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Femme fatale - Der fünfte Fall für Bruno, Chef de Police

Martin Walker

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257603088 , 432 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

[7] 1

Bruno Courrèges, erster und einziger Polizist von Saint Denis, war selten glücklicher über sein Städtchen, als wenn er vom Portal der alten Steinkirche aus einer Probe des Kirchenchors zuhörte. Statt der schlichten weißen Chorhemden, die sie zur feierlichen Messe trugen, waren die Chormitglieder in Alltagskleidung erschienen, weil die Proben in der Regel abends nach der Arbeit stattfanden. Heute aber wurde zusätzlich am Vormittag geprobt, weil Pater Sentout den gewagten Vorschlag gemacht hatte, dass der Chor neben seinem üblichen Repertoire Bachs anspruchsvolle Matthäuspassion einstudieren sollte. Mit ihren Noten standen Bauern und Bäuerinnen neben Schullehrern und Büroangestellten, Kellnerinnen und Geschäftsleuten. Bruno erkannte alle, auch auf die Distanz, schon an ihrer Kleidung, und durch die vertrauten Choräle, die sie sangen, fühlte er sich in die Jahre im kirchlichen Waisenhaus zurückversetzt – die vielleicht einzige schöne Erinnerung, die er mit jener Zeit verband.

An diesem frühen Samstagmorgen zwei Wochen vor Ostern waren fast alle vierundzwanzig Chormitglieder versammelt. Die ersten Bankreihen der Kirche waren voller Mäntel und Einkaufskörbe, mit denen sie später auf den Markt gehen würden, der draußen auf der Straße gerade aufgebaut wurde. Eben erklangen die ersten Töne des Chorals »Sehet [8] ihn als wie ein Lamm«. Der Straßenlärm hinter Bruno schien abrupt zu verstummen, als Florence mit ihrem hellen Sopran einsetzte und damit das Kirchenschiff erfüllte. Bruno wusste, dass eigentlich zwei Chöre und zwei Orchester für eine Aufführung dieses Oratoriums nötig waren, doch musste Saint-Denis mit seiner verlässlichen Orgel und dem kleinen Grüppchen begeisterungsfähiger Sängerinnen und Sänger vorliebnehmen, allen voran Pater Sentout, dessen Liebe zur Chormusik nur noch von seiner Leidenschaft für Gaumenfreuden und die städtische Rugbymannschaft erreicht wurde. Damit, so dachte Bruno, eignete er sich wie kaum ein anderer zum Priester dieser kleinen Gemeinde im gastronomischen und sportlichen Herzland Frankreichs.

Hinter dem Hügelkamm im Osten von Saint-Denis ging eben die Sonne auf, schien durch die bunten Bleiglasfenster und warf blaue, goldene und rote Strahlen ins Kirchenschiff, in dem Pater Sentouts schwarze Soutane nun besonders hervorstach. Brunos Augen richteten sich jedoch unwillkürlich auf Florence, die zu ihrem weißen Kleid einen hellroten Schal trug. Mit hocherhobenem Kopf und ohne je in die Noten schauen zu müssen, sang sie ihr Solo, und ihr blondes Haar schimmerte im Sonnenlicht wie ein Heiligenschein.

Bruno beglückwünschte sich im Nachhinein, dass er ihr eine Anstellung als Naturkundelehrerin am hiesigen collège vermittelt hatte. Als Lehrerin hatte sie auch Anspruch auf eine von der Schule finanzierte Wohnung auf dem Schulgelände, die groß genug war für eine geschiedene junge Mutter mit zwei kleinen Kindern, Zwillingen. Florence war eine willkommene Bereicherung für Saint-Denis und vor [9] allem auch für den Chor, denn ohne sie hätte Pater Sentout wahrscheinlich nicht gewagt, die Matthäuspassion einzustudieren.

Erst jetzt schien Florence Bruno ganz hinten im Mittelgang zu bemerken. Sie lächelte und nickte ihm zu. Auch andere aus dem Chor hoben zum Gruß die Hand, doch Bruno, der plötzlich sein Handy am Gürtel vibrieren spürte, ging widerwillig nach draußen, um den Anruf anzunehmen.

»Bruno, ich bin’s, Marie.« Sie leitete das Hôtel de la Gare neben dem inzwischen verwaisten Bahnhof, denn die französische Eisenbahn hatte viele ländliche Strecken stillgelegt, um noch mehr Geld in ihre Hochgeschwindigkeitszüge investieren zu können. »Ich soll dir von Julien Devenon ausrichten, er habe eine nackte Frau in einem Boot den Fluss heruntertreiben sehen.«

Ihre Stimme klang genervt. Bruno dachte an Julien, der in einem kleinen Gehöft auf der anderen Flussseite wohnte und wahrscheinlich auf dem Weg in die Stadt wie schon sein Vater und seine Großväter die Abkürzung über die Eisenbahnbrücke und dann den Gleisen entlang zum Bahnhof genommen hatte. Der Chef de police schmunzelte bei der Vorstellung, wie dem Jungen, der gerade in die Pubertät kam, beim Anblick einer nackten Frau fast die Augen aus dem Kopf gefallen sein mussten. Eine nackte Frau zu dieser Jahreszeit war beunruhigend, denn so früh im April gingen trotz des schönen Frühlingswetters noch nicht einmal die holländischen, deutschen oder skandinavischen Touristen sonnenbaden, die sonst gewöhnlich bei der erstbesten Gelegenheit ihre Hüllen fallen ließen.

»Julien war auf dem Weg zum lycée in Périgueux und [10] wollte seinen Zug noch erreichen«, fügte Marie hinzu. Und dann, mit gesenkter Stimme: »Er glaubt, sie ist tot.«

»Steht Julien noch am Bahnhof?«, fragte Bruno, das Bild des Jungen vor Augen, wie er mit Feuereifer sein Rugbytraining durchführte.

»Nein, er ist schon im Zug. Aber er wollte unbedingt, dass ich dir Bescheid gebe. Er hätte dich auch selbst angerufen, aber sein Vater hat ihm das Handy abgenommen.«

Wahrscheinlich nicht ohne Grund, dachte Bruno.

»Wann genau hat er das Boot gesehen? Erst vor wenigen Minuten?«, fragte er und versuchte auszurechnen, wie lange es dauerte, bis ein treibendes Boot die große Steinbrücke von Saint-Denis erreicht haben würde, wo man es wohl am ehesten abfangen und ans Ufer ziehen konnte.

»Er ist von der Brücke direkt zu mir gerannt und gleich darauf in den Zug gesprungen. Ich habe sofort zum Hörer gegriffen. Das Ganze ist höchstens drei Minuten her.«

Bruno beendete das Gespräch und eilte die Rue de Paris entlang, vorbei an Marktständen und an Lieferwagen, die entladen wurden. Die ausgestreckten Hände und zum Küssen angebotenen Wangen ignorierte er diesmal. Er duckte sich rasch unter langen Stoffballen hindurch, wich Männern mit riesigen Käserädern auf den Köpfen aus und schlängelte sich zwischen Handkarren mit frischem Gemüse durch, während er über den Rathausvorplatz auf die Brücke zulief. Kaum hatte er sie erreicht, vibrierte wieder sein Handy, und diesmal war es Pierrot, der ihn sprechen wollte, ein passionierter Angler.

»Du glaubst nicht, was ich gerade auf dem Fluss gesehen habe«, begann er.

[11] »Eine tote Frau in einem Boot. Ich hab’s schon gehört. Wo bist du gerade?«

»Beim Campingplatz, gleich neben dem Kräutergarten am Steilufer. An der Flussbiegung stehen die Forellen und …«

»Wie schnell treibt das Boot?«, unterbrach Bruno.

»In fünf Minuten wird es an der Brücke sein, vielleicht auch ein bisschen später«, antwortete Pierrot. »Es ist einer dieser alten Flachbodenkähne, wie man sie nur noch selten sieht, und er ist voller Wasser. Die Frau liegt mit ausgebreiteten Armen splitterfasernackt auf dem Rücken. Ich glaube, sie ist tot.«

»Wir werden sehen. Danke, Pierrot«, sagte Bruno und klappte sein Handy zu. Vom Brückenkopf aus blickte er blinzelnd flussaufwärts über das in der Sonne glitzernde Wasser. Das Boot war nicht zu sehen. Er hatte also noch etwas Zeit und drückte die Kurzwahlnummer der Klinik, um mit Fabiola zu sprechen.

»Sie ist heute nicht da«, sagte Juliette vom Empfang. »Irgendein Privatpatient hat sie gerufen. Den Namen habe ich noch nie gehört. Ich verbinde Sie mit Doktor Gelletreau. Er hat Bereitschaft.«

»Nicht nötig«, entgegnete Bruno und eilte mit dem Handy am Ohr auf die Kirche zu, wieder im Zickzackkurs um die Händler herum, die weiter ihre Stände aufbauten. »Ich muss Schluss machen. Sagen Sie dem Doktor einfach, er soll zur Steinbrücke kommen. Es scheint, dass eine Leiche im Fluss treibt. Ich treffe ihn dort.«

Er brauchte Antoine mit seinem Kahn, und Antoine sang im Chor. Bruno schlüpfte durch die kleine Tür, die in das große, altertümliche Holztor eingeschnitten war, und staunte [12] nicht schlecht über den vollen Klang des Chors, dessen eine Hälfte »Sehet!« sang, worauf die andere fragte »Wen?«.

Unmittelbar bevor Florence zu ihrem Solo »O Lamm Gottes unschuldig« anheben konnte, trat Bruno nach vorn und tippte Pater Sentout auf die Schulter. Der Chorgesang verstummte abrupt, doch die Orgel spielte weiter. Pater Sentout öffnete die Augen und blinzelte verblüfft über Brunos Erscheinen.

»Tut mir leid, Vater, wir haben einen Notfall«, erklärte Bruno laut genug, um die Orgel zu übertönen. »Möglicherweise steht ein Menschenleben auf dem Spiel. Ich brauche ganz dringend Antoine.«

Mit einem letzten Seufzer aus ihren Pfeifen verstummte nun auch die Orgel.

»Sie wollen meinen Jesus?«, fragte der Priester irritiert.

Bruno schluckte und versuchte, sich auf die Frage einen Reim zu machen, aber dann fiel ihm ein, dass Antoine mit seinem prächtigen Bass den Jesus-Part sang.

»Auf dem Fluss treibt ein Kahn, mit einer vermutlich toten Person darin. Antoine muss mir helfen, sie zu bergen«, sagte Bruno und richtete seine Worte nicht nur an Pater Sentout, sondern an den ganzen Chor.

»Ich habe kein Kanu hier«, entgegnete Antoine. Er kam aus der Apsis und griff nach seiner Jacke, die auf der ersten Bank lag. Er war ein stämmiger Mann mit vom jahrelangen Rudern breiten und muskulösen Schultern. »Meine Kanus sind alle auf dem Campingplatz.«

»Ich brauche dich trotzdem«, sagte Bruno und führte ihn hinaus und durch das immer dichter werdende Gedränge auf dem Markt hinüber zum Fluss, gefolgt, wie er bemerkte, [13] von den meisten Chormitgliedern einschließlich Pater Sentouts.

Passanten und Händler wurden aufmerksam und schlossen sich ebenfalls dem Zug an,...