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Diesseits vom Paradies

F. Scott Fitzgerald

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257602685 , 432 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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11,99 EUR


 

[60] II

Turmspitzen und Wasserspeier

Zuerst nahm Amory nur die Fülle des Sonnenscheins wahr, der sich über die weiten grünen Rasenflächen breitete, auf den bleigefassten Fensterscheiben tanzte und Turmhelme, Spitzen und Zinnen umspielte. Allmählich wurde ihm klar, dass er wirklich den University Place hinaufging; befangen wegen seines Koffers, nahm er im Gehen eine neue Haltung an und blickte starr geradeaus, wenn er jemandem begegnete. Mehrmals hätte er schwören können, dass sich jemand prüfend nach ihm umsah. Er fragte sich unsicher, ob wohl an seiner Kleidung etwas auszusetzen war, und wünschte, er hätte sich morgens im Zug rasiert. Er fühlte sich unnötig steif und unbehaglich zwischen all diesen barhäuptigen jungen Leuten in weißem Flanell, die höhere Semester sein mussten, nach der Selbstverständlichkeit zu urteilen, mit der sie auf und ab schlenderten.

University Place Nr. 12 war ein großes schäbiges Gebäude, zurzeit offensichtlich unbewohnt, obwohl es, soviel er wusste, gewöhnlich ein Dutzend Erstsemester beherbergte. Nach kurzem Geplänkel mit seiner Wirtin begab er sich wieder auf Erkundungstour, war jedoch kaum einen Block weit gekommen, als er mit Erschrecken feststellen musste, dass er offenbar der einzige Mensch in der Stadt war, der einen Hut trug. Er kehrte schnellstens nach [61] University Nr. 12 zurück, ließ seine steife Melone dort und schlenderte nun barhäuptig die Nassau Street hinunter, blieb stehen, um sich Sportlerfotografien anzusehen, die in einem Schaufenster ausgestellt waren, darunter eine Vergrößerung von Allenby, dem Footballkapitän; als Nächstes erregte das Schild »Jigger-Shop« über einer Süßwarenauslage seine Aufmerksamkeit. Es klang vertraut, also schlenderte er hinein und nahm auf einem Barhocker Platz.

»Schoko-Sundae«, bestellte er bei einer Farbigen.

»Doppelter Schoko-Jigger? Sonst noch was?«

»Ja – gern.«

»Speckbrötchen?«

»Ja – gern.«

Er vertilgte vier Stück und fand sie sehr schmackhaft, dann konsumierte er einen weiteren doppelten Schoko-Jigger, bis sich ein wohliges Gefühl in ihm breitmachte. Er inspizierte flüchtig die Kissenbezüge, die bunten Lederwimpel und eine Reihe von Gibson-Girls, welche die Wände zierten, und schlenderte dann mit den Händen in den Hosentaschen weiter die Nassau Street hinunter. Allmählich lernte er zwischen höheren und Anfangssemestern zu unterscheiden, obwohl die Freshman-Kappe bis zum folgenden Montag nicht in Erscheinung trat. Diejenigen, die zu offensichtlich, zu nervös bemüht waren, sich ganz wie zu Hause zu fühlen, waren Freshmen; jeder Zug brachte eine neue Ladung, die unverzüglich mit der hutlosen, weißbeschuhten, bücherbeladenen Menge verschmolz, die scheinbar nichts anderes zu tun hatte, als endlos die Straßen auf und ab zu flanieren und große Rauchwolken aus brandneuen Pfeifen auszustoßen. Gegen Nachmittag bemerkte Amory, [62] dass die zuletzt Angekommenen ihn für ein höheres Semester hielten, und er bemühte sich nach Kräften, zugleich freundlich blasiert und beiläufig kritisch dreinzuschauen, denn dies war der vorherrschende Gesichtsausdruck, soweit er das bis jetzt hatte feststellen können.

Um fünf Uhr nachmittags verspürte er das Bedürfnis, seine eigene Stimme zu hören, und kehrte zu seinem Haus zurück, um zu sehen, ob mittlerweile sonst noch jemand eingetroffen war. Nachdem er die wacklige Treppe erklommen hatte, betrachtete er resigniert sein Zimmer und entschied, dass jeder Versuch einer geistreicheren Ausschmückung als der mit Schulfahne und Princeton-Tiger-Bildern ein hoffnungsloses Unterfangen war. Es klopfte an der Tür.

»Herein!«

Ein schmales Gesicht mit grauen Augen und einem heiteren Lächeln erschien in der Tür.

»Hast du zufällig ’n Hammer?«

»Nein – tut mir leid. Vielleicht hat Mrs. Twelve, oder wie sie heißt, einen.«

Der Fremde kam ins Zimmer.

»Wohnst du hier?«

Amory nickte.

»Elender Schuppen für die Miete, die wir zahlen müssen.«

Amory konnte nicht umhin zuzustimmen.

»Ich hab an den Campus gedacht«, sagte er, »aber da soll’s so wenige Freshmen geben, dass sie völlig untergehen. Können nur rumsitzen und nachdenken, was sie tun sollen.«

Der Grauäugige beschloss, sich vorzustellen.

[63] »Mein Name ist Holiday.«

»Blaine.«

Sie begrüßten sich mit dem klatschenden Handschlag nach unten, wie er gerade Mode war. Amory grinste.

»Wo warst du vorher?«

»Andover – und du?«

»St. Regis.«

»Wirklich? Da war ein Cousin von mir.«

Sie unterhielten sich ausführlich über den Cousin, dann verkündete Holiday, dass er um sechs Uhr mit seinem Bruder zum Abendessen verabredet sei.

»Komm doch mit, und iss einen Happen mit uns.«

»Gerne.«

Im Kenilworth lernte Amory Burne Holiday kennen – der mit den grauen Augen war Kerry –, und sie aßen gemeinsam eine dürftige Mahlzeit, bestehend aus wässriger Suppe und anämischem Gemüse, und starrten dabei die anderen Freshmen an, die entweder höchst unbehaglich in kleinen Grüppchen dasaßen oder sich in einer großen Gruppe offenbar schon wie zu Hause fühlten.

»Die Mensa soll ziemlich schlecht sein«, sagte Amory.

»Hab ich auch schon gehört. Aber man muss da essen – bezahlen muss man auf jeden Fall.«

»Schande!«

»Zumutung!«

»Ja, in Princeton muss man im ersten Jahr eben alles schlucken. Genau wie in der verdammten prep school.«

Amory stimmte zu.

»Obwohl, hier ist wenigstens was los«, beharrte er. »Ich wär nicht für ’ne Million nach Yale gegangen.«

[64] »Ich auch nicht.«

»Machst du bei irgendwas mit?«, erkundigte sich Amory bei dem älteren Bruder.

»Ich nicht – aber Burne will bei der Studentenzeitung mitmachen – beim Daily Princetonian, weißt du.«

»Ja, kenn ich.«

»Und du, machst du bei irgendwas mit?«

»Ja, klar. Ich werd’s mal mit dem Freshmen-Football probieren.«

»In St. Regis schon gespielt?«

»Ein bisschen«, stapelte Amory tief, »aber ich werd so verdammt dünn dabei.«

»Du bist doch nicht dünn.«

»Aber letzten Herbst war ich noch ziemlich stämmig.«

»Aha!«

Nach dem Essen gingen sie ins Kino, wo Amory ebenso fasziniert war von den frechen Sprüchen eines Zuschauers vor ihm wie vom wilden Gebrüll und Geschrei.

»Oho!«

»O Honeybaby – du bist so groß und stark, und so sanft!«

»Pack sie!«

»Nun pack sie schon!«

»Küss sie, los, küss die Lady, mach schon!«

»Oh-h-h-!«

Ein paar begannen By the Sea zu pfeifen, und das übrige Publikum machte lärmend mit. Danach folgte ein nicht wiederzuerkennendes Lied, das mit lautem Gestampfe begleitet wurde, und schließlich ein endloses, völlig ungereimtes Klagelied.

[65] Oh-h-h-h-h

She works in a Jam Factoree

And – that-may-be-all-right

But you can’t-fool-me

For I know – DAMN – WELL

That she DON’T-make-jam-all-night!

Oh-h-h-h!

Als sie sich hinausdrängelten und dabei neugierige, unpersönliche Blicke austauschten, stellte Amory fest, dass ihm das Kino gefiel und er sich dabei genauso amüsieren wollte wie die höheren Semester in der Reihe vor ihm, mit den Armen auf der vorderen Sitzlehne, mit gälisch unflätigen und bissigen Zwischenrufen und einer Haltung, die eine Mischung aus kritischem Witz und gelassener Amüsiertheit war.

»Wie wär’s mit einem Sundae – einem Jigger, wollte ich sagen?«, fragte Kerry.

»Klar.«

Sie schlemmten genüsslich und schlenderten dann gemütlich zurück zum Haus Nr. 12.

»Herrlicher Abend.«

»Fabelhaft.«

»Geht ihr Koffer auspacken?«

»Glaub schon. Komm, Burne.«

Amory beschloss, noch eine Weile auf der Eingangstreppe sitzen zu bleiben, und sagte den beiden gute Nacht.

Die Bäume waren zu einem geisterhaft dunklen Wandvorhang vor dem letzten Streifen Zwielicht geworden. Der frühe Mond hatte die Bogengänge in blasses Blau getaucht, und mit tausend Zauberfäden, die sich vom Mond [66] herabspannen, durchwebte ein Lied die Nacht – ein Lied von allertiefster Traurigkeit, unendlich vergänglich, unendlich kummervoll.

Ihm fiel ein, dass ein Ehemaliger aus den neunziger Jahren ihm erzählt hatte, eine von Booth Tarkingtons Vergnügungen habe darin bestanden, in den frühen Morgenstunden mitten auf dem Campus zu stehen und Tenorgesänge zu den Sternen zu schicken, was in den jüngeren Semestern, die ihm in ihren Betten lauschten, gemischte Gefühle weckte, je nach ihrer seelischen Verfassung.

In diesem Augenblick durchbrach weit unterhalb des im Dunkeln liegenden University Place eine weißgekleidete Phalanx die melancholische Stimmung, und Gestalten in weißen Hemden und weißen Hosen marschierten in schwungvollem Rhythmus die Straße hinauf, mit untergehakten Armen und zurückgeworfenen Köpfen:

Going back – going back,

Going – back – to – Nas-sau – Hall,

Going back – going back –

To the – Best – Old – Place – of – All.

Going back – going back,

From all – this...