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Schwarze Hunde

Ian McEwan

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257603279 , 240 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

[29] Das gerahmte Bild, das June Tremaine auf dem Schränkchen neben ihrem Bett stehen hatte, sollte sie, ebenso wie ihre Besucher, an das hübsche Mädchen erinnern, dessen Gesicht, anders als das ihres Mannes, nichts davon verriet, in welche Richtung es sich einmal entwickeln würde. Der Schnappschuß wurde im Jahr 1946, ein oder zwei Tage nach der Trauung, aufgenommen, eine Woche bevor die beiden auf Hochzeitsreise nach Italien und Frankreich fuhren. Das Paar steht Arm in Arm am Geländer vor dem Eingang zum Britischen Museum. Vielleicht hatten sie gerade Mittagspause, denn beide arbeiteten sie in der Nähe und erhielten erst wenige Tage vor ihrer Abreise die Genehmigung, ihre Stellen zu kündigen. Aus rührender Sorge, an den Bildrändern abgeschnitten zu werden, neigen sie sich einander zu. Das Lächeln, das sie der Kamera schenken, entspringt ungekünstelter Freude. Bernard ist nicht zu verwechseln. 1,90 groß, mit übergroßen Händen und Füßen, einer überdimensionalen, gutmütigen Kinnpartie und Segelfliegerohren, die durch den pseudomilitärischen Haarschnitt noch komischer wirken. Dreiundvierzig Jahre haben bei ihm lediglich vorhersehbaren Schaden angerichtet, und auch der war nur geringfügig – lichteres Haar, dichtere Augenbrauen, gröbere Haut –, während der eigentliche Mann, diese erstaunliche Erscheinung, 1946 derselbe unbeholfene, [30] strahlende Riese war wie 1989, als er mich bat, ihn nach Berlin zu begleiten.

Junes Gesicht hingegen kam ebenso von seinem vorherbestimmten Kurs ab wie ihr Leben, und es ist kaum möglich, in dieser Aufnahme das alte Gesicht zu erahnen, das sich in wohlwollende Willkommensfalten legte, wenn man ihr Privatzimmer betrat. Die Fünfundzwanzigjährige hat ein reizendes rundes Gesicht und ein fröhliches Lächeln. Ihre Dauerwelle für die Reise ist zu straff, zu streng und steht ihr nicht im geringsten. Im Glanz der Frühlingssonne leuchten die Locken, von denen sich erste Strähnen lösen. Sie trägt ein kurzes Jackett mit hohen, gepolsterten Schultern und einen passenden Faltenrock – die verhaltene Extravaganz jenes Stoffes, den man mit dem New Look der Nachkriegszeit verbindet. Ihre weiße Bluse hat einen gewagten V-Ausschnitt, der ihren Brustansatz freigibt. Der Kragen ist über das Jackett geschlagen und verleiht ihr das frische, rosige Aussehen der Landarbeiterinnenplakate. (Seit 1939 war sie Mitglied des Sozialistischen Radsportvereins Amersham.) Mit einem Arm preßt sie ihre Handtasche an sich, mit dem anderen hat sie sich bei ihrem Mann untergehakt. Sie lehnt sich an ihn an, ihr Kopf reicht ihm nicht einmal bis zur Schulter.

Heute hängt die Photographie in der Küche unseres Hauses im Languedoc. Ich habe sie oft eingehend betrachtet, meist wenn ich allein war. Jenny, meine Frau, Junes Tochter, mißtraut meiner Raubtiernatur und ärgert sich über die Faszination, die ihre Eltern auf mich ausüben. Sie hat lange genug gebraucht, um von ihnen loszukommen, und [31] zu Recht befürchtet sie, mein Interesse könnte sie zurückwerfen. Ich gehe nah an das Photo heran und versuche das künftige Leben, das künftige Gesicht vorwegzunehmen, die Unbeirrbarkeit, die auf eine einzigartige Mutprobe folgte. Auf der glatten Stirn direkt über dem Zwischenraum zwischen den Augenbrauen hat ihr vergnügtes Lächeln eine winzige Hautfalte geschlagen. In dem runzligen Gesicht ihres späteren Lebens sollte sie das beherrschende Merkmal werden, eine tiefe senkrechte Furche, die von ihrem Nasensattel aufstieg und ihre Stirn zerteilte. Vielleicht bilde ich mir die in der Kontur des Kinns verborgene Härte hinter ihrem Lächeln nur ein – die Entschlossenheit, Standfestigkeit, ihren wissenschaftlichen Zukunftsoptimismus? Das Photo wurde an demselben Vormittag aufgenommen, als June und Bernard in der Parteizentrale in Gratton Street in die Kommunistische Partei Großbritanniens eintraten. Sie haben ihre Stellen gekündigt, und es steht ihnen frei, sich zu ihren politischen Bindungen zu bekennen, womit sie, solange der Krieg andauerte, gezögert hatten. Jetzt, zu einem Zeitpunkt, als viele nach der schwankenden Haltung der Partei – war der Krieg ein hochherziger antifaschistischer Befreiungskampf oder ein aggressiver imperialistischer Beutezug? – ihre Zweifel haben und einige ihre Parteibücher zurückgeben, wagen June und Bernard den Sprung. Sie hoffen nicht nur auf eine gerechte, vernünftige Welt, frei von Krieg und Klassenunterdrückung, sondern finden auch, daß ihre Parteizugehörigkeit sie mit allem zusammenbringt, was jung, lebhaft, intelligent und wagemutig ist. Über den Ärmelkanal steuern sie, wovon man ihnen [32] abgeraten hat, auf das Chaos mitten in Europa zu. Doch sie sind entschlossen, ihre neuen persönlichen und geographischen Freiheiten auszukosten. Von Calais aus wollen sie nach Süden, in den mediterranen Frühling. Die Welt ist wie neugeboren, und es herrscht Frieden, der Faschismus war der unwiderlegliche Beweis für die unheilbare Krise des Kapitalismus, die wohltätige Revolution steht vor der Tür, und sie sind jung, frisch verheiratet und verliebt.

Bernard hielt seine Mitgliedschaft, obwohl er sich sehr damit herumquälte, bis zum Einmarsch der Sowjets in Ungarn 1956 aufrecht. Dann erst vollzog er seinen längst fälligen Austritt. Seine Sinnesänderung entsprach dabei einer gutdokumentierten Logik, einem Desillusionierungsprozeß, den er mit einer ganzen Generation teilte. June dagegen hielt es nur einige Monate aus, bis zu der besagten Begegnung auf ihrer Hochzeitsreise, die diesem Lebensbericht seinen Titel gab. Sie machte eine tiefgreifende Verwandlung durch, eine Metempsychose, die sich in der Umbildung ihres Gesichtes niederschlug. Wie konnte ein rundes Gesicht nur so lang werden? War es wirklich möglich, daß das Leben selbst – und nicht die Gene – jene kleine Falte, die ihr Lächeln warf, über den Brauen einwurzeln ließ und die bis zum Haaransatz reichende Verästelung von Runzeln hervorbrachte? Ihren eigenen Eltern war selbst im hohen Alter nichts dergleichen ins Gesicht geschrieben. Gegen Ende ihres Lebens, als June in das Pflegeheim eingewiesen wurde, glich ihr Gesicht dem des alten W. H. Auden. Vielleicht hatten Jahre mediterranen Sonnenscheins ihre Gesichtshaut gegerbt und verzogen, Jahre der Einsamkeit und des Nachdenkens ihre Züge erst [33] angespannt und dann gefältelt. Mit dem Gesicht verlängerte sich auch die Nase und ebenso das Kinn, dann schien es sich eines anderen zu besinnen und eine Umkehr zu versuchen, indem es in einer Kurve nach außen wuchs. Im Schlaf hatte ihr Gesicht ein gemeißeltes, düsteres Aussehen; es war eine Statue, eine Maske, von einem Schamanen geschnitzt, um dem bösen Dämon zu wehren.

Dahinter mag eine schlichte Wahrheit stehen: Vielleicht hat sie ihr Gesicht so werden lassen, um es ihrer Überzeugung anzupassen, daß sie sich einer symbolischen Form des Bösen gegenübergesehen hatte und von diesem auf die Probe gestellt worden war. »Nicht doch, du Trottel. Nicht symbolisch!« höre ich sie mich berichtigen. »Dem Bösen persönlich, konkret, wirklich. Weißt du denn nicht, daß ich beinahe umgekommen wäre?«

Ich weiß nicht, ob es wirklich zutraf oder nicht, aber in meiner Erinnerung fand jeder meiner Besuche im Pflegeheim im Frühjahr und Sommer 1987 an regnerischen, stürmischen Tagen statt. Vielleicht gab es nur einen solchen Tag, und der hat die anderen überlagert. Jedesmal, so will mir scheinen, betrat ich das Heim – ein viktorianisches Landhaus – nach Luft ringend, nach einem Spurt vom abgelegenen Parkplatz bei den alten Stallungen. Die Roßkastanien ächzten und schwankten, das ungemähte Gras wurde, mit den Silberseiten nach oben, flach gegen den Boden gepreßt. Ich hatte mein Jackett über den Kopf gezogen, ich war durchnäßt und zutiefst verärgert über einen weiteren enttäuschenden Sommer. Im Vestibül blieb ich stehen und wartete darauf, daß ich wieder zu Atem kam [34] und meine Gereiztheit sich legte. War es wirklich nur der Regen? Ich freute mich, June zu sehen, aber das Heim selbst deprimierte mich. Sein Lebensüberdruß fraß sich in meine Knochen. Die Täfelung aus Eichenholzimitat bedrängte mich von allen Seiten, und der mit kinetischen Wirbeln in Rot und Senfgelb gemusterte Teppichboden sprang mich an, beleidigte mein Auge und raubte mir den Atem. In der dumpfigen Luft, deren freie Zirkulation ein System vorschriftsmäßiger Feuerschutztüren verhinderte, vermischten sich die abgestandenen Gerüche von Körpern, Kleidern, Parfüms und Frühstücksspeck. Der Mangel an Sauerstoff brachte mich zum Gähnen. Hatte ich die Kraft zu dem Besuch? Ebenso leicht hätte ich mich an der unbeaufsichtigten Anmeldung vorbeischleichen und die Korridore entlangwandern können, bis ich ein unbelegtes Zimmer und ein gemachtes Bett gefunden hätte. Ich würde zwischen die Anstaltslaken schlüpfen. Die Aufnahmeformalitäten könnten später geregelt werden, wenn ich zum Abendessen geweckt worden wäre, das auf einem gummibereiften Wägelchen gebracht würde. Danach würde ich ein Beruhigungsmittel einnehmen und weiterdösen. So würden die Jahre verrinnen…

Bei diesem Gedanken rief mir ein leichter Anfall von Panik wieder mein Vorhaben in den Sinn. Ich ging hinüber zur Anmeldung und schlug mit der flachen Hand auf die Tischglocke. Auch wieder so ein Mißgriff, diese antike Hotelglocke. Die gewünschte Atmosphäre war die eines Landsitzes; die erzielte Wirkung hingegen die eines überdimensionalen Bed & Breakfast, dessen »Bar« aus einem verschlossenen Schrank im Eßzimmer besteht, der abends [35] um sieben eine Stunde lang aufgetan wird. Und hinter diesen uneinheitlichen Erscheinungsbildern verbarg sich der wahre Zweck: ein rentables...