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Systemische Familientherapie mit Kinder, Jugendlichen und Eltern - Lebensfluss-Modelle und analoge Methoden

Peter Nemetschek

 

Verlag Klett-Cotta, 2013

ISBN 9783608105605 , 435 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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44,99 EUR

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3. Jede Innenwelt, jede Familienwelt ist einzigartig


Bevor wir Methoden entwickeln, ist es gut, die Vor-Annahmen und Grundlagen, auf denen wir bauen, kritisch zu überprüfen und uns zu vergegenwärtigen: Aus welcher therapeutischen Schule kommen wir? Wo stehen wir, bezogen auf Familientherapie? In welche Richtung kann es gehen, um Familien effektiv bei der Lösung ihrer Krisen zu helfen?

Wie viele Kolleg/innen wurde auch ich dazu ausgebildet, zuerst das präsentierte so genannte Problem genau zu erkunden: Was, warum, wo, wie, wann, mit wem, was sind die tieferen Ursachen? Ich fand es durchaus einleuchtend, dass die Bewusstmachung ein wichtiger Schritt sei, so wie es von den Altvorderen überliefert wurde. In manchen familientherapeutischen Schulen ging man zunächst von Systemanalysen und Hypothesenbildung aus. Das schien nur allzu logisch zu sein.

Milton Ericksons Vorgabe war für mich ein heilsamer Schock: Jeder Mensch ist einzigartig, und du kannst seine Innenwelten nicht betreten. In Familien gibt es viele unsichtbare Innenwelten: besonders bei Kindern und Jugendlichen, die sich ständig weiter entwickeln. Ein komplexes, subtiles Zusammenspiel in dieser Familienwelt.

An einem Beispiel aus meiner Praxis möchte ich illustrieren, wie wichtig es sein kann, wenn ich beherzige, dass ich nicht weiß, was sich im Innenleben eines jungen Menschen abspielt.

Eine Mutter, gebildet, 34 Jahre jung, kommt mit ihrem elfjährigen Sohn. Schulprobleme stehen wie so oft im Vordergrund. Die Mutter ist seit sechs Jahren geschieden. Vor zwei Jahren hat sie wieder geheiratet. Der Junge mag den neuen Partner, der zu der ersten Sitzung mitkommt. In der fünften – von insgesamt sieben Sitzungen – erkunden wir, wie der Elfjährige am besten lernt und wie er sich deutsche und englische Texte am leichtesten merkt. Zunächst untersuchen wir, ob er ein gutes optisches Gedächtnis hat, ob er sich beispielsweise vor dem Inneren-Auge eine bestimmte Seite im Englisch-Buch vorstellen kann. Diese Art von Gedächtnis ist bei ihm zwar vorhanden, jedoch nicht sonderlich ausgeprägt.

Wir forschen weiter, wie er sich etwas bei einmaligem Sehen und/oder Hören merken kann. Er hat Texte aus einem Rollenspiel-Buch sofort drauf und hat eine ausgesprochene Begabung zu schauspielern. Des Weiteren spielt er gerne und sehr gut Basketball. Als Berufswunsch stellt er sich Computerspiele-Redakteur vor. Wenn er einen Film sieht, der ihn begeistert – z.B. Der Schuh des Manitu – kann er nicht nur ganze Passagen wortgenau wiedergeben, sondern auch die Stimmen der verschiedenen Anti-Helden des Films imitieren. Er liebt Rap, Playstations. Er hat seit kurzem einen eigenen Computer mit Internetanschluss, den er begeistert nutzt. Wir machen ein Experiment:

Aus einem englischen Comic-Buch lese ich ihm eine Passage vor. Er soll sie im Kreis gehend, im Rap-Rhythmus und mit schauspielerischen Gesten wiederholen. Bereits beim ersten Versuch kann er sich den Text genau merken, ausgenommen drei Worte.

Zu Hause hat er den Schuh des Manitu auf DVD. Er kann also den Text auf Englisch anklicken. Bis zum nächsten Mal soll/darf er sich den Film dreimal in der englischen Fassung ansehen. Dieser Auftrag begeistert ihn. Und auch die Mutter ist zufrieden.

Ganzen Generationen hat man eingebläut, wie man lernt. Nämlich möglichst still zu sitzen, verbal zu rekapitulieren. Auf keinen Fall darf dabei Musik laufen … Und dieser Lernstil gelte für alle Schüler gleichermaßen. Wenn wir uns dies vor Augen führen, erscheint uns das heute wie »schwarze Pädagogik«.Wenn sich ein Schüler mit dieser Lernmethode den Stoff nicht aneignen konnte, wurde er in der Schule bestraft. Wenn es dann noch immer nicht ging, wurden die Eltern unterrichtet und aufgefordert, ihn streng zum Lernen anzuhalten, und zwar in der oben geschilderten Weise. Ich glaube, die dargestellte familientherapeutische Arbeit mit dem Elfjährigen ist ein drastisches Beispiel, wie kontraproduktiv es ist, irrtümlich zu glauben, wir wüssten, was in der Innenwelt einer Person abläuft und wie sie funktioniert. Oder noch schlimmer: wie sie zu funktionieren habe.

Wenn in Supervisionsgruppen Fälle vorgestellt werden, bekommt man sehr oft Urteile und Vorurteile zu hören, ungenaue Diagnosen. Ausführlich werden Defizite geschildert: Schwächen, Blockaden, Macken. Und mit Verallgemeinerungen wird ein ziemlich verzerrtes Bild von Eltern, Kindern, Jugendlichen gezeichnet: davon, wie sie sich verhalten und wie sie sich verhalten sollten. Beispielsweise: Sind nicht motiviert, um zu … Sieht nicht, dass die Kinder … Verdrängt total … Bei diesen Eltern ist es kein Wunder, dass … Bei dieser schizoiden Kommunikation

Die Grunddaten hingegen, die ja recht einfach zu erfragen sind, bleiben oft vage. Es können Fragen nicht klar beantwortet werden wie: Wie alt sind die Eltern genau? Welchen Grundberuf haben sie, und welche Arbeit üben sie konkret aus? Die Antwort lautet etwa: Mutter ist so über 40, Vater arbeitet so was mit Computern … Nebelschwaden auch bei der Frage: Wie lange sind sie verheiratet, und wie lange sind sie vorher miteinander gegangen? Nach wie vielen Jahren haben sie ihr erstes Kind gezeugt? Welche Rolle spielen die Großeltern? Über was genau hat sich die Lehrerin beschwert? Wann muss das Kind in der Frühe aufstehen, wie viele Stunden verbringt es in der Schule?

Bei ungenauen Altersangaben sage ich meist: Stimmt es, dass 39 Jahre sich anders anfühlen wie 40? Und dass ein Tag vor 40 und ein Tag nach 40 ein großer Unterschied sein kann? Und dass es einen großen Unterschied ausmachen kann, ob ein Kind in eine einjährige oder in eine elfjährige Ehe hineingeboren ist. Besonders groteske Vorstellungen macht man sich über nicht anwesende Personen: über den geschiedenen Vater, die schwierige Ursprungsfamilie der Mutter, den erwachsenen Halbbruder, der auf die schiefe Bahn geraten ist, den Vater des Vaters, der auch immer besoffen war oder den es angeblich gar nicht gibt.

Um anschaulich zu machen, wie stark solche Verzerrungen sein können und wie gefährlich dies für den therapeutischen Prozess werden kann, ein Beispiel zur Illustration. Vermutlich kennen Sie Ähnliches aus eigener Erfahrung.

In der Anfangszeit meiner Praxis kommt eine junge Studentin zu mir und klagt, sie käme mit diesem und jenem nicht zurecht. Vor allem ihre Beziehungen zu Männern gingen rasch in die Brüche. Ihr Selbstwertgefühl ist stark abgesackt. Sie führt dies wiederholt auf folgende schmerzliche Kindheitserfahrung zurück: Ihre Mutter hatte eine lang andauernde außereheliche Beziehung. Wenn sie zu ihrem Geliebten ging, trug sie der Klientin – als Kind, auch später in der Vorpubertät – regelmäßig auf, den Vater abzulenken, ihm Schwindel-Geschichten zu erzählen usw. Jetzt sind Wut, Trauer, Ekel, Vorwürfe und Leiden groß. Wir arbeiteten sehr intensiv mit Gesprächen, Aussöhnungsritualen, Aufträgen und Verschreibungen. Die Mutter wird in meiner Vorstellung mehr und mehr zum Monster. Dieses hinterlistige Weib, das diesen Hurenbock mehr liebt als ihr hilfloses Kind. Ich kann sie vor meinem inneren Auge richtig sehen, mit diesem Unschuld heuchelnden Blick. In meiner Vorstellung ist sie auch körperlich recht groß und mächtig.

Schließlich sage ich: Wir kommen nicht weiter, wir werden deine Mutter einladen. – Sie wird nicht kommen, ist die Antwort. Ich frage die Klientin, ob sie es möchte – ja. – Ob ich anrufen und der Mutter sagen darf, dass ihre Tochter bezweifelt, sie würde kommen – ja. Ich rufe die Mutter an, ob sie mir helfen kann, ihrer Tochter zu helfen. – Ja, selbstverständlich … In der nächsten Sitzung: Herein kommt eine kleine, zierliche Frau mit feuchten Augen, einem lebendigen Gesicht, das Betroffenheit ausstrahlt und im Prozess jeweils angemessene Emotionen zeigt. Ja, sie hat ihrer Tochter Schreckliches angetan, sie für ihre Sehnsucht nach Liebe missbraucht. Sie habe immer gewusst, dass das falsch sei, und habe seit langem starke Schuldgefühle. Sie würde alles tun, um das wieder gutzumachen.

In einem bewegenden Aussöhnungsritual (siehe dazu Kapitel 35: Kinder stärken bei Trennung und Scheidung): auf der einen Seite die verletzenden, auf der anderen die liebevollen Anteile. Mutter und Tochter halten sich an den Händen, während sie Erinnerungen austauschen. Es fließen viele Tränen. Gegen Ende liegen sich Tochter und Mutter in den Armen. Das ist der Durchbruch zur Heilung. In der Folge steigt das Selbstwertgefühl der jungen Frau beachtlich, die Klientin kann ihr Leben meistern.

Es ist ein gefährliches Konstrukt anzunehmen, wir könnten oder müssten verstehen, was in den Klienten vor sich geht. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als vom Ansatz des Nicht-Verstehens auszugehen.

Familien setzen im Zusammenleben ungeprüft voraus, dass sich einander nahe stehende Personen mittels verbaler und nonverbaler Sprache verstehen können. Gefragt, was sie sich von Familientherapie erwarten, antworten viele: Mehr miteinander reden, über Probleme sprechen, einander gegenseitig verstehen. Naiverweise nehmen die meisten Menschen an, dass dies die Lösung sei oder zumindest enorm viel dazu beitragen würde. Das gilt für die Beziehung sowohl zwischen den Partnern als auch zwischen Eltern und ihren Kindern. Besonders jugendliche Liebespaare nehmen im »Hormonflush« – also in der Phase der Verliebtheit – zutiefst an, dass sie einander verstehen oder zumindest innigst verstehen sollten....