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Techniken der Verführung

Andrea De Carlo

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257603637 , 432 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

[9] Eins

Im November 90 arbeitete ich in der Redaktion von Prospettiva, mit einem Praktikantenvertrag, weil ich noch nicht die Journalistenprüfung gemacht hatte. Die Büros waren im zweiten Stock eines riesigen Gebäudes aus Glas und Beton, das auf einer öden Grasfläche an der östlichen Peripherie Mailands lag, umgeben von Trabantensiedlungen und Industriehallen und LKW-Depots und Autobahnauffahrten und Schnellstraßen voll dichtem Verkehr aus der Stadt und in die Stadt. Die Etage war als Großraumbüro konzipiert, so daß zu jeder Minute des Tages jeder jeden im Blick hatte: Köpfe und Oberkörper und Arme in ständiger Bewegung zwischen Barrikaden aus Metallschränken und Preßspan-Raumteilern. Die Luft wurde in einem geschlossenen Kreislauf klimatisiert, gefiltert und recycelt, die Fenster waren versiegelt. Der Fußboden war mit einem Synthetikspannteppich ausgelegt, der sich bei jedem Schritt elektrisch auflud, so daß man einen kleinen Schlag bekam, sobald man mit der Hand irgend etwas berührte. Das Neonlicht war gnadenlos weiß, und in den seltenen Augenblicken der Stille, in der Mittagspause oder abends, wenn fast alle gegangen waren, hörte man an der niedrigen Decke Tausende von Leuchtstoffröhren knistern, die unter Metallgittern notdürftig verborgen waren. In der übrigen Zeit herrschte eine Geräuschkulisse wie in einem elektronischen Bienenstock, Keybordgeklapper und Computersummen und gedämpfte Telefontriller und sich kreuzende und überlagernde Stimmen, die halblaut persönliche [10] Bemerkungen murmelten, flüsternd Informationen austauschten und herrische Anordnungen skandierten.

Am späteren Vormittag kam Tevigati, der Chefredakteur, an meinem Schreibtisch vorbei und sagte in seiner gewohnten beiläufigen Art: »Roberto Bata, kannst du mal einen Augenblick zu mir kommen?«

Ich arbeitete gerade an einer Textcollage aus Telefoninterviews zu der These, daß große Busen out sind; ich antwortete ihm: »In fünf Minuten.« Erst vor wenigen Monaten hatte er mich einen ganz ähnlichen Bericht zusammenstellen lassen, in dem es hieß, daß üppige Formen allenthalben das Bild beherrschten, ebenfalls belegt mit Meinungsäußerungen von »Persönlichkeiten der Kulturszene« und einer ganz ähnlichen Auswahl berühmter Italienerinnen und Amerikanerinnen, die als Beispiele angeführt wurden. Wenn man hier drinnen saß, mußte man den Eindruck bekommen, daß die ganze Welt aus unglaublich rasch aufeinanderfolgenden Zyklen bestand, in denen Verhaltensweisen und Vorstellungen und Motivationen und Triebe und Werte und Werke untergingen und wiederkehrten, um ohne ersichtlichen Grund erneut unterzugehen. Nahezu jede Woche glaubte man irgendein neues schwaches Anzeichen zu erspähen, das groß herausgestrichen und verallgemeinert werden mußte, bis es wie ein alles mitreißender Trend erschien; unsere Archive waren voll mit Fotos und Namen und Telefonnummern, die sich zur Bestätigung auch der unhaltbarsten Folgerungen heranziehen ließen. Drei Viertel meiner Zeit verbrachte ich damit, Kontakte zu Soziologen und Schauspielern und mehr oder weniger bedeutenden Politikern zu knüpfen, um ihnen ein Statement über Aids oder Jungmanager oder den Minirock oder über Sex im Auto oder den Hunger in der Dritten Welt zu entlocken. Eine Tätigkeit, die so stereotyp und [11] standardisiert und automatisch war, daß ein Computer sie genauso gut gemacht hätte, ohne daß ein kompliziertes Programm erforderlich gewesen wäre.

Es waren noch keine drei Minuten vergangen, da klopfte eine Redakteurin namens Germietti mit den Fingerknöcheln auf meinen Schreibtisch, deutete zu Tevigatis Platz hinüber und sagte: »Du, der will dich jetzt gleich.«

Also ließ ich meinen Monitor und ging im Zickzack zwischen Schränkchen und Raumteilern und Schreibtischen durch zu ihm. Einem außenstehenden Beobachter kam die Redaktion vielleicht wie eine emsig werkelnde Gruppe von Freunden vor, die zusammen eine Zeitung machten, aber abgesehen von der Tatsache, daß wir alle ziemlich jung waren und uns duzten und uns im gleichen Stil kleideten, gab es genauso wie in anderen Büros, in denen es viel förmlicher zuging, eine feste Rangordnung mit einem Verhaltenskodex und einer Hackordnung, von Stufe zu Stufe wachsenden Rechten und Gratifikationen.

Der Schreibtisch des Chefredakteurs Tevigati zum Beispiel stand an der Glasfront und erhielt natürliches Licht und war von hinten durch eine Schiebewand abgeschirmt, an die Fotos und Ansichtskarten und persönliche Notizen gepinnt waren. Viel war das nicht, wir einfachen Redakteure aber hatten nicht einmal das, um uns gegen die Reizüberflutung zu schützen.

Tevigati musterte mich von unten bis oben, forderte mich mit einer Handbewegung auf, Platz zu nehmen. Er telefonierte gerade und machte sich auf einem kleinen Block Notizen, behielt dabei den Bildschirm im Auge und schaute aus dem Fenster, zurückgelehnt in seinem Schreibtischsessel mit federnder Rückenlehne. Hier drinnen konnte schwerlich jemand einen Gedanken zu Ende denken, ohne unterbrochen zu werden und auf zwei, drei, oder vier [12] andere Schienen abgelenkt zu werden, denen man allen gleichzeitig folgen sollte. Deshalb wurde die Fähigkeit, sich auf nichts eindeutig zu konzentrieren, in der Redaktion auch so hoch bewertet, ja auf den oberen Machtstufen sogar als regelrechte Tugend vorgeführt.

Ich bemühte mich, Tevigati nicht allzu auffällig zu beobachten; ich sah zu den Flugzeugen hinüber, die im nahen Flughafen starteten und hinter den Pappelreihen in den schmutzig-weißen Himmel aufstiegen. Dies hier war wirklich nicht die Arbeit, die mir vorgeschwebt hatte, als ich zu schreiben anfing, andererseits gab es zwischen meinen Vorstellungen und der Realität ohnehin nicht viele Berührungspunkte. Immerhin hatte ich ein regelmäßiges Einkommen und konnte die Wohnungsmiete bezahlen, statt meinen Eltern auf der Tasche zu liegen wie damals, als ich noch davon träumte, Enthüllungsjournalismus zu betreiben oder Romanschriftsteller zu werden, ohne mir die Verben vorschreiben und die Adjektive kontingentieren lassen zu müssen.

Tevigati legte den Hörer auf, spannte die Lippen zu einer Art geistesabwesendem Lächeln. »Da bin ich«, sagte ich; aber sein Blick war noch nicht auf mich eingestellt. Hier drinnen mußte jede Botschaft warten, sich genügend verdichten, durch die sich ab und zu öffnenden Kanäle schlüpfen, um dann genau im richtigen Moment, nicht zu früh und nicht zu spät, einzutreffen.

Ich schwieg, sah zu, wie er an seinem Daumen nagte, rasch auf die Telefontasten hämmerte und sich von einer Sekretärin eine Nummer geben ließ. Seine Aufmerksamkeit war von Natur sprunghaft und schaltete alle paar Sekunden um, was ihm sehr dabei geholfen haben mußte, seinen Posten zu erobern und ihn trotz häufig wechselnder Besitzer und Verlagsleiter die ganzen letzten Jahre [13] hindurch zu behalten. Ohne den Hörer vom Ohr zu nehmen, zog er eine Einladungskarte aus einer Schublade, kickte sie mit den Fingern, an denen die Nägel völlig abgekaut waren, zu mir herüber.

Ich beugte mich vor und las: Unter dem Signum eines der bedeutendsten Mailänder Theater und dem Symbol der Stadtverwaltung stand Der TraumaktivatorKonzertantes Schauspiel in zwei Akten, und weiter unten nach einem Text von Marco Polidori. Ich sah Tevigati fragend an, denn das Theater war der Exklusivbereich von Angelo Zarfi, einem fettleibigen Kritiker mit schriller Stimme, der seine Besprechungen in Form von verschlüsselten Botschaften an einen kleinen Kreis von Eingeweihten verfaßte. Bei Prospettiva waren die Kompetenzbereiche fest voneinander abgeschottet: meiner lag zwischen Kultur und Folklore, in Wirklichkeit weit mehr bei Folklore als Kultur, ohne jede Chance, in absehbarer Zeit herauszukommen. »Zarfi schreibt über das Stück, du sollst die da interviewen«, sagte Tevigati. Mit seinem Kugelschreiber unterstrich er in der Liste der auf der Einladung abgedruckten Schauspieler den Namen Maria Blini, der ganz klein unter dem Regisseur Remo Dulcignoni, der Bühnenbildnerin Aida Celbatti, dem Komponisten Silvio Dramelli und dem Hauptdarsteller Riccardo Sirgo stand.

Währenddessen setzte er seine telefonische Fahndung fort: »Nein, nein, den aus Paris. Paris, verdammte Scheiße.« Er gefiel sich in einer vulgären Ausdrucksweise, vor allem gegenüber den Frauen in der Redaktion, zugleich aber sollte mir sein Tonfall auch die Rangverhältnisse klarmachen, mir vor Augen führen, daß ich gegen ihn gänzlich unbedeutend war.

»Wieviele Zeilen?« fragte ich, bloß um ein paar Sekunden schneller zu sein als er. Ich versuchte mir oft einzureden, [14] daß die Arbeit hier in diesem Laden eine Quelle der Inspiration für mich war; dann wieder war ich sicher, daß meine Fähigkeit, frei zu schreiben, dabei für immer draufgehen würde.

»Dreißig Zeilen«, sagte Tevigati, als spräche er überhaupt nicht mit mir. Er kaute an seinem Daumen, schnaubte in den Hörer, würdigte mich keines Blicks.

»Bis wann?« fragte ich.

Er deutete ungeduldig auf die Einladung, auf der das Datum des heutigen Tages stand. »Morgen früh«, sagte er. »Es kommt in diese Nummer. Bring ein bißchen Pep rein, mach was aus ihr.«

Ich sagte: »Ich weiß nicht, ob ich’s schaffe, heute abend. Ich hatte schon was vor.«

Er brüllte in den Hörer: »Den aus dem Büro, wen denn sonst, Himmelherrgott! Ich warte seit einer Stunde!«

Konzertante Schauspiele anzusehen und debütierende Schauspielerinnen zu interviewen und mit der Dringlichkeit eines Kriegsberichts dreißig Zeilen Schwachsinn zu schreiben war das letzte,...