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Die Welt ist im Kopf

Christoph Poschenrieder

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257601121 , 352 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

[18] Vielleicht machen Sie von einliegender Karte Gebrauch

Nun wäre eigentlich Zeit, sich der unerledigten Korrespondenz zu widmen, dachte Goethe.

Den ganzen heißen Sommernachmittag hatten er und Stadelmann Mineralien gesucht – der Kammerdiener natürlich nichts gefunden, wohl wissend, dass er die Ausbeute in einem schweren Korb aus der Gegend um den Hügel des ewigen Lebens zu Tal schleppen würde. Goethes Ertrag fiel umso reichlicher aus. Vom Finderglück berauscht, hatte er die ersten Anzeichen missachtet; bald aber hinkte Goethe mit seinem immer stärker schmerzenden Fuß dem Kammerdiener hinterher, missgestimmt vom Hügel des ewigen Abstiegs grummelnd. Dabei war das feste Paar Schuhe mit den genagelten Sohlen bestens bewährt, es hatte schon manche Expedition in die Schluchten und Felsbrüche um Karlsbad mitgemacht.

Goethe ruhte in seinem Zimmer auf dem Diwan, die Wade durch ein Polster unterstützt, damit die wundgeriebene Ferse keinen Druck litt. Er überlegte kurz, ob er sich von Stadelmann Schreibzeug und Unterlage bringen lassen solle, knuffte dann lieber einige Kissen zurecht und langte von der Konsole Madame de Staëls Über Deutschland herüber.

Er öffnete das Buch, sah hinein und schlug es gleich wieder [19] zu. Gut, wenn schon keine Korrespondenz jetzt: Dem Doktor Schopenhauer würde er zuerst antworten. Sein Brief lag immerhin schon zwei Monate unbeachtet. Und war darin nicht die Rede von einer Reise gewesen? Morgen, in aller Frühe schreibe ich ihm, dachte Goethe und suchte sein Lesezeichen.

Die Staël unternahm hier eine Exkursion in die deutsche Philosophie. Nicht, dass Philosophie ihn sonderlich interessiert hätte, aber solcherart präsentiert war sie erträglich, bisweilen amüsant. Der philosophische Geist, schrieb Madame, kann seiner Natur gemäß in keinem Lande allgemein verbreitet sein. Indes gibt es in Deutschland eine solche Neigung zum Grübeln, dass die deutsche Nation vorzugsweise als metaphysische Nation betrachtet werden kann.

Goethe überflog die Zeilen nur, hoffend, das eine oder andere Satzbild möge ihn packen, kurz unterhalten und weiterziehen lassen.

Die Philosophie ist die Schönheit des Denkens, sie beurkundet die Würde des Menschen, der sich mit dem Ewigen und Unsichtbaren beschäftigen kann, wiewohl alles Rohe seiner Natur ihn davon entfernt.

Er legte das Buch einen Moment nieder. Schönheit des Denkens? Tat und Wort würde er dem jederzeit vorziehen. Er gähnte, setzte ein Glimmerblättchen als Lesezeichen und klappte das Buch zu. Stadelmann würde ihn schon rechtzeitig wecken.

Paul?

Angelica Catalani erhielt keine Antwort. Ihr Agent und Ehemann, Paul Valabrègue, stellte sich taub. Wie immer.

Paul.

[20] Valabrègue saß ein Zimmer weiter behaglich auf dem Sofa und rauchte eine Pfeife.

Paul!

Wenn die Catalani schrie, dann schrie sie mit der Kraft einer ausgeformten Stimme. Und bevor die Dienstboten zusammenliefen und die Menschen auf der Straße vor dem Hotel stehen blieben, trat sogar ein Phlegmatiker wie Valabrègue ohne weiteren Verzug an.

Was ist, meine Liebe?, fragte er, als er in der Tür zu Madames Zimmer erschien. Seit je rollte sein linker Augapfel lose in der Höhle, kullerte herum wie eine Murmel in einer Schüssel, ohne Verständigung mit dem anderen Augapfel aufs Geratewohl in die Welt zielend. Die meisten Menschen wussten nicht, wo sie bei Valabrègue hinsehen sollten, die Catalani aber blickte ihm zwischen die Augen, auf die Nasenwurzel und ignorierte die senkrechte Falte, die dort aufstieg.

Was soll sein? In einer Stunde singe ich beim Fürsten, und du sitzt in deinem allerschäbigsten Anzug und bläst Rauchkringel.

Valabrègue hasste diese Auftritte.

Sie sang – und keiner bezahlte für das Vergnügen. Doch, einer – er selbst, Valabrègue, jedes Mal, wenn er Konversation machen musste mit den herablassenden Durchlauchtigstkeiten, hochwohlgeborenen Von und Zus und Um und Aufs, die für den Gegenwert einiger Gläser Champagner, eines Essens und eines schlecht gestimmten Klaviers den Auftritt einer weltberühmten Diva allzu billig einkauften. Valabrègue musste auf die Stimmbänder der Sängerin achten (wohl bedenkend, dass sie im achtunddreißigsten Jahr stand): Ein reguläres Konzert, bitte sehr!, aber ein Fürstenvorsingen, nur weil sich alle [21] Welt in Karlsbad zur Kur traf? Zu besseren Zeiten hätten sie hier allenfalls für die Dauer eines Pferdewechsels verweilt. Oder selbst gekurt. In diesen Zeiten aber zogen sie von Stadt zu Stadt, Dorf zu Dorf, Valabrègue klebte seine Zettel, Catalani la diva sang auf knarrenden Bühnendielen vor rülpsenden, immerhin zahlenden Biertrinkern. Und leider viel zu oft vor adligen Champagnerschlürfern, die ihre Titel als Eintrittsbillett vorzeigten. Doch nicht mehr lange: Ein paar Monate, dann könnte das Geld reichen für das Gut in den Marken und eine lange Pause; oder sogar für das Ende einer Tournee, die vor bald zwanzig Jahren einmal in Venedig begonnen, in Neapel, Lissabon, Paris und London zu Ruhm und nunmehr in diese Niederungen geführt hatte.

Dosen, dachte Valabrègue, wenn ich die Stimme meiner Catalani in Dosen oder Flaschen füllen könnte, so wie es die Karlsbader mit ihrem Sprudelsalz machen, wenn sie das Heilwasser eindampfen.

Paul.

Paul-Punkt. Valabrègue kappte den Gedankengang und zog sich unter Andeutung einer Verbeugung zurück.

Angelica Catalani begann mit Stimmübungen.

Natürlich hatte Stadelmann ihn zu spät geweckt, und wegen der schmerzenden Ferse war er von seinem Quartier ins Pupp’sche Grandhotel viel zu lange unterwegs gewesen und entsprechend düsterer Laune, als er den Saal betrat und kurz innehielt.

Einen Raum voller Menschen benutzte Goethe wie eine Bibliothek – so wie er ein Buch aus dem Regal zog, nach Belieben darin blätterte und es, bereichert oder gelangweilt, [22] zurückstellte. Ein Goethe konnte sich das erlauben; selbst aber ließ er sich von niemandem lesen, wenn er es nicht wollte. Die Bibliothek war nicht schlecht sortiert. Gut, die Gräfin Bombelles, die vor allem redete wie ein Buch, die war zu meiden; dort den Grafen Paar, den kannte er in- und auswendig; beim Erdöd-Palffy fand er immer eine Pointe; die beiden Prinzessinnen Reuß-Köstritz, reizend illustriert und koloriert, ein wahrlich zierliches Format, das stets das Blättern lohnte; drüben, beim Podium, die Gewichtigen in Goldschnitt: Klemens Fürst Metternich, österreichischer Staatsminister, neben dem Gastgeber Fürst Schwarzenberg, einem der Sieger der Völkerschlacht von Leipzig, und dem russischen Außenminister Capo d’Istria. Und ein düster vor sich hin stierender, schlecht rasierter Mann, der einen Stoß Notenblätter unter den Arm geklemmt trug.

Als Goethe zu der Gruppe um Metternich trat, die seidig raschelnden Prinzessinnen im Schlepptau, erwachte Valabrègue aus der Starre und ließ sein loses Auge über die Mädchen rollen. Das ruhige heftete er auf Goethe, der dem Fürsten Metternich einen fragenden Blick sandte.

Wir sprachen zuletzt von Byron, sagte Metternich mit einer leichten Verbeugung.

Byron!, quiekten die Prinzessinnen und wurden trotz erheblicher Puderschichten rot um die Nasen. Goethe sah zu Capo d’Istria.

Von wegen der Unruhen in Norditalien, erklärte der Außenminister, nicht der Unruhe wegen, die der Dichter in den Herzen junger Damen stiftet, verehrte Hoheiten.

O ja, seufzten die zwei Reuß-Köstritz.

[23] Es liegt uns ferne, diese niederzuschlagen, sagte Metternich galant, jene anderen jedoch – nach Kräften.

Goethe war nicht entgangen, dass sein höchstpersönliches Erscheinen bei den Prinzessinnen nicht annähernd den Effekt gehabt hatte wie die bloße Nennung des anderen. Er nickte Metternich zu.

Byron, sagte der Fürst, agitiert ein wenig, seitdem er im Palazzo wohnt, für die Griechen, die Italiener im Allgemeinen, die aufständischen Carbonari im Besonderen.

Valabrègue stieß Luft zwischen zusammengepressten Lippen aus:

Agitation? Ich sah ihn im Winter in Venedig. Ist dick und feist geworden. Als Poet ist er durch, meine Meinung. Skandale im Dutzend. Nur noch hinter den Röcken her.

Ich muss doch bitten, zischte Goethe und hielt eine Hand hoch, zwischen Valabrègue und die Prinzessinnen, als könnte er sie gegen die groben Worte schützen. Was redete da dieser armselige, bestoßene Pappband denn drein? Den Valabrègue hatte er gar nicht aufgeschlagen. Dessen fixer Blick klebte nach wie vor an Goethe, und der rollende tastete weiter die Prinzessinnen ab, die nicht sonderlich schockiert schienen von einem Dichter, der sich nicht der Dichtung allein widmete. Sie kicherten und zirpten und raschelten mit ihren Seidenkleidern und ihre Gesichter leuchteten wie frisch entzündete Lampions, sie warfen Verse Byrons in die Runde und aus Illustrierten zusammengelesenen Klatsch, den die Gräfin Bombelles eifrig ergänzte.

Zwischen all dem konnte Goethe dem Metternich noch ein paar Einzelheiten über das venezianische Dasein des englischen Dichters entlocken, dann wurde es ihm zu [24] lästig, den immer wieder aufklappenden Valabrègue mit kurzen Worten und scharfen Blicken zuzuklappen. Die Ferse schmerzte von neuem und vom Auftritt der Catalani hatte er nur die letzten Takte mitbekommen. Höchste Zeit, die Bücher ins Regal zu stellen, fand er, das Goldschnitt-Folio eines Fürsten Metternich genauso wie das eselsohrige Duodez eines Valabrègue; Zeit, das Licht in der Bibliothek zu löschen und zu Bett zu...