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Im Himmel warten Bäume auf dich - Die Geschichte eines viel zu kurzen Lebens

Michael Schophaus

 

Verlag Allitera Verlag, 2013

ISBN 9783869065687 , 130 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz DRM

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5,99 EUR


 

Wind kommt auf

Als Jakob starb, weinte der Himmel. Es war dunkel, der Regen nieselte traurig herunter, und es war so ein Tag, an dem man nicht wusste, wann der Morgen aufhörte und der Abend begann. Kein Wind ging zu Beginn des Tages, und als Jakob sein kurzes Leben aushauchte, sah ich mit roten Augen zum Fenster hinaus. Plötzlich bewegten sich die Bäume, seine Bäume, die er vom Sofa aus so ausdauernd ernst betrachtet hatte, sie bewegten sich in einem heftigen Wind, der keinen Widerstand zuließ, und während ich die Händchen meines Sohnes hielt, fühlte ich in seinen Adern den Puls schwinden. Ich dachte nur: Hol Luft! Warum holst du keine Luft? Doch schon während ich mir heulend diese Frage stellte, wusste ich, dass sie so sinnlos war wie die nach dem Warum seiner Krankheit. Er riss seine blauen Augen weit auf, zwischen den Lippen hörte ich ein letztes Zischen, und dann streckte er erleichtert seine Beine aus, die er seit Wochen vor Schmerzen gekrümmt halten musste. Bevor sich seine Seele auf den Weg machte, sah er noch einmal auf den Weihnachtsbaum. Draußen tobte jetzt ein Sturm.

Jakob liebte Bäume. Bäume in allen Farben und Größen. Baum war eines der ersten Worte, das er kannte, und noch zwei Tage vor seinem Tod waren wir mit ihm im Wald, Bäume gucken, wie er das nannte. Oft wollte er sie berühren, die raue Rinde fühlen oder einfach nur in kindlicher Neugier um sie herumlaufen, und dabei hob er seinen Kopf und schaute staunend und voller Bewunderung vor ihrer Erhabenheit bis in die Krone. Oft breitete er seine Arme aus, so weit, dass er den Stamm umfassen konnte, und küsste ihn mit großem Eifer. Er konnte gar nicht genug davon kriegen und freute sich, unter die dichten Dächer seiner Bäume zu huschen. Schon im Herbst sprach er vom Tannenbaum, und zu Weihnachten, das er bewusst nur zweimal erlebte, wünschte er sich einen Tannenbaum. Keine Eisenbahn, kein Auto, keine Bauklötze. Einen Tannenbaum und sonst nichts.

Das Jahr war gerade vier Tage alt, als Jakob starb mit Blick auf den geschmückten Baum. Die Bescherung hatte er glücklich und gefasst über sich ergehen lassen, denn seine Wahrnehmung war schon getrübt durch eine Pumpe am Gürtel, die ihm ständig über einen Katheter Schmerzmittel in die Venen trieb. Mit zitternden Händen riss er das Papier seiner Geschenke auf, die es dann doch für ihn gab, und spielte mit großer Überzeugung an einem kleinen Bohrer herum. Abends aß er sogar einen Pudding, während wir uns den Bauch vollschlugen, und als er außerdem nach einem kleinen Stück Schokolade verlangte, war es uns so, als habe Jakob zur Feier des Tages seinen trägen Magen überredet. Es war ja schließlich Weihnachten.

Doch jetzt lag er da, hübsch, weiß, wächsern, wie ein zerbrechlicher kleiner Engel. Nach so vielen Eingriffen mit Gift, Skalpell und Radioaktivität. Lag da mit leicht nach rechts geneigtem Kopf, denn die Leichenstarre hatte längst eingesetzt, und wären seine Augen nicht geschlossen gewesen, hätte er mit Zufriedenheit die ihm lieben, irdischen Dinge bemerkt, die wir ihm in den Sarg legen wollten. Seine Wärmeflasche, seinen Teddy, sein Lieblingsbuch, ein Album mit Klebebildern, und um den kalten Hals trug er einen schwarzweißen Schal, den ihm sein Bruder Jonas gestrickt hatte. Er war gewaschen und bekleidet mit seinen buntesten Sachen, doch wenn er von der angelegten Windel gewusst hätte, wäre er bestimmt aufgesprungen vor Empörung. Zwar war er mit seinen drei Jahren längst trocken, aber zuletzt hatte er überhaupt kein Wasser mehr lassen können, und wie aus einer besorgten Gewohnheit heraus banden wir ihm hastig eine Pampers um. Bestimmt ist er uns böse, sagte meine Frau, und ich erwiderte ihr: Engel können nicht böse sein. Schon gar nicht wegen einer Windel.

Die letzte Nacht war hart gewesen. Jakob hatte kaum geschlafen und immer wieder über sein Aua im Bauch geklagt. Er konnte nicht liegen, nicht stehen, nicht sitzen, nicht leben, nicht sterben, und nur in einer Stellung, die der eines Embryos ähnelte, gelang es ihm, die Schmerzen einigermaßen mit Würde zu ertragen. Er verdrehte die Augen, atmete schwer, schrie auf, wenn ich ihn nur berührte, und trotzdem wollte er, dass ich das schmale Bett mit ihm teilte. Sein dürrer Körper, abgemagert bis auf die Knochen, zitterte unaufhörlich aus Angst und Schwäche, und irgendwann am frühen Morgen schrie ich ihn an: Geh, wenn du willst! Du kannst gehen! Ich erlaube es dir!

Eine Ärztin hatte mir erzählt, es könnte den Kindern helfen beim Sterben. Wenn man ihnen laut sagte, dass man sie loslassen wolle. Loslassen! Freiwillig! Nach dieser langen Zeit der Nähe, des Schmusens, des Immerdaseins und der stillen Sorge um jedes Grad Fieber. Geh! Geh! Geh! Ich schrie es aus Liebe. Sieben Stunden später war Jakob tot. Umso schöner war es, ihn im Tode lächeln zu sehen. Mir schien dies bei aller verdammten Trauer ein wunderbarer Genuss. Nach sechshundert Tagen erlebter Krankheit, nach sechshundert Tagen, in denen er oft keinen Frieden fand, nach sechshundert Tagen zwischen Hoffen und Bangen und der traurigen Erkenntnis, dass wir ihn nur am Leben halten konnten mit einer angeblich so modernen Medizin, die tagtäglich über tausend Mark kostete. Aber sollten wir deswegen ein schlechtes Gewissen haben? Hätten wir gleich aufgeben sollen in einem Kampf, der von Anfang an verloren war? Nein, ganz entschieden nein! Denn Jakob hatte sein Leben geliebt zwischen den Schmerzen und dem ans Bett Gefesseltsein. Er hatte sich sein kurzes Glück gesucht und manchmal auch gefunden, ob beim Reiten, Radfahren oder Malen, und ihn jetzt so entspannt zu sehen, in der Gelassenheit des Todes, mit spitzem Mund und überlegenen Zügen, war uns wie eine Bestätigung dessen, was wir schon zeit seines knappen Daseins wussten: Er nahm das Leben, wie es kam, das Schöne, das Schlechte, das Gute, das Böse, das Aua, das Lachen, das Weinen, und wenn man tot ist, dann ist man eben tot. Die Bedeutung des Todes allerdings war ihm nicht klar. Wie soll ein Kind auch wissen, was der Tod ist, wenn es noch nicht einmal das Leben kennt?

Jakob hatte sich mit einem schnellen Wind davongemacht. Mit einem zarten Hauch, unaufdringlich und bescheiden, wie er nun einmal war. Wie ein kleiner Schmetterling, der sich hinsetzt, wo es ihm gerade gefällt, und dann wegfliegt für immer, als hätte es ihn nie gegeben. Weggepustet in einer Laune der Natur, durchsichtig und leicht, und vielleicht war er wirklich ein verpuppter Engel, der nun von Wolke sieben aus über uns wacht. Ich hab dich lieb! hatte Jonas ihm während seines Sterbens ins Ohr geflüstert, und er war sich ganz sicher, dass sein Bruder ihn noch hörte. Zehn Minuten vor seinem Tod hatte ihn Jakob zu sich gerufen, wollte ihn sehen, denn Jonas war erst einen Tag zuvor von einer Reise über Neujahr zu seinen Großeltern zurückgekehrt. Jakob hatte auf ihn gewartet, sich noch Silvester zum Essen gezwungen, damit die Kraft reichte, und jetzt, wo sein großer Bruder wieder da war, entschloss er sich zu gehen. Kurz vorher bekam er Wahnvorstellungen, wollte springen, aufstehen, in die Badewanne und Apfelsaft mit dem Strohhalm trinken. Den gab es auf seinem dritten Geburtstag für seine wenigen, kleinen Gäste, und nun stieg ihm dies noch einmal als eine der letzten, schönen Erinnerungen hoch. Jonas gab ihm den Apfelsaft, doch er war schon zu erschöpft, um am Strohhalm zu saugen.

Als die Ärztin Dr. S. kam, wirkte Jakob kraftlos und leer. Ihr Wagen war nicht angesprungen an diesem Montagmorgen, sie bat um Nachsicht, entschuldigte sich und zog eine Spritze mit einem Schlafmittel auf, als sie hörte, dass Jakob keine Ruhe gefunden hatte in der Nacht. Er ist sehr, sehr müde, meinte sie fast beschwörend, und schon während sie ihm das Medikament mit gekonnter Ruhe injizierte, entkrampfte er sich zum ersten Mal an diesem Tag. Er klammerte sich nicht mehr ans Leben, und er sah so aus, als gäbe er sich nun doch endgültig geschlagen in seinem mutigen Trotz gegen den Krebs. Frau S. ging wieder nach unten, ans Auto, um ihr Abhörgerät zu holen, und ließ uns aus Rücksicht, glaube ich, ganz kurz mit unserem sterbenden Kind allein. Jonas weinte, Martina weinte, ich weinte, und während wir uns in Tränen auflösten und unsere fürsorgliche Ärztin wieder eintraf, machte sich Jakob davon.

Zitternd hielt ich ihm einen nassen Finger unter die Nase, um zu prüfen, ob sein Atem noch ging. Doch er ging nicht mehr, seine Augen waren halb geöffnet, gerade so, als wolle er sich noch ein bisschen Neugier auf das Leben erhalten, doch als Dr. S. das Stethoskop an seine Brust legte, schüttelte sie den Kopf und wischte sich selbst ein paar Tränen aus den Augen. Jakob wurde rasch leichenstarr, es war nicht einfach, seinen dürren Körper zu bewegen, und nach dem Waschen nahm ich mir zitternd einen großen Schluck Schnaps. Wenig später ging das Telefon. Unser Pfarrer war dran, er rief zufällig an und konnte nicht glauben, dass Jakob tot war. Er kam sofort vorbei und sprach ein Vaterunser. Stumm hörten wir ihm zu.

Neun Stunden blieb Jakob noch bei uns. Neun Stunden,...