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Night School 3. Denn Wahrheit musst du suchen

C.J. Daugherty

 

Verlag Verlag Friedrich Oetinger, 2013

ISBN 9783862742240 , 464 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

Zwei


Allie hatte zunächst gar nicht vorgehabt, abzuhauen. Eigentlich wollte sie nur den Unterricht schwänzen.

Wie so oft in letzter Zeit. Lernen passte irgendwie nicht mehr zu ihrem Leben. Wozu sich also Mühe geben?

Nachdem man sie ein paar Mal gegen ihren Willen in den Unterricht gezerrt hatte, war sie dazu übergegangen, sich Verstecke zu suchen, damit es erst gar nicht so weit kam. Das weitläufige, viktorianische Schulgebäude mit seinen zahllosen Ecken und Winkeln eignete sich hervorragend für solche Zwecke – besonders gern nutzte sie leer stehende Zimmer und Dienstbotenstiegen, wo niemand auf die Idee kam, nach ihr zu suchen. Die Krypta, die Kapelle … Die Möglichkeiten, sich zu verstecken, waren unbegrenzt.

Nachdem sie an diesem Tag mehrere Unterrichtsstunden über sich hatte ergehen lassen, war sie aus dem Fenster ihres Zimmers geklettert, über das schmale, steinerne Sims zu der Stelle geschlichen, wo die Dachschräge nicht ganz so abschüssig war, und hinaufgeklettert bis zu der Stelle, wo Jo einmal mit einer Flasche Wodka in der Hand wie irre herumgetanzt hatte und Allie und Carter sie davor bewahrt hatten, abzustürzen.

Allein mit ihren Erinnerungen hatte sie mehrere Stunden lang in der Kälte gehockt und die Schüler und Angestellten unten auf dem Gelände beobachtet. Erstaunlich, dass nie mal jemand nach oben schaute. Allerdings strotzte das Dach nur so von Schornsteinen und schmiedeeisernen Ornamenten, weshalb es ihr leichtfiel die anderen zu beobachten, ohne selbst gesehen zu werden; eine lebendige Zierfigur.

Und so ging auch dieser Tag an ihr vorbei wie so viele in letzter Zeit, bis sie irgendwann vertraute Stimmen hörte, und zwar überraschend nah. Haben die mich entdeckt?, fragte sie sich erschrocken, doch nach einer Weile merkte sie, dass die Stimmen aus ihrem Zimmer kamen und durchs offene Fenster, das sich genau unter ihrem Sitzplatz befand, zu ihr hochdrangen.

Allie hielt sich an einer Wasser speienden, drachenköpfigen Zierfigur fest und lehnte sich über den Rand des Dachs, um zu lauschen.

»Ihr habt sie also noch nicht gefunden?« Isabelles Stimme klang nervös.

»Nein«, antwortete Raj so leise, dass Allie Mühe hatte, ihn zu verstehen. »Mein Team sucht gerade das Gelände ab.«

Sie würden sie nicht finden, auch diesmal nicht. Der Gedanke verschaffte ihr ein wenig Befriedigung. Sie mochte eine komplette Niete sein, wenn es darum ging, ein Leben zu retten, aber die angeblich besten Wachleute der Welt auszutricksen, das hatte sie drauf.

Isabelle sprach weiter, und ihre Stimme klang nun näher. Offenbar war sie ans Fenster getreten und beobachtete die gleiche Szenerie wie Allie.

»Was glaubst du … wie geht es ihr eigentlich?«, fragte die Rektorin zögernd. »Hat Rachel irgendwas gesagt?«

Ein Seufzer.

»Ob’s ihr inzwischen besser geht oder schlechter, meinst du?«, entgegnete er. »Schwer zu sagen. Vermutlich unverändert. Rachel macht sich ziemliche Sorgen. Geht sie denn noch zu Dr. Cartwright?«

Allie runzelte die Stirn. Dr. Cartwright war der Psychotherapeut, den Isabelle nach dem schrecklichen Ereignis angeschleppt hatte.

»Nicht mehr«, erwiderte Isabelle. »Anfangs ist sie noch hingegangen, aber er hat nicht viel aus ihr herausbekommen. Er hat sie als ›wenig responsiv‹ beschrieben.«

Das geht euch einen Dreck an!, dachte Allie wütend. Das ist meine Privatsache.

Allie musste an ihre Albträume und die schrecklichen Grübeleien denken – das wenige, was sie Dr. Cartwright ganz zu Anfang erzählt hatte.

Sie wollte nicht, dass sie davon erfuhren.

»Wieder am Unterricht teilnehmen – wie soll das gehen, wenn man gerade mit angesehen hat, wie die beste Freundin stirbt?«, hatte sie Dr. Cartwright gefragt, in einer der wenigen Sitzungen, zu denen sie überhaupt gegangen war. »Wie soll man sich da noch auf französische Verben konzentrieren? Oder auf die Spanische Armada?«

»Man tut es einfach«, hatte der Psychologe erwidert. »Jeden Tag setzt man einen Fuß vor den anderen. Und versucht es. Immer wieder.«

»So ein Schwachsinn«, hatte Allie zurückgegiftet.

Er konnte nicht wissen, wie es war, wenn man wegen der schlimmen Träume Angst vor dem Einschlafen hatte. Er konnte nicht wissen, wie sich das anfühlte.

Keiner konnte das.

Raj stieß ein humorloses, bellendes Lachen aus, das wohl ausdrücken sollte, dass er Allie ebenfalls für wenig responsiv hielt.

»Er vermutet, dass sie Jos Tod einfach noch nicht akzeptiert hat – und nach einem Sündenbock sucht«, sagte Isabelle. Allie beugte sich weiter vor und lauschte gespannt der Insiderinformation. »Das erlaubt einem, die Wutphase in der Trauerarbeit praktisch beliebig zu verlängern. Solange sie sich das nicht klarmacht, wird sie das Geschehene nie akzeptieren und lernen, damit umzugehen.«

Und wenn schon, dachte Allie unwirsch. Ich hab ja auch einen Grund, wütend zu sein. Und der bist du.

Trotzdem, unterschwellig wusste sie, dass in Isabelles Worten ein Fünkchen Wahrheit steckte, und das nagte an ihr.

Isabelle sprach weiter: »Dann hat Allie beschlossen, dass sie ihn nicht mag. Eigentlich haben sie heute Nachmittag einen Termin, und …«, Allie konnte sich genau vorstellen, wie Isabelle müde die Schulter zuckte, »… prompt ist sie wie vom Erdboden verschwunden.«

Raj fuhr auf, und selbst auf dem Dach hörte Allie den Zorn in seiner Stimme. »Das kann so nicht weitergehen, Izzy. Du musst etwas unternehmen. All meine Leute sind im Moment da draußen und suchen nach ihr. Dabei sollten sie sich um die Sicherheit der Schule kümmern. Wir wissen immer noch nicht, was Nathaniel vorhat. Er kann jeden Augenblick zuschlagen. Allie verschwendet unsere Zeit. Wir können so nicht weitermachen. Sie benimmt sich wie …«

»Wie früher«, unterbrach Isabelle ihn. »Das gleiche Verhalten hat sie an den Tag gelegt, als ihr Bruder damals verschwunden ist. Sie ist einfach … wütend, und das kann ich ihr nicht mal verdenken. Ich bin ja selber wütend. Aber ich bin nicht mehr sechzehn, deshalb kann ich das kanalisieren. Sie nicht.«

Ein Klopfen unterbrach sie.

Wer ist denn das jetzt?

Allie beugte sich noch etwas weiter vor, weil sie unbedingt mitbekommen wollte, was geredet wurde, so weit, bis Kopf und Schultern über den Rand des Daches hervorschauten. Raj und Isabelle waren offenbar an die Zimmertür getreten. Sie hörte ihr Gemurmel, aber viel zu weit weg, als dass sie die Worte verstanden hätte.

Kurz darauf wurde die Tür zugeschlagen. Danach … Stille.

Sie waren weg.

Enttäuscht trat Allie den Rückzug an; dabei wanderte ihr Blick nach unten. Wo zwei von Rajs Männern standen und zu ihr hinaufstarrten.

Allie schlug das Herz bis zum Hals.

O Scheiße.

Von Panik erfasst, krabbelte sie vom Dachrand weg und wäre dabei fast auf den nassen Dachziegeln ausgerutscht. Als sie glaubte, außer Sichtweite zu sein, beugte sie sich gerade so weit vor, dass sie nach unten spähen konnte. Die Wachleute winkten jemanden, den Allie nicht sehen konnte, zu sich her. Im nächsten Augenblick stand Raj neben ihnen. Die Männer deuteten zum Dach hinauf. Raj verschränkte die Arme und heftete seinen Blick auf sie.

Allie schluckte.

Höchste Zeit für ein neues Versteck.

Sie sprang auf, lief zu der Dachschräge und rutschte auf dem Hosenboden hinunter. Ihr kurzer Faltenrock war für solche Unternehmungen nicht gemacht und knüllte sich unter ihr, die dunklen Strumpfhosen sogen sich auf den nassen Ziegeln voll. Mit den Fingerspitzen hielt sie sich an der Dachrinne fest, balancierte über das Gesims und schwang sich durchs offene Fenster auf den Schreibtisch in ihrem Zimmer.

Als sie wohlbehalten gelandet war, wollte sie sich triumphierend strecken – und erstarrte: Vor ihr stand Isabelle, die Arme vor der Brust verschränkt.

Die Rektorin wartete nicht auf ihre Entschuldigung.

»Jetzt ist es aber genug!« Sie klang wütend, doch aus ihrer Stimme klang auch Traurigkeit.

Ein Teil in Allie fühlte sich schuldig, weil sie Isabelle verletzte. Doch diese Stimme schob sie mühelos beiseite. Stattdessen zuckte sie verächtlich die Achseln.

»Schön. Wie du meinst. Mir geht’s wieder richtig gut. Ich gelobe Besserung und tu’s auch nie wieder, bla, bla, bla …«

Isabelle atmete hörbar ein. Mitleid mit der gekränkten Isabelle zu haben, war das Letzte, was Allie wollte. Da nahm sie ließer Reißaus. Sie ging auf die Tür zu.

Isabelle hatte sich offenbar wieder gefangen. »Ich bin nicht deine Feindin, Allie.«

»Ach nein?« Allie stand an der Tür und musterte sie, als wäre Isabelle eine Probe unterm Mikroskop.

»Allie …« Isabelle griff nach ihrem Arm, besann sich dann aber und ließ die Hand sinken. »Ich mache mir einfach Sorgen um dich. Und ich möchte dir helfen. Aber ich kann dir nicht helfen, wenn du mich nicht lässt.«

Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte Allie sich um Hilfe und Rat an Isabelle gewandt – damals, als sie sich noch nahestanden. Als sie ihr noch vertraute.

Das war endgültig vorbei.

Sie bedachte die Rektorin mit einem gleichgültigen Blick. »Es ist nur so, Isabelle: Deine Hilfe führt jedes Mal dazu, dass Menschen sterben. Und deshalb … Nein, danke.«

Das saß.

Isabelles Gesicht fiel in sich zusammen, und Allie lief hinaus.

Mit den Tränen kämpfend, humpelte sie durch die große Halle. Das Knie tat ihr weh, und das Geräusch ihrer ungleichen Schritte (tapp-TAPP,...