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Der Zementgarten

Ian McEwan

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257601749 , 208 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

[5] Teil eins

1

Ich habe meinen Vater nicht umgebracht, aber manchmal kam es mir vor, als hätte ich ihm nachgeholfen. Und bis auf die Tatsache, daß sein Tod zeitlich mit einem Meilenstein in meiner eigenen körperlichen Entwicklung zusammenfiel, schien er unbedeutend, verglichen mit dem, was dann kam. Meine Schwestern und ich sprachen über ihn in der Woche, nachdem er gestorben war, und natürlich weinte Sue, als ihn die Sanitäter in eine hellrote Decke einpackten und forttrugen. Er war ein schwächlicher, jähzorniger, verbohrter Mann, gelblich an den Händen und im Gesicht. Ich führe die kleine Geschichte von seinem Tod nur an, weil sie erklärt, wieso meine Schwestern und ich auf einmal eine so große Menge Zement zur Verfügung hatten.

Im Frühsommer meines vierzehnten Lebensjahres hielt ein Lastwagen vor unserem Haus. Ich [6] saß auf der Vordertreppe und las ein Comic, das ich schon kannte. Der Fahrer und noch ein Mann kamen auf mich zu. Sie waren mit feinem, hellem Staub bedeckt, der ihren Gesichtern ein geisterhaftes Aussehen gab. Sie pfiffen beide schrill zwei völlig verschiedene Melodien. Ich stand auf und steckte das Comic weg. Ich wünschte, ich hätte die Rennseite in Vaters Zeitung oder die Fußballergebnisse gelesen.

»Zement?« sagte der eine. Ich hakte die Daumen in die Hosentaschen ein, verlagerte mein Gewicht auf ein Bein und kniff die Augen etwas zusammen. Ich wollte etwas Knappes und Treffendes sagen, aber ich war nicht sicher, ob ich sie richtig verstanden hatte. Ich brauchte zu lange, denn der Mann verdrehte die Augen nach oben, stemmte die Hände in die Hüften und starrte an mir vorbei auf die Haustür. Sie ging auf, und mein Vater trat heraus, an seiner Pfeife kauend, eine Schreibplatte gegen die Hüfte gedrückt.

»Zement«, sagte der Mann wieder, diesmal in sinkendem Tonfall. Mein Vater nickte. Ich steckte das Comic zusammengefaltet hinten in die Tasche und ging den drei Männern auf dem Weg bis zum Lastwagen nach. Mein Vater stellte sich auf die Zehenspitzen, um über die Seitenwand zu schauen, nahm die Pfeife aus dem Mund und nickte nochmals. Der Mann, der bis [7] jetzt noch nichts gesagt hatte, schlug hart mit der Handkante zu. Ein Stahlbolzen sprang weg und eine Seitenlade des Lastwagens klappte mit großem Lärm herunter. Die prallgefüllten Zementsäcke lagen in zwei Reihen auf der Ladefläche. Mein Vater zählte sie, schaute auf seine Schreibplatte und sagte, »Fünfzehn.« Die zwei Männer brummten. Mir gefiel diese Art Unterhaltung. Ich sagte auch »Fünfzehn« vor mich hin. Die Männer nahmen jeder einen Sack auf die Schulter und wir gingen wieder zurück, diesmal ich voran und mein Vater hinterher. Nach der Hausecke deutete er mit dem nassen Pfeifenstiel auf die Kohlenluke. Die Männer wuchteten ihre Säcke in den Keller und gingen zum Lastwagen, um neue zu holen. Mein Vater machte auf der Schreibplatte ein Kreuz mit dem Bleistift, der an einem Stück Schnur daran baumelte. Er wippte wartend auf den Absätzen. Ich lehnte mich an den Zaun. Ich wußte nicht, wofür der Zement bestimmt war, und wollte aus dieser angespannt arbeitenden Gemeinschaft nicht ausgeschlossen werden durch mein Unwissen. Ich zählte die Säcke mit, und als alle unten waren, stand ich meinem Vater zur Seite, als er den Lieferschein unterschrieb. Dann ging er wortlos ins Haus.

Am Abend stritten sich meine Eltern wegen der Zementsäcke. Meine Mutter, ein ruhiger Mensch, [8] war außer sich. Sie wollte, daß mein Vater das ganze Zeug wieder zurückschickte. Wir waren gerade mit dem Abendessen fertig. Während meine Mutter redete, nahm mein Vater ein Taschenmesser und schabte damit schwarze Brocken aus dem Pfeifenkopf auf sein Essen, das er kaum angerührt hatte. Er wußte, wie er seine Pfeife gegen sie einsetzen konnte. Sie hielt ihm vor, wie wenig Geld wir hätten und daß Tom bald neue Kleider für den Schulanfang bräuchte. Er steckte die Pfeife wie einen fehlenden Teil seiner Anatomie zwischen die Zähne zurück und unterbrach sie: es komme »nicht in Frage«, die Säcke zurückzuschicken, und damit Schluß. Da ich den Lastwagen, die schweren Säcke und die Männer, die sie gebracht hatten, selbst gesehen hatte, gab ich ihm dem Gefühl nach recht. Aber wie wichtigtuerisch und lächerlich er aussah, als er das Ding aus dem Mund nahm, am Kopf festhielt und den schwarzen Stiel auf meine Mutter richtete. Sie wurde immer wütender, die Stimme erstickte ihr vor Erbitterung. Julie, Sue und ich verzogen uns nach oben in Julies Zimmer und machten die Tür zu. Das Auf und Ab von Mutters Stimme drang durch den Boden zu uns herauf, aber die Worte wurden verschluckt.

Sue lag auf dem Bett und kicherte, die Fingerknöchel im Mund, während Julie einen Stuhl vor die Tür schob. Zusammen zogen wir Sue rasch [9] aus, und als wir ihr die Unterhose herunterstreiften, berührten sich unsere Hände. Sue war ziemlich dünn. Ihre Haut spannte sich straff über den Rippen, und die harte Muskelwölbung ihrer Hinterbacken ähnelte seltsam ihren Schulterblättern. Leichter rötlicher Flaum wuchs zwischen ihren Beinen. Das Spiel ging so, daß Julie und ich Wissenschaftler waren, die ein Lebewesen aus dem Weltraum untersuchten. Wir sprachen mit abgehackten fremdländischen Stimmen und schauten uns dabei über den nackten Körper hinweg an. Von unten kam müde, monoton und beharrlich Mutters Stimme herauf. Julies Backenknochen waren stark vorgewölbt unter den Augen, was ihr den tiefen Blick eines seltenen, wildlebenden Tieres gab. Im elektrischen Licht waren ihre Augen schwarz und groß. Die sanfte Linie ihres Mundes wurde nur eben von zwei Vorderzähnen unterbrochen, und sie mußte eine Schnute ziehen, um ihr Lächeln zu verbergen. Ich sehnte mich danach, meine ältere Schwester zu untersuchen, aber das war in dem Spiel nicht vorgesehen.

»Noonn?« Wir wälzten Sue auf die Seite und dann auf den Bauch. Wir strichen ihr mit den Fingernägeln über Rücken und Schenkel. Wir schauten ihr mit einer Taschenlampe in den Mund und zwischen die Beine und fanden die kleine Blume aus Fleisch.

[10] »Was sagen Sä dazo, Herr Docktor?« Julie strich mit einem angefeuchteten Finger darüber, und ein leichtes Zittern lief Sues knochiges Rückgrat entlang. Ich schaute genau zu. Ich befeuchtete meinen Finger und ließ ihn über den von Julie gleiten.

»Nächts Ärnstes«, sagte sie schließlich und drückte den Schlitz mit Zeigefinger und Daumen zu. »Aber wir wärden weitere Äntwäcklonk verfolgen, wie?« Sue drängte uns weiterzumachen. Julie und ich sahen einander an, wissend, und wußten nichts.

»Julie ist dran«, sagte ich.

»Nein«, sagte sie wie immer. »Du bist dran.« Auf dem Rücken liegend, bettelte Sue weiter. Ich ging durchs Zimmer, hob Sues Rock auf und schmiß ihn auf sie.

»Kommt nicht in Frage«, sagte ich durch eine nicht vorhandene Pfeife. »Und damit Schluß.« Ich schloß mich im Bad ein und setzte mich auf den Rand der Wanne, die Hosen hingen an den Knöcheln. Ich dachte an Julies hellbraune Finger zwischen Sues Beinen, während ich mich zu meinem schnellen, trockenen Stich von Lust brachte. Ich blieb vornübergebeugt sitzen, nachdem sich der Krampf gelöst hatte, und wurde mir bewußt, daß die Stimmen unten schon lang verstummt waren.

[11] Am nächsten Morgen ging ich mit meinem jüngeren Bruder Tom hinunter in den Keller. Er war groß und in eine Reihe von zwecklosen Räumen unterteilt. Tom klammerte sich an mich, als wir die Steintreppen hinunterstiegen. Er hatte von den Zementsäcken erfahren und wollte sie jetzt sehen. Die Kohlenluke führte in den größten der Räume, und die Säcke lagen so, wie sie heruntergefallen waren, über den Kohlenresten vom letzten Jahr verstreut. An der einen Wand stand eine massige Blechkiste, die irgendetwas mit Vaters kurzer Militärzeit zu tun hatte, und eine Weile dazu diente, den Koks von der Kohle getrennt zu lagern. Tom wollte hineinschauen, also hob ich den Deckel für ihn hoch. Die Kiste war leer und geschwärzt, so schwarz, daß wir in dem staubigen Licht den Boden nicht sehen konnten. Tom, der glaubte, in ein tiefes Loch zu starren, hielt sich am Rand fest, rief in den Kasten hinein und wartete auf das Echo. Als nichts passierte, wünschte er die anderen Räume zu sehen. Ich führte ihn zu einem näher an der Treppe. Die Tür hing kaum mehr in den Angeln, und als ich sie aufstieß, fiel sie ganz heraus. Tom lachte und bekam nun doch sein Echo aus dem Raum, in dem wir vorher waren. Hier lagen Pappkartons mit schimmligen Kleidern, von denen mir keins bekannt vorkam. Tom fand einige seiner alten Spielsachen. Er drehte sie verächtlich [12] mit dem Fuß um und erklärte mir, sie wären etwas für Babys. Hinter der Tür lag in einem Haufen ein altes Messing-Gitterbett, in dem wir alle irgendwann schon geschlafen hatten. Tom wollte, daß ich es für ihn zusammensetzte, und ich erklärte ihm, Gitterbetten wären auch etwas für Babys.

Am Fuß der Treppe trafen wir unseren Vater, der gerade herunterkam. Ich sollte, sagte er, bei den Säcken mit anpacken. Wir gingen mit ihm in den großen Raum zurück. Tom hatte Angst vor seinem Vater und hielt sich ein gutes Stück hinter mir. Julie hatte kürzlich zu mir gesagt, jetzt, wo Vater Halbinvalide sei, müsse er mit Tom um Mutters Aufmerksamkeit konkurrieren. Das war ein sonderbarer Gedanke, und ich dachte lange darüber nach. So einfach, so grotesk, Konkurrenz zwischen einem kleinen Jungen und einem erwachsenen Mann. Später fragte ich Julie, wer gewinnen würde, und sie sagte ohne zu zögern, »Tom natürlich, und Daddy wird’s an ihm auslassen.«

Und er war streng mit Tom,...