dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Lycidas - Roman

Christoph Marzi, Ute Brammertz

 

Verlag Heyne, 2006

ISBN 9783894809645 , 864 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

12,99 EUR

  • Lumen - Die Uralte Metropole 3 - Roman
    Die Trolle - Roman
    Bartimäus - Die Pforte des Magiers
    Bartimäus - Das Amulett von Samarkand
    Bartimäus - Das Auge des Golem
    Cryptonomicon - Roman
    Die Brennessel (The Brain Project)
    Die Chirurgin - Ein Rizzoli-&-Isles-Thriller
  • Das Gesicht des Drachen - Ein Lincoln-Rhyme-Roman

     

     

     

     

     

     

     

     

 

 

DOMBEY & SON

Die Welt ist gierig, und manchmal verschlingt sie kleine Kinder mit Haut und Haaren. Emily Laing erfuhr dies, bevor ihre Zeit gekommen war. Als sie meinen Weg kreuzte, flüchtete sie vor denen, die ihr eine Zukunft versprochen hatten, jenen, die täuschen und lügen und betrügen und dafür sorgen, dass das Lächeln in Kindergesichtern traurig und unecht wirkt.
Außer Atem kniete das Mädchen am Fuße einer Rolltreppe in der Tottenham court Road, während der lauwarme Wind eines nahenden Zuges ihr das rote, lockige Haar aus dem schmutzigen Gesicht blies. Ängstlich sah sie mich an, und als ich der Ratte gewahr wurde, die neben dem Mädchen auf dem Boden saß und zutraulich die schnauze gegen die Hand der Kleinen drückte, um mich sodann mit wachsamen Kulleraugen zu mustern, wusste ich, dass ich die Untergrundbahn nicht alleine verlassen würde.
So lernte ich Emily Laing kennen.
An einem Tag im Winter.
Nicht lange vor Weihnachten.
»Sie sollte längst zurück sein«, höre ich mein Gegenüber sagen.
Die Besorgnis, die nie verschwindet, erwacht zu neuem Leben.
Ich lasse den Blick durch den Raum schweifen. Normalerweise beruhigt mich dieser Raum mit der niedrigen Holzdecke und den vielen Gästen, die laut redend ihr Bier trinken. Nicht jedoch an diesem Abend.
»Sie hat es geschafft«, bemerke ich möglichst zuversichtlich. »Du spürst es?«, will mein Gegenüber wissen. Ich nicke nur.
»Ich spüre nichts. Nicht das Geringste.«
Das beunruhigt mich noch mehr.
Ich schaue durch eines der kleinen Fenster in die Nacht hinaus. Draußen hat es wieder zu schneien begonnen. Dicke Flocken wirbeln durch die Dunkelheit. Ich nippe an meinem Kräutertee. Mürrisch und gedankenverloren.
Ein verlorenes Kind irrt gerade durch dieses eisig klirrende Wintermärchen, in das sich London seit bereits zwei Monaten verwandelt hat.
»Wir hätten sie nicht gehen lassen dürfen«, stellt mein Gegenüber fest.
»Hatten wir denn die Wahl?«
Im Grunde genommen wissen wir doch beide, dass es keinen anderen Weg gab.
Doch sollte ich meiner Erzählung nicht vorgreifen.
Schließen Sie die Augen und lauschen Sie meinen Worten. Folgen Sie mir nach Rotherhithe, wo die Luft allzeit salzig nach Meer riecht und die riesigen Lagerhäuser an die alten Zeiten erinnern, als hier noch die Waren aus den Kolonien umgeschlagen wurden. Damals duftete es nach Zimt und Ingwer und Ananas, nach Orient und anderen fernen Ländern; damals zogen Pferde schwere Karren durch die engen Gassen, beladen mit fremden Köstlichkeiten. Doch der Zauber verflog und machte lärmenden Kränen, rostigen Lastern und herumlungernden Gestalten Platz.
Das Kopfsteinpflaster wirkt heute dunkler und schmutziger. Des Nachts ist es unsicher auf den Straßen und in den Gassen. Spärliches Licht aus krummen Laternen lässt die Dinge zur Hälfte im Schatten verschwinden. Gut gesittete Bürger neigen dazu, diese Gegend zu meiden.
Emily Laing kannte sich dort aus. Drüben am anderen Themseufer.
Ein klappriges Schild aus morschem Holz mit der dahingekritzelten Aufschrift »Dombey & Son - Anstalt für heimatlose Kinder« zierte den Eingang zu ihrem Zuhause. An diesem traurigen Ort soll unsere Geschichte beginnen?, werden Sie sich fragen. Sie wird es! Denn ich werde sie genauso erzählen, wie sie passiert ist. und sie begann nun einmal in Rotherhithe, hinter den Mauern jenes armseligen Kinderheims, das von Reverend Charles Dombey nebst seinem Sohn Charles Dombey junior geführt wurde, unter Mithilfe eines ständig missgelaunten und dem Alkohol verfallenen Hausmeisters namens Mr. Meeks.
Die Kinder jener Anstalt besaßen nur einen Vornamen, von dem allerdings kaum jemand außer ihnen selbst Gebrauch machte. Für Reverend Dombey waren die Kinder lediglich Nummern, und nur als solche kannte er sie und sprach sie auch nur auf diese Weise an.
»Fünfzehn hat den Kater geärgert«, hörte man Mr. Meeks oft fluchen, der das zerlauste, bissige Monster liebte. »Vierundzwanzig bekommt wegen unzüchtiger Scherze zehn Schläge mit dem Rohrstock«, verhängte der Reverend, wie er von den Kindern genannt wurde, die von ihm bevorzugte Strafe. Entkommen gab es keines und Vergehen gab es viele an der Zahl. »Sieben isst den Teller nicht leer. Dreizehn will nicht einschlafen. Zweiundzwanzig hat sich im Essensraum übergeben.« Selbst banale Missgeschicke wurden bestraft.
Unerbittlich schlug der Reverend zu ... und nicht wenige der Kinder erkannten die Freude, die in seinen Augen aufblitzte, wenn er den Rohrstock niedersausen ließ.
Das Waisenhaus war in einem alten Backsteinhaus untergebracht, dessen Fassade bröckelte und das einstmals, in den alten Zeiten, als Hafenmeisterhaus gedient hatte. Der Reverend, hager und hakennasig, und sein Sohn, feist und nörgelig, bewohnten das oberste Stockwerk, von wo aus sie einen schönen Ausblick auf das gegenüberliegende Themse-Ufer hatten und des Nachts die hell erleuchtete Kuppel von St. Paul's bewundern konnten. Wenngleich auch keines der Kinder den beiden genügend Feingefühl zugesprochen hätte, einen solchen Anblick überhaupt bemerken, geschweige denn ihn genießen zu können. Die älteren Kinder munkelten, es gäbe dort oben Reichtümer, die der Reverend von den Eltern der Kinder als Bezahlung erhalten habe dafür, dass diese sich nun nicht mehr mit ihren Bälgern abzugeben brauchten. Doch keines der Kinder hatte je einen Fuß in die Räume des Reverends gesetzt.
Schlimmstenfalls wurde ein Kind ins Büro des Reverends gerufen, wo es entweder eine Bestrafung zu erwarten hatte oder eine neue Aufgabe zugesprochen bekam. Das Büro, von den Kindern nur als »die Kammer« bezeichnet, befand sich im Stockwerk unter der Wohnung der Dombeys. Es roch dort staubig nach schimmligen Akten, die sich in Regalen aus dunklem Holz bis unter die hohe Decke stapelten und die, so munkelte man, die Geheimnisse über die Herkunft der Kinder enthielten. Nur dürftiges Licht fiel durch das schmale, schmutzig milchglasige Fenster ins Innere. Auf dem Schreibtisch lag immer eine dicke Bibel, aus welcher der Reverend mit feuriger Leidenschaft zu zitieren pflegte, bevor der Rohrstock herniederfuhr.
Ein- bis zweimal in der Woche musste jedes Kind eine Aufgabe verrichten.
Oftmals kamen Leute »von draußen« vorbei, die Arbeit offerierten.
Auskehren einer Werkstatt. Handlangerdienste auf einer Baustelle. Botengänge in Rotherhithe und Whitechapel. Blumenverkauf am Blackfriars-Bahnhof. Putzdienste bei den Geschäftsleuten im Norden der Stadt. Bebetteln der Touristen am Parlament und der Westminster Abtei.