dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Der Verdacht

Friedrich Dürrenmatt

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257601312 , 128 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

8,99 EUR


 

[5] ERSTER TEIL

Der Verdacht

Bärlach war anfangs November 1948 ins Salem eingeliefert worden, in jenes Spital, von dem aus man die Altstadt Berns mit dem Rathaus sieht. Eine Herzattacke schob den dringend gewordenen Eingriff zwei Wochen hinaus. Als die schwierige Operation unternommen wurde, verlief sie glücklich, doch ergab der Befund jene hoffnungslose Krankheit, die man vermutete. Es stand schlimm um den Kommissär. Zweimal schon hatte sein Chef, der Untersuchungsrichter Lutz, sich mit dessen Tod abgefunden, und zweimal durfte er neue Hoffnung schöpfen, als endlich kurz vor Weihnachten die Besserung eintrat. Über die Feiertage schlief zwar der Alte noch, aber am siebenundzwanzigsten, an einem Montag, war er munter und schaute sich alte Nummern der amerikanischen Zeitschrift ›Life‹ aus dem Jahre fünfundvierzig an.

»Es waren Tiere, Samuel«, sagte er, als Dr. Hungertobel in das abendliche Zimmer trat, seine Visite zu machen, »es waren Tiere«, und reichte ihm die Zeitschrift. »Du bist Arzt und kannst es dir vorstellen. Sieh dir dieses Bild aus dem Konzentrationslager Stutthof an! Der Lagerarzt Nehle führt an einem Häftling eine Bauchoperation ohne Narkose durch und ist dabei photographiert worden.«

Das hätten die Nazis manchmal getan, sagte der Arzt und sah sich das Bild an, erbleichte jedoch, wie er die Zeitschrift schon weglegen wollte.

»Was hast du denn?« fragte der Kranke verwundert.

Hungertobel antwortete nicht sofort. Er legte die aufgeschlagene Zeitschrift auf Bärlachs Bett, griff in die rechte [6] obere Tasche seines weißen Kittels und zog eine Hornbrille hervor, die er – wie der Kommissär bemerkte – sich etwas zitternd aufsetzte; dann besah er sich das Bild zum zweiten Mal.

»Warum ist er denn so nervös?« dachte Bärlach.

»Unsinn«, sagte endlich Hungertobel ärgerlich und legte die Zeitschrift auf den Tisch zu den andern. »Komm, gib mir deine Hand. Wir wollen nach dem Puls sehen.«

Es war eine Minute still. Dann ließ der Arzt den Arm seines Freundes fahren und sah auf die Tabelle über dem Bett.

»Es steht gut mit dir, Hans.«

»Noch ein Jahr?« fragte Bärlach.

Hungertobel wurde verlegen. »Davon wollen wir jetzt nicht reden«, sagte er. »Du mußt aufpassen und wieder zur Untersuchung kommen.«

Er passe immer auf, brummte der Alte.

Dann sei es ja gut, sagte Hungertobel, indem er sich verabschiedete.

»Gib mir doch noch das ›Life‹«, verlangte der Kranke scheinbar gleichgültig. Hungertobel gab ihm eine Zeitschrift vom Stoß, der auf dem Nachttisch lag.

»Nicht die«, sagte der Kommissär und blickte etwas spöttisch nach dem Arzt: »Ich will jene, die du mir genommen hast. So leicht komme ich nicht von einem Konzentrationslager los.«

Hungertobel zögerte einen Augenblick, wurde rot, als er Bärlachs prüfenden Blick auf sich gerichtet sah, und gab ihm die Zeitschrift. Dann ging er schnell hinaus, so als sei ihm etwas unangenehm. Die Schwester kam. Der Kommissär ließ die andern Zeitschriften hinaustragen.

»Die nicht?« fragte die Schwester und wies auf die Zeitung, die auf Bärlachs Bettdecke lag.

»Nein, die nicht«, sagte der Alte.

Als die Schwester gegangen war, schaute er sich das Bild von neuem an. Der Arzt, der das bestialische Experiment [7] ausführte, wirkte in seiner Ruhe götzenhaft. Der größte Teil des Gesichts war durch den Nasen- und Mundschutz verdeckt.

Der Kommissär versorgte die Zeitschrift in seiner Nachttischschublade und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Er hatte die Augen weit offen und sah der Nacht zu, die immer mehr das Zimmer füllte. Licht machte er nicht.

Später kam die Schwester und brachte das Essen. Es war immer noch wenig und Diät: Haferschleimsuppe. Den Lindenblütentee, den er nicht mochte, ließ er stehen. Nachdem er die Suppe ausgelöffelt hatte, löschte er das Licht und sah von neuem in die Dunkelheit, in die immer undurchdringlicheren Schatten.

Er liebte es, die Lichter der Stadt durchs Fenster fallen zu sehen.

Als die Schwester kam, den Kommissär für die Nacht herzurichten, schlief er schon.

Am Morgen um zehn kam Hungertobel.

Bärlach lag in seinem Bett, die Hände hinter dem Kopf, und auf der Bettdecke lag die Zeitschrift aufgeschlagen. Seine Augen waren aufmerksam auf den Arzt gerichtet. Hungertobel sah, daß es das Bild aus dem Konzentrationslager war, das der Alte vor sich hatte.

»Willst du mir nicht sagen, warum du bleich geworden bist wie ein Toter, als ich dir dieses Bild im ›Life‹ zeigte?« fragte der Kranke.

Hungertobel ging zum Bett, nahm die Tabelle herunter, studierte sie aufmerksamer denn gewöhnlich und hing sie wieder an ihren Platz. »Es war ein lächerlicher Irrtum, Hans«, sagte er. »Nicht der Rede wert.«

»Du kennst diesen Doktor Nehle?« Bärlachs Stimme klang seltsam erregt.

»Nein«, antwortete Hungertobel. »Ich kenne ihn nicht. Er hat mich nur an jemanden erinnert.«

Die Ähnlichkeit müsse groß sein, sagte der Kommissär.

[8] Die Ähnlichkeit sei groß, gab der Arzt zu und schaute sich das Bild noch einmal an, von neuem beunruhigt, wie Bärlach deutlich sehen konnte. Aber die Photographie zeige auch nur die Hälfte des Gesichts. Alle Ärzte glichen sich beim Operieren, sagte er.

»An wen erinnert dich denn diese Bestie?« fragte der Alte unbarmherzig.

»Das hat doch alles keinen Sinn!« antwortete Hungertobel. »Ich habe es dir gesagt, es muß ein Irrtum sein.«

»Und dennoch würdest du schwören, daß er es ist, nicht wahr, Samuel?«

Nun ja, entgegnete der Arzt. Er würde es schwören, wenn er nicht wüßte, daß es der Verdächtigte nicht sein könne. Sie sollten diese ungemütliche Sache jetzt lieber sein lassen. Es tue nicht gut, kurz nach einer Operation, bei der es auf Tod und Leben gegangen sei, in einem alten ›Life‹ zu blättern. Dieser Arzt da, fuhr er nach einer Weile fort und beschaute sich das Bild hypnotisiert von neuem, könne nicht der sein, den er kenne, weil der Betreffende während des Krieges in Chile gewesen sei. Also sei das ganze Unsinn, das sehe doch ein jeder.

»In Chile, in Chile«, sagte Bärlach. »Wann ist er denn zurückgekommen, dein Mann, der nicht in Frage kommt, Nehle zu sein?«

»Fünfundvierzig.«

»In Chile, in Chile«, sagte Bärlach von neuem. »Und du willst mir nicht sagen, an wen dich das Bild erinnert?«

Hungertobel zögerte mit der Antwort. Die Angelegenheit war dem alten Arzt peinlich.

»Wenn ich dir den Namen sage, Hans«, brachte er endlich hervor, »wirst du Verdacht gegen den Mann schöpfen.«

»Ich habe gegen ihn Verdacht geschöpft«, antwortete der Kommissär.

Hungertobel seufzte. »Siehst du, Hans«, sagte er, »das habe ich befürchtet. Ich möchte das nicht, verstehst du? Ich bin ein [9] alter Arzt und möchte niemandem Böses getan haben. Dein Verdacht ist ein Wahnsinn. Man kann doch nicht auf eine bloße Photographie hin einen Menschen einfach verdächtigen, um so weniger, als das Bild nicht viel vom Gesicht zeigt. Und außerdem war er in Chile, das ist eine Tatsache.«

Was er denn dort gemacht habe, warf der Kommissär ein.

Er habe in Santiago eine Klinik geleitet, sagte Hungertobel.

»In Chile, in Chile«, sagte Bärlach wieder. Das sei ein gefährlicher Kehrreim und schwer zu überprüfen. Samuel habe recht, ein Verdacht sei etwas Schreckliches und komme vom Teufel.

»Nichts macht einen so schlecht wie ein Verdacht«, fuhr er fort, »das weiß ich genau, und ich habe oft meinen Beruf verflucht. Man soll sich nicht damit einlassen. Aber jetzt haben wir den Verdacht, und du hast ihn mir gegeben. Ich gebe ihn dir gern zurück, alter Freund, wenn auch du deinen Verdacht fallen läßt; denn du bist es, der nicht von diesem Verdacht loskommt. «

Hungertobel setzte sich an des Alten Bett. Er schaute hilflos nach dem Kommissär. Die Sonne fiel in schrägen Strahlen durch die Vorhänge ins Zimmer. Draußen war ein schöner Tag, wie oft in diesem milden Winter.

»Ich kann nicht«, sagte der Arzt endlich in die Stille des Krankenzimmers hinein: »Ich kann nicht. Gott soll mir helfen, ich bringe den Verdacht nicht los. Ich kenne ihn zu gut. Ich habe mit ihm studiert, und zweimal war er mein Stellvertreter. Er ist es auf diesem Bild. Die Operationsnarbe über der Schläfe ist auch da. Ich kenne sie, ich habe Emmenberger selbst operiert. «

Hungertobel nahm die Brille von der Nase und steckte sie in die rechte obere Tasche. Dann wischte er sich den Schweiß von der Stirne.

»Emmenberger?« fragte der Kommissär nach einer Weile ruhig. »So heißt er?«

»Nun habe ich es gesagt«, antwortete Hungertobel beunruhigt. »Fritz Emmenberger.«

[10] »Ein Arzt?«

»Ein Arzt.«

»Und lebt in der Schweiz?«

»Er besitzt die Klinik Sonnenstein auf dem Zürichberg«, antwortete der Arzt. »Zweiunddreißig wanderte er nach Deutschland aus und dann nach Chile. Fünfundvierzig kehrte er zurück und übernahm die Klinik. Eines der teuersten Spitäler der Schweiz«, fügte er leise hinzu.

»Nur für Reiche?«

»Nur für Schwerreiche.«

»Ist er ein guter Wissenschaftler, Samuel?« fragte der Kommissär.

Hungertobel zögerte. Es sei schwer, auf seine Frage zu antworten, sagte er: »Er war einmal ein guter Wissenschaftler, nur wissen wir nicht recht, ob er es geblieben ist. Er arbeitet mit Methoden, die uns fragwürdig Vorkommen müssen. Wir wissen von den Hormonen, auf die er sich spezialisiert hat, noch herzlich...