch«, wie vielfach bei Rousseau, das sich selbst überlassene, wild aufwachsende, bloße Triebwesen (die »ersten Triebe seiner Natur«); das andere Mal handelt es sich um das »Innere« seiner Natur (wir fanden denselben Ausdruck in der »Abendstunde«), das heißt um seine vernünftige, seine sittliche Natur, die der sinnlichen gerade entgegengerichtet, aber darum nicht weniger, sondern weit mehr als diese sein eigenes Wesen ist. Im Grunde ist es der schlichte Unterschied des dem Augenblick haltlos hingegebenen und des Menschen, der »unterscheidet, wählet und richtet« und so »dem Augenblick Dauer verleiht«. Gerade die Ordnungen der Wirtschaft und des Rechts, ebenso wie die der gemeinen Zucht und Sitte, die für die wilde Natur des Menschen harter Zwang sind, dienen der Entbindung seiner höheren Natur; auf der ideal höchsten Stufe aber würde jeder Zwang der »Heteronomie« (Fremdgesetzgebung) schwinden und ganz der Autonomie (Selbstgesetzgebung) Platz machen. Diese Entwicklung von der Heteronomie zur Autonomie ist die Erziehung des Menschlichen im Menschen, des Vernunftwesens aus dem bloßen Triebwesen. Die ganze in »Lienhard und Gertrud« vorgeführte soziale Erziehung, so vielseitig sie äußere Faktoren, insbesondere die Berufsarbeit und um ihrer willen die gesamten sozialen Ordnungen als Faktoren der Menschenbildung heranzieht, stellt daher dennoch zuletzt alles in die »Seelsorge« jedes Einzelnen für sich; sie soll zuletzt nur dienen, ihn zu befreien. Gerade deshalb kommt dabei aufs Arbeiten so viel an, weil es das eigene Tun des Menschen entbindet; und auch nur zur Befreiung der Eigentätigkeit dient die Staatshilfe. Gerade die »Stärke des Staats ruht darauf, daß seine Glieder Raum und Spielkraft und Reiz finden an Leib und Seele für sich selber zu sorgen«. Denn »es ist, wie wenn es nicht sein müsse, daß Menschen durch ihre Mitmenschen versorgt werden. Die ganze Natur und die ganze Geschichte rufen dem Menschengeschlecht zu, es solle ein jeder sich selbst versorgen, es versorge ihn niemand und könne ihn niemand versorgen, und das Beste, das man an dem Menschen tun könne, sei, daß man ihn lehre, es selber zu tun.« Goldene Worte hat auch das Buch »Christoph und Else« über die gesunde Selbstsorge jedes Standes für sich, von der zugleich das rechte gegenseitige Verhältnis unter ihnen allen hauptsächlich abhänge.

 

Wie schon in diesen frühesten Dokumenten deutlich zu erkennen ist, daß das Prinzip der Spontaneität für Pestalozzi an erster Stelle von der sittlichen Kraft im Menschen gilt, so kommt dies zu sonnenheller Klarheit in den »Nachforschungen«. Hier ist die Übereinstimmung mit Kant besonders greifbar eben in der Grundeinsicht, daß der Mensch als sittliches Wesen »Werk seiner selbst« ist, »sich selber das Gesetz gibt«, und daß, eben kraft dieses Charakters der Autonomie, der sittlichen Freiheit, der Mensch nie bloß als Mittel für fremden Zweck, sondern unbedingt als Selbstzweck zu achten ist. Jener Doppelsinn des Wortes »Natur«, der uns in dem Roman schon begegnete, liegt hier ebenfalls durchweg zugrunde: der niederen sinnlichen Natur des Menschen setzt das gesellschaftliche Leben zunächst tausendfältige Hemmung entgegen, ja verkrüppelt sie geradezu. Aber über beide »Stände« des Menschen, den natürlichen und den gesellschaftlichen, erhebt sich sein sittlicher Stand. Es sind deutlich die drei Stadien, der Anomie, der Heteronomie und der Autonomie: die Gesetzlosigkeit des bloßen Augenblickstriebes; das nur äußerlich verbindende Gesetz der Gesellschaft; das innerlich bindende Gesetz des eigenen sittlichen Bewußtseins. In jedem dieser Stadien zwar folgt der Mensch dem Gesetz seiner eigenen »Natur«, aber in jedem nach einer anderen Richtung. Auch der gesellschaftliche Stand nämlich ist der...