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Massimo Marini

Rolf Dobelli

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257600827 , 384 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

[9] Im Frühjahr 2004, drei Jahre vor der Entführung seines Sohnes, gestand mir Massimo Marini, dass er sich in die berühmte Cellistin Julia Bodmer verliebt habe und mit dem Gedanken kämpfe, sich von seiner Frau scheiden zu lassen.

Marini hatte bis dahin sein halbes Leben mit der Entwicklung des Bauunternehmens verbracht, das sein Vater gegründet und dessen Leitung er nach dem überraschenden Tod seines Vaters 1986 übernommen hatte. Seit bald zwanzig Jahren war Massimo, dieser gesunde, kräftige Mann im besten Alter von sechsundvierzig Jahren, Herr über einen beachtlichen Maschinenpark, bestehend aus Bulldozern, Landraupen, Tieflöffelbagger, Felsbohrern, Steintrennmaschinen und Sprengstoffmischgeräten, über einen Personalbestand von zweihundert qualifizierten Mineuren und ein Portfolio erfolgreich abgeschlossener Tunnelbauten im In- und Ausland.

Massimos Mutter und Vater stammten beide aus derselben apulischen Ortschaft und kamen als junge Leute auf der Suche nach Arbeit in die Schweiz. Von ihnen hatte Massimo die gesunde, kräftige Hautfarbe geerbt, von seiner Mutter die imposanten Augenbrauen, die kühn geschnittenen Backenknochen vom Vater und die schwarzen Augen von beiden.

Für sein Alter hatte er erstaunlich sattes, schwarzes Haar, das er morgens mit ein bisschen Pomade zu bändigen [10] versuchte und das den ganzen Tag in beneidenswerten Wellen glänzte. Sein Gesicht hatte etwas Strahlendes, und er strotzte vor Gesundheit. Seine Hände waren sehr schön. Weder sein Haar noch sein Gesicht noch sein Körper noch die Art, wie er ging, wie er sprach oder dachte – nichts von alldem zeigte Symptome jener Katastrophe, die man das Alter nennt – jenes Ungeheuer, das seinen Vater innerhalb weniger Jahre von einem vitalen Mann in ein keuchendes, krankes Männchen verwandelt und ihn schließlich ganz niedergerungen hatte.

Massimo hatte die Cellistin zum ersten Mal gesehen, als er vom Zürcher Opernhaus-Management aufgefordert wurde, einen kleinen Werkfehler anzuschauen, den seine Arbeiter beim Umbau der Dachkonstruktion angeblich gemacht hatten. Er betrat die Bühne durch den seitlichen Künstlereingang, und als er die Tür aufstieß, warf ihn das Gleißen der Scheinwerfer zurück.

Es war mehr als ein Blenden, es war eine Flut von Licht, die seinen ganzen Körper erfasste. Massimo musste sich mit beiden Händen am Türrahmen festhalten, und erst nach einer Weile gewöhnten sich seine Augen an die Helle: Vor ihm öffnete sich die unendliche Weite der Bühne, dahinter ragten die leeren Sitzreihen des Parketts und der Balkone wie eine Felswand empor, und im Zentrum der Bühne, dort, mitten im Lichtkegel, sah er eine Frau, die ein Cello umarmte.

Sie saß reglos da. Er sah sie nur von hinten. Soweit er ausmachen konnte, trug sie einen dunklen Rollkragenpullover, ihre Haare waren sehr hell und mit einem Gummi [11] zusammengebunden. Er sah weder ihr Gesicht noch ihre Hände, nur ihren Hinterkopf, den Hals, die Schultern, die letzten zwanzig Zentimeter ihrer Beine und ihre Schuhe. Neben ihrem Hinterkopf leuchtete die Schnecke des Cellos bernsteinfarben auf.

Die Frau saß reglos, und Massimo wusste einen Moment lang nicht weiter. In diesem Flutlicht konnte er den angeblichen Fehler in der Dachkonstruktion natürlich nicht sehen. Stille füllte den Saal, und außer ihm, der noch immer wie versteinert im Türrahmen stand, und dieser Frau mit dem Cello war niemand da. Schlief sie? Meditierte sie?

Gerade als er sich entschloss, diese Verschwendung von Licht auf ein erträgliches Maß herunterzudrehen, damit er nach oben schauen konnte, legte sie ihre Hand an den Wirbelkasten und setzte zu einem Ton an, einem rauchigen, rußigen, tiefen Ton. Als der letzte Hauch verebbt war, ließ sie ihre Hand sachte das Griffbrett entlangrutschen, bis sie hinter der Schulter verschwunden war. Anschließend drehte sie ein bisschen an dem Bogen herum.

Massimo wusste, dass er in einer halben Stunde zu einem Treffen mit der städtischen Planungskommission erwartet wurde, das mit schnellen Schritten und einem pünktlichen Tram in genau einer halben Stunde zu erreichen war.

Wieder legte sie ihre linke Hand an das Griffbrett, senkte den Kopf, als wollte sie den Cellohals küssen, umschlang das Instrument, war daran, es sich einzuverleiben – und plötzlich brach aus dieser herrlichen, organischen Skulptur eine Musik hervor, die Massimo vollends überwältigte.

[12] Unmöglich zu sagen, wie lange das Stück gedauert hatte – geschweige denn, was für eine Komposition es war. Massimo war in diesen Dingen nicht zu Hause. Er konnte sich nur noch daran erinnern, dass er in der Fülle dieser Eindrücke das Meeting mit der Planungskommission verpasste, ja sogar vergaß, den angeblichen Fehler in der Dachkonstruktion zu überprüfen.

»Sie haben mich beobachtet.« Sie hatte sich umgedreht.

Sie war groß und sehr schlank. Ihr Gesicht war hell und von der Anstrengung etwas gerötet, und ihre Augen waren von einem intensiven Blau. Alles in allem der nordische Typ, aber ihre Lippen waren voller, als er dies bei einer so hellen Erscheinung erwartet hatte. Eine schöne Frau um die dreißig, mit einem Körper, der seinen kühnsten Vorstellungen entsprach.

Aber Massimo spürte sogleich eine Unnahbarkeit. Es war mehr als der übliche Nord-Süd-Graben der sich sonst zwischen Männern wie ihm und diesem Typ Frau auftat. Es war eine seltsame Entrücktheit. Er fühlte sich mit einem Mal unsicher und überspielte seine Beklemmung mit einer doppelten Portion Selbstsicherheit.

»Anscheinend war mein Einfluss positiv. Es hat sich jedenfalls so angehört.«

Sie gestattete sich ein Lächeln.

»Überschätzen Sie sich nicht.«

Sie stand auf, zog das Gummiband aus ihrem Haar und schüttelte ihren Kopf. Das Haar fiel über die Schultern, und die Spitzen zeigten wegen der elektrostatischen Aufladung allesamt ein bisschen nach oben.

Sie packte das Cello am Hals, ziemlich unsanft – aber [13] wohl nicht heftiger, als dies Cellisten eben tun –, hob es hoch und ging Richtung Künstlereingang. Er musste schlucken. Für einen Augenblick fühlte es sich an, als hätte diese Frau seinen Hals gepackt und ihn, Massimo, hochgehoben.

»Hören Sie, das war großartig!« Er holte sie kurz vor dem Eingang ein, öffnete ihr die Tür zur Hinterbühne, dann die nächste, dann noch eine und noch eine, bis – bis sie beide im Garderobenraum standen. Sie legte das Cello sorgfältig in den Kasten, streckte sich in einer Art frei inspirierter Yogapose, kämmte ihr Haar und wusch sich die Hände.

Massimo stand daneben, die Hände in den Hosentaschen, und staunte, als würde er gerade die Entstehung einer neuen Tierart miterleben. Sie packte ihre Sachen, ihren Mantel, den Cellokasten und trat in den Gang hinaus.

»…wo ich sie küsste. Einfach so. Auf die Stirn. Ich konnte nicht anders. Es war die reinste Albernheit, ich meine, ein Mann in meinem Alter, glauben Sie mir, wenn ich das sage, ich kam mir wie ein Jüngling vor, noch heute komme ich mir dreißig Jahre jünger vor, wenn ich mit ihr bin…«

Das Chateaubriand wurde gerade serviert. Eine kleine Pause entstand. Erst als sich die Kellnerin genügend weit von unserem Tisch entfernt hatte, sagte er: »Wyss…«, und jetzt beugte er sich zu mir vor und flüsterte: »Ich will diese Frau.«

Als Anwalt bin ich es gewohnt, Einblicke in persönliche Schicksale zu erhalten. Ich nehme sie mit der angebrachten professionellen Distanz zur Kenntnis, ich behandle sie wie [14] Lottozahlen oder Resultate von Fußballspielen, als Fakten, die nichts mehr sind als das.

Keine Ahnung, warum ich gerade an diesem Tag meine bewährte Distanz zu gerade diesem Klienten aufgab. Dass jemand davon träumt, seine Frau wegen einer anderen zu verlassen, ist ja nun wirklich nichts Neues, besonders wenn man seine Klienten über Jahre betreut.

Und Massimo war seit Jahren mein Klient. Schon seine Eltern hatte ich beraten, da war er noch ein Teenager, und sein Vater – dieser zäh und unbeirrt malochende süditalienische Gastarbeiter – auf dem besten Weg, ein Tunnelbauunternehmen aus dem Boden zu stampfen.

Massimo stand noch jahrelang im Schatten des mittlerweile verstorbenen Alten, und gerade weil sein Vater und ich eine so hervorragende Beziehung gepflegt hatten, dauerte es eine Weile, bis sich Massimo für mich erwärmte.

Dass ich seine unrühmliche Vergangenheit kannte – als Student und einige Jahre danach war Massimo im linken Milieu aktiv und machte »tonnenweise Dummheiten«, wie sein Vater mir gegenüber andeutete, nicht ohne die eine oder andere davon auszuführen –, war sicher der wichtigste Grund, warum Massimo mich lange Zeit mied und nur mit dem Allernötigsten zu mir kam. Unsere Meetings waren rar, kurz, sachlich und frostig.

So richtig gut und damit meine ich persönlich wurde unsere Beziehung erst vor kurzem, durch den peinlichen Zwischenfall zwei Monate zuvor. Es war ein Samstagmorgen, die Sonne machte sich schon kräftig ans Werk, ein Frühlingsgewitter war in der Nacht über der Stadt niedergegangen, und überall dampfte die feuchte Erde.

[15] Ich war gerade dabei, meine Joggingschuhe anzuziehen, als Massimo anrief: »Wyss, Sie müssen mir helfen.«

»Ja, was ist denn?«, fragte ich.

»Ein Teil des Dachs vom Opernhaus ist eingestürzt.«

»Das Sie umgebaut haben?«

»Würde ich Sie sonst anrufen?«

»Schäden?«

»Natürlich.«

»Große?«

»Ein verletzter Hausmeister und ein kaputter Steinway-Flügel der Orchesterklasse. Beschädigungen am Boden, an den...