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Der Schrei der Eule

Patricia Highsmith, Paul Ingendaay

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257600988 , 432 Seiten

3. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

[9] 1

Robert arbeitete nach Dienstschluß um fünf noch fast eine Stunde. Es gab für ihn keinen Grund, nach Hause zu eilen, und wenn er noch an seinem Zeichentisch sitzen blieb, ersparte er sich das Autogewühl auf dem Parkplatz zwischen fünf und halb sechs, wenn sich die Angestellten von Langley Aeronautics auf den Heimweg machten. Jack Nielson arbeitete auch länger, wie Robert feststellte, und ebenso der alte Benson, der ohnehin meistens der letzte war. Robert schaltete seine Neonlampe aus.

»Warte auf mich«, sagte Jack. Seine Stimme hallte dumpf durch das leere Zeichenbüro.

Robert holte seinen Mantel aus dem Spind.

Sie verabschiedeten sich von Benson und gingen durch die längliche, verglaste Empfangshalle zu den Aufzügen.

»Na, jetzt hast du ja deine Astronautenschuhe«, sagte Robert.

»Hmm.« Jack blickte auf seine großen Füße hinunter.

»Beim Lunch hattest du sie aber nicht an, oder?«

»Nein, sie waren im Spind. Man soll sie anfangs nur ein paar Stunden am Tag tragen.«

Sie betraten den Lift.

»Sehen gut aus«, meinte Robert.

Jack lachte. »Scheußlich sehen sie aus, aber dafür sind [10] sie unheimlich bequem. Übrigens, ich wollte dich noch was fragen. Kannst du mir bis zum Ersten zehn Dollar borgen? Heute ist zufällig…«

»Aber klar.« Robert zog seine Brieftasche heraus.

»Heute ist unser Hochzeitstag. Betty und ich gehen essen, aber komm doch vorher noch auf einen Drink vorbei. Wir machen eine Flasche Schampus auf.«

Robert gab ihm das Geld. »Euer Hochzeitstag… den solltet ihr lieber alleine feiern.«

»Ach, komm schon. Nur auf ein Glas Sekt. Ich habe Betty versprochen, dich zu überreden, daß du auf einen Sprung mitkommst.«

»Nein, danke, Jack. Bist du sicher, daß du nicht mehr brauchst, wenn ihr ausgehen wollt?«

»Ganz sicher. Ich brauch das nur für die Blumen. Sechs Dollar würden auch reichen, aber zehn kann man sich besser merken. Ich hab dich auch nur angepumpt, weil heute die letzte Rate für die Schuhe fällig ist. Fünfundsiebzig Dollar! Dafür dürfen sie wirklich bequem sein. Jetzt komm schon, Bob.«

Sie standen auf dem Parkplatz. Robert wollte nicht mitkommen, aber es fiel ihm keine gute Ausrede ein. Er betrachtete Jacks längliches, im Grunde häßliches Gesicht unter dem kurzgeschorenen schwarzen Haar, das allmählich grau wurde. »Der wievielte Hochzeitstag ist es denn?«

»Der neunte.«

Robert schüttelte den Kopf. »Ich fahr nach Hause, Jack. Grüß Betty schön von mir, ja?«

»Was hat denn der neunte damit zu tun?« rief Jack ihm nach.

[11] »Nichts! Wir sehen uns morgen!«

Robert stieg in seinen Wagen und fuhr vor Jack los. Jack und Betty hatten ein bescheidenes, unauffälliges Häuschen in Langley und waren ständig in Geldnöten, weil Jacks Mutter und Bettys Vater andauernd krank wurden. Kaum hatten sie ein bißchen Geld für einen Urlaub oder eine Schönheitsreparatur am Haus beisammen, konnte man sich laut Jack darauf verlassen, daß es für einen der beiden draufging. Aber Betty und Jack hatten ein fünfjähriges Töchterchen und waren glücklich.

Die Dunkelheit brach so rasch herein, daß man fast zusehen konnte. Sie wälzte sich heran wie eine schwarze See. Als Robert an den Motels und Hamburger-Buden am Stadtrand von Langley vorbeikam, merkte er, daß ihm davor graute, in die Stadt hinein und nach Hause zu fahren. An einer Tankstelle wendete er und fuhr den Weg zurück, den er gekommen war. Es liegt nur an der Dämmerung, dachte er. Er mochte sie nicht einmal im Sommer, wenn sie langsamer hereinbrach und erträglicher war. Im Winter, hier in dieser kahlen Landschaft Pennsylvanias, die er nicht gewohnt war, überfiel sie einen so plötzlich, daß einem angst werden konnte. Wie ein unerwarteter Tod. Am Wochenende, wenn er nicht arbeitete, zog er um vier Uhr nachmittags die Rollos herunter und machte das Licht an, und wenn er gute zwei Stunden später wieder aus dem Fenster sah, war die Dunkelheit einfach da, eine vollendete Tatsache. Robert fuhr nach Humbert Corners, eine kleine Stadt etwa neun Meilen von Langley entfernt, und nahm dann eine schmale Schotterstraße, die aufs Land hinaus führte.

[12] Er wollte das Mädchen wiedersehen. Vielleicht zum letzten Mal, dachte er. Aber das hatte er schon oft gedacht, und bisher war kein Mal das letzte Mal gewesen. Er fragte sich, ob das Mädchen der Grund war, weshalb er heute länger als üblich gearbeitet hatte; ob er so lange dageblieben war, um sicherzugehen, daß es dunkel war, wenn er sich auf den Weg machte.

Robert stellte den Wagen auf einem Waldweg in der Nähe des Hauses ab, in dem das Mädchen wohnte, und ging zu Fuß weiter. An der Einfahrt verlangsamte er seine Schritte, ging bis zu dem umgefallenen Basketballbrett am Ende der Einfahrt und daran vorbei auf die angrenzende Wiese.

Die junge Frau war wieder in der Küche. An der Rückseite des Hauses zeichneten sich die Fenster als zwei erleuchtete Quadrate ab. Hin und wieder durchquerte sie eines davon, doch die meiste Zeit hielt sie sich im linken auf, wo der Tisch stand. Robert empfand das Fenster wie den begrenzten Bildausschnitt im Sucher einer Kamera. Er wagte sich nur selten näher ans Haus heran, weil er befürchtete, von ihr entdeckt und von der Polizei als Herumtreiber oder Spanner verhaftet zu werden. Doch heute abend war es stockdunkel. Langsam pirschte er sich ans Haus heran.

Es war heute das vierte oder fünfte Mal, daß er hierherkam. Das erste Mal hatte er das Mädchen an einem Samstag gesehen, einem strahlenden, sonnendurchfluteten Samstag Ende September, an dem er ziellos durch die Gegend gefahren war. Sie hatte einen kleinen Teppich auf der Veranda ausgeschüttelt, als er hier vorbeikam, und obwohl er [13] sie nur etwa zehn Sekunden lang gesehen hatte, war ihm die Szene sehr vertraut vorgekommen, wie ein Bild oder eine Person, die er von irgendwoher kannte. Aus den Pappkartons auf der Veranda und den fehlenden Gardinen an den Fenstern schloß er, daß sie gerade erst eingezogen war. Es war ein zweistöckiges Haus, weiß mit braunen Fensterläden und Fensterrahmen, und es brauchte dringend einen neuen Anstrich; der Garten war verwildert und der weiße Metallzaun entlang der Einfahrt windschief und teilweise eingefallen. Das Mädchen hatte brünettes Haar und war relativ groß. Das war so ziemlich alles, was sich aus rund zwanzig Meter Entfernung feststellen ließ. Ob sie hübsch war oder nicht, konnte er nicht beurteilen, und darum ging es ihm auch gar nicht. Aber worum dann? Robert hätte es nicht in Worte fassen können. Doch als er das Mädchen zum zweiten und, zwei oder drei Wochen später, zum dritten Mal gesehen hatte, war ihm klargeworden, was ihm an ihr gefiel: ihre ruhige Gelassenheit, ihre offensichtliche Liebe zu dem heruntergekommenen Haus, ihre spürbare Zufriedenheit mit dem Leben, das sie führte. All das konnte er durch das Küchenfenster erkennen.

Gut drei Meter vom Haus entfernt blieb er stehen, ein Stück neben dem Lichtfleck, der aus dem Fenster fiel. Er sah sich nach allen Seiten um. Das einzige andere Licht, das er entdecken konnte, befand sich genau hinter ihm, auf der anderen Seite des langen Feldes, vielleicht eine halbe Meile weit weg, ein einsames Licht im Fenster eines Bauernhauses. In der Küche deckte das Mädchen den Tisch für zwei, was wohl bedeutete, daß ihr Freund zum Essen kam, ein großer Bursche mit schwarzem gewelltem Haar. [14] Robert hatte ihn zweimal gesehen. Einmal hatten sie sich geküßt. Vermutlich liebten sie sich und wollten heiraten. Hoffentlich wurde das Mädchen glücklich. Robert schob sich näher an die Hauswand heran, ohne die Füße zu heben, um nicht auf einen Zweig zu treten. Dann blieb er hinter einem kleinen Baum stehen und hielt sich mit einer Hand an einem Ast fest.

Heute abend gab es gebratenes Huhn. Auf dem Tisch stand eine Flasche Weißwein. Das Mädchen trug vorsorglich eine Schürze, doch auf einmal zuckte es zurück und rieb sich das Handgelenk, auf dem ein paar Spritzer heißes Fett gelandet waren. Robert konnte hören, daß aus dem kleinen Radio in der Küche Nachrichten kamen. Beim letzten Mal hatte das Mädchen eine Melodie mitgesungen. Ihre Stimme war weder gut noch schlecht, sondern einfach natürlich und ungekünstelt. Sie war etwa einssiebzig groß, eher kräftig gebaut, mit ziemlich großen Füßen und Händen. Er schätzte sie auf zwanzig bis fünfundzwanzig. Ihr Gesicht war glatt und makellos, anscheinend runzelte sie nie die Stirn, und das sanft gewellte brünette Haar und reichte ihr bis auf die Schultern. Es war in der Mitte gescheitelt und wurde von zwei goldenen Spangen über den Ohren nach hinten gehalten. Ihr Mund, breit und schmallippig, hatte für gewöhnlich denselben kindlich ernsten Ausdruck wie ihre grauen, ziemlich kleinen Augen. Auf Robert wirkte sie wie aus einem Guß, wie eine wohlproportionierte Statue. Und obwohl ihre Augen zu klein waren, paßten sie zum Rest, so daß ein Gesamteindruck entstand, den er wunderschön fand.

Wenn Robert sie nach zwei oder drei Wochen wieder [15] sah, ergriff ihn ihr Anblick jedesmal derart, daß sein Herz einen Schlag aussetzte und dann ein paar Sekunden lang schneller schlug. Eines Abends vor etwa einem Monat war es ihm vorgekommen, als würde sie ihn durchs Fenster direkt ansehen, und in dem Moment schien sein Herz stillzustehen. Er hatte ihrem Blick standgehalten, ohne Angst, ohne zu versuchen, sich durch Reglosigkeit zu tarnen; vielmehr sah er sich in diesen paar Sekunden mit der unangenehmen Erkenntnis konfrontiert, daß er zu Tode erschrocken war und in den nächsten Minuten womöglich...