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Tierische Profite - Commissario Brunettis einundzwanzigster Fall

Donna Leon

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257603095 , 336 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

[7] 1

Der Mann lag reglos da, so reglos wie ein Stück Fleisch auf dem Schlachtertisch, reglos wie der Tod selbst. Im Raum war es kalt, und doch war er, von Kopf und Hals abgesehen, nur mit einem dünnen Laken zugedeckt. Seine Brust war übermäßig nach oben gewölbt, als habe man ihm eine Stütze unter den Rücken geschoben. Wäre diese weiße Gestalt eine schneebedeckte Bergkette und der Betrachter ein müder Wanderer, der am Ende eines langen Tages dort noch hinübermüsste, so würde er doch lieber den weiten Umweg über die Knöchel nehmen. Der Aufstieg über die Brust wäre zu steil, und wer konnte wissen, welche Schwierigkeiten einen beim Abstieg auf der anderen Seite erwarteten?

Von der Seite fiel die unnatürliche Wölbung der Brust ins Auge; von oben – stünde der Wanderer jetzt auf einem Gipfel und könnte auf den Mann hinabsehen – war es der Hals, der einen sonderbaren Eindruck machte. Der Hals, oder vielleicht genauer: dass er keinen hatte. Tatsächlich war sein Hals ein breiter Pfeiler, der von den Ohren abwärts senkrecht in die Schultern überging. Keine Verengung, keine Einbuchtung; der Hals war so breit wie der Kopf.

Auffällig war auch die Nase, die im Profil kaum noch in Erscheinung trat. Sie war eingedrückt und schief; die Haut mit Kratzern und winzigen Kerben übersät. Auch die rechte Wange war zerkratzt und blutunterlaufen. Das ganze Gesicht war aufgedunsen, weiß und schwammig. Von oben war das Fleisch unterhalb der Wangenknochen tief [8] eingefallen. Sein Gesicht war nicht nur totenbleich. Dieser Mann hatte sein Leben in geschlossenen Räumen verbracht.

Der Mann hatte dunkles Haar und einen Kinnbart, der wahrscheinlich den Hals kaschieren sollte, aber so ein Hals ließ sich keine Sekunde verbergen. Der Bart fiel zwar ins Auge, aber dann bemerkte man auch sofort die Absicht, denn er wuchs über die Kieferlinie hinaus, als wüsste er nicht, wo er aufhören solle. Von hier oben aus schien er sich sogar über den Hals und seine Seitenpartien ergossen zu haben, ein Eindruck, den die allmählich weißer werdenden Bartausläufer noch verstärkten.

Die Ohren waren überraschend zierlich, fast wie die einer Frau. Ohrringe hätten nicht mal fehl am Platz gewirkt, wäre da nicht der Bart gewesen. Unter dem linken Ohr, unmittelbar hinter dem Bartansatz, verlief im Winkel von dreißig Grad eine rosa Narbe. Etwa drei Zentimeter lang und breit wie ein Bleistift; die Haut war uneben, als sei derjenige, der sie genäht hatte, in Eile gewesen, oder nachlässig, als komme es bei einem Mann nicht so darauf an.

Es war kalt im Raum, zu hören war nur das mühsame Keuchen der Klimaanlage. Der mächtige Brustkorb des Mannes hob und senkte sich nicht, er fröstelte auch nicht in dieser Kälte. Er lag da, nackt unter seinem Laken, die Augen geschlossen. Er wartete auf nichts, denn über das Warten war er ebenso hinaus wie darüber, pünktlich oder zu spät zu kommen. Fast könnte man sagen, der Mann war einfach nur. Aber das wäre nicht richtig, denn er war nicht mehr.

Zwei weitere Gestalten lagen ähnlich zugedeckt in dem Raum, näher an den Wänden: Der Bärtige lag in der Mitte. Wenn jemand, der immer lügt, erklärt, er sei ein Lügner, sagt [9] er dann die Wahrheit? Wenn niemand in einem Zimmer am Leben ist, ist dann niemand im Raum?

Eine Tür am anderen Ende wurde geöffnet und von einem großen schlanken Mann in einem weißen Laborkittel aufgehalten. Er ließ einem anderen Mann den Vortritt und dann erst die Tür hinter sich los; langsam glitt sie zu und schloss sich mit einem in dem kalten Raum deutlich vernehmbaren Schmatzen.

»Er liegt da drüben«, sagte Dottor Rizzardi und ging Guido Brunetti, Commissario di Polizia der Stadt Venedig, voraus. Brunetti hielt wie der imaginäre Wanderer inne und betrachtete den weiß bedeckten Bergkamm, den der Körper bildete. Rizzardi trat an den Tisch, auf dem der Tote lag.

»Er bekam drei Stiche ins Kreuz, mit einer schmalen Klinge, keine zwei Zentimeter breit, würde ich sagen. Und der Täter wusste genau, was er tat, oder er hatte großes Glück. An seinem linken Arm sind zwei kleine Druckstellen«, sagte Rizzardi und blieb neben der Leiche stehen. »Und er hat Wasser in der Lunge«, ergänzte er. »Demnach lebte er noch, als er in den Kanal gelangte. Aber der Mörder hat eine Hauptvene erwischt: Er hatte keine Chance. Er ist binnen Minuten verblutet.« Grimmig fügte er hinzu: »Bevor er ertrinken konnte.« Der Pathologe kam Brunettis Frage zuvor: »Tatzeit gestern Nacht, irgendwann nach Mitternacht, würde ich sagen. Genauer geht’s nicht, weil er im Wasser gelegen hat.«

Brunetti, immer noch auf halbem Weg zwischen Tisch und Tür, sah von einem zum anderen. »Was ist mit seinem Gesicht passiert?«, fragte er. Der Tote war so entstellt, dass es schwierig würde, ihn auf einem Foto wiederzuerkennen – [10] beziehungsweise es nur schon schwierig wäre, sich ein Foto dieses zerschlagenen, aufgedunsenen Gesichts überhaupt anzusehen.

»Ich vermute, er ist nach vorn gestürzt, als auf ihn eingestochen wurde. Wahrscheinlich war er so überrumpelt, dass er den Sturz nicht einmal mit den Händen abfangen konnte.«

»Kannst du ein Foto machen?«, wollte Brunetti wissen, der sich fragte, ob Rizzardi die Verletzungen wenigstens zum Teil kaschieren konnte.

»Du willst Leuten diesen Anblick zumuten?« Die Antwort gefiel Brunetti nicht, auch wenn es eine ehrliche Antwort war. Nach kurzem Überlegen fügte der Pathologe hinzu: »Versuchen kann ich’s ja.«

Brunetti fragte: »Und weiter?«

»Ich würde sagen, er ist Ende vierzig, einigermaßen gesund, arbeitet nicht mit den Händen, aber das ist auch schon alles.«

»Was ist mit seinem merkwürdigen Körperbau?«, fragte Brunetti und trat näher.

»Du meinst seine Brust?«, fragte Rizzardi.

»Und den Hals.« Brunetti wies darauf.

»Das nennt man Madelung-Syndrom«, erklärte Rizzardi. »Ich habe davon gelesen und im Studium davon gehört, aber gesehen habe ich es noch nie. Nur auf Abbildungen.«

»Kennt man die Ursache?«, fragte Brunetti, jetzt dicht neben dem Toten.

Rizzardi zuckte die Schultern. »Nicht dass ich wüsste.« Als könne er eine solche Antwort nicht mit seiner Berufsehre vereinbaren, fügte er rasch hinzu: »Häufig spielt Alkoholismus eine Rolle oder Drogenkonsum, aber nicht in diesem [11] Fall. Er war kein Trinker, absolut nicht, und Hinweise auf Drogenkonsum habe ich auch nicht festgestellt.« Nach einer Pause fuhr er fort: »Gott sei Dank bekommen das nur die wenigsten Alkoholiker, aber die meisten Männer, die es bekommen – und es sind fast immer Männer –, sind Alkoholiker. Auch wenn die Zusammenhänge nicht geklärt sind.«

Rizzardi trat näher und zeigte auf eine besonders dicke Stelle im Nacken; für Brunetti sah es fast wie ein kleiner Höcker aus. Bevor er nachfragen konnte, fuhr Rizzardi fort: »Das ist Fettgewebe. Das Fett sammelt sich dort an«, er wies auf den Höcker. »Und dort auch.« Er zeigte auf die Wölbung unter dem weißen Tuch, wo am Körper einer Frau die Brüste gewesen wären.

»Es beginnt zwischen dreißig und fünfzig und konzentriert sich auf die obere Körperhälfte.«

»Du meinst, es wächst einfach so?«, fragte Brunetti, der sich das vorzustellen versuchte.

»Ganz recht. Manchmal auch an den Oberschenkeln. In seinem Fall nur an Hals und Brust.« Er schwieg nachdenklich und fügte dann hinzu: »Am Ende sehen sie aus wie Fässer, die armen Kerle.«

»Gibt’s das oft?«, fragte Brunetti.

»Nein, durchaus nicht. Soweit ich weiß, sind in der Literatur nur ein paar hundert Fälle erwähnt.« Er hob die Schultern. »Wir wissen im Grunde nur sehr wenig darüber.«

»Sonst noch etwas?«

»Er wurde über eine rauhe Oberfläche geschleift«, sagte der Pathologe, indem er Brunetti ans untere Ende des Tischs führte und das Laken anhob. Er wies auf die aufgeschürfte Ferse des Toten. »Am Kreuz sieht es ähnlich aus.«

[12] »Das heißt?«, fragte Brunetti.

»Jemand hat ihn unter den Schultern gepackt und über den Boden gezogen, würde ich sagen. Kein grobkörniges Material in den Wunden, also dürfte es sich um einen nackten Steinfußboden gehandelt haben.« Zur Verdeutlichung fügte Rizzardi hinzu: »Er trug nur einen Schuh, einen Slipper. Der andere ist vermutlich abgestreift worden.«

Brunetti ging zum Kopf des Toten und sah auf das bärtige Gesicht hinab. »Hat er helle Augen?«, fragte er.

Rizzardi konnte seine Verblüffung nicht verbergen. »Blau. Woher weißt du das?«

»Ich hab’s nicht gewusst«, antwortete Brunetti.

»Wie kommst du dann auf die Frage?«

»Ich glaube, ich habe ihn schon mal gesehen«, sagte Brunetti. Er sah sich den Mann genau an, das Gesicht, den Bart, den mächtigen Nacken. Aber er kam nicht drauf; nur bei den Augen war er sich sicher.

»Wenn du ihn schon mal gesehen hast, müsstest du dich an ihn erinnern.« In Anbetracht der Statur des Mannes leuchtete diese Bemerkung Rizzardis ein.

Brunetti nickte. »Ich weiß, aber mir will partout nichts einfallen.« Dass seine Erinnerung ihn bei etwas so Ungewöhnlichem wie der Erscheinung dieses Mannes im Stich ließ, beunruhigte Brunetti mehr, als er zugeben wollte. Hatte er ihn auf einem Foto gesehen, in einer Verbrecherkartei, in einer Zeitschrift, in einem Buch? Vor einigen Jahren hatte er in Lombrosos abscheulichem Buch geblättert: Erinnerte ihn dieser Mann vielleicht nur an die dort abgedruckten Konterfeis »geborener Verbrecher«?

Aber die Lombroso-Porträts waren in Schwarzweiß [13] gewesen: Hätte...