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Die Sache mit dem Glück

Yael Hedaya

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257603774 , 160 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR


 

[84] 23

Der Kinneret-See war, wie immer an Pessach,* [* Pessach: jüdisches Fest, das an den Auszug aus Ägypten erinnert.] überlaufen; aber diesmal regnete es auch noch, und Matti, dem die Vorstellung, im Schlafsack zu übernachten, sowieso zuwider war, stieg ins Auto und verkündete, wir würden abreisen. Die Kinder schliefen, mit Handtüchern zugedeckt, weil es uns zu dieser Jahreszeit nie eingefallen wäre, Jacken mitzunehmen, und Matti, der durch den sintflutartigen Regen und die Dunkelheit raste und dabei unaufhörlich fluchte, wußte plötzlich nicht mehr, wie es nach Hause ging.

»Was ist los mit dir?« schrie ich.

»Nichts! Was willst du von mir?«

»Ich verstehe nicht, was plötzlich in dich gefahren ist!« schrie ich, weil es ihm zum ersten Mal gelungen war, mir richtig Angst zu machen. »Was ist mit dir, Matti, geht’s dir nicht gut?«

»Mir geht es bestens«, antwortete er, aber als wir dann auf einem Feldweg landeten, das Auto im Schlamm steckenblieb und die Kinder aufwachten – erst waren sie durchdrungen von Abenteuerlust, dann erschrocken –, bestimmte ich: »Es reicht! Laß mich fahren!«

[85] »Warum?« fragte er. »Meinst du, du kennst den Weg besser?»

Die Räder suchten verzweifelt nach Halt, aber Matti setzte uns nur noch tiefer in den Schlamm.

»Ich kann wenigstens gut sehen. Ich kann Schilder lesen. Du kannst nicht gut sehen. Gestern abend hast du über Probleme mit den Augen geklagt.«

»Ich sehe bestens.«

»Aber was soll das? Wieso bist du so stur, Matti? Willst du uns alle umbringen?«

Und weit und breit war kein Mensch, den man hätte um Hilfe bitten können. Es war dunkel und kalt und gottverlassen, und der Regen prasselte auf das Dach, und die Kinder fingen an zu weinen, und mir war klar: Wir sind so gut wie geliefert.

Und da packte er sich jäh mit den Händen am Kopf und fing an zu zittern: »Mir ist schwindlig, mir geht’s nicht gut.« Und als ich fragte: »Siehst du jetzt, was ich meine?«, verlor er das Bewußtsein.

Ich war gefangen in einem eiskalten Wagen, der auf einem einsamen Feldweg im Schlamm steckte, mit zwei kleinen, verängstigten Kindern und einem bewußtlosen Mann, dessen Kopf gegen das beschlagene Seitenfenster lehnte, der Sicherheitsgurt schnürte ihm die Kehle ab, und ich hatte einen Mordshaß auf ihn.

[86] Ich brüllte ihn an, er solle aufwachen, und er rieb seinen Kopf an dem feuchten Fenster, öffnete kurz die Augen, um sie gleich wieder zu schließen, und brummelte: »Mir geht’s nicht gut.«

»Matti!« schrie ich. »Wach doch wieder auf! Wir fahren gleich ins Krankenhaus, aber erst mußt du zu dir kommen!«

Und er öffnete abermals die Augen – in der Dunkelheit konnte ich nur das Weiße sehen – und sagte: »Mir ist übel«, und die Kinder versuchten, über die Sitze zu mir nach vorne zu klettern, und Schachar streckte mir in heller Panik seine Arme entgegen.

»Matti«, flüsterte ich und tätschelte ihm die Wangen. Dann brüllte ich: »Wach auf! Komm zu dir!«

Ich stieg aus dem Auto, öffnete die Fahrertür, löste den Sicherheitsgurt und versuchte, Matti auf den Beifahrersitz zu schieben, aber er war schwer und rührte sich nicht, und ich verpaßte ihm eine Ohrfeige, weil – was hätte ich denn sonst tun sollen? Aber es half nichts, sein Körper kippte mir entgegen, und es gelang mir nur mit Mühe, dagegenzuhalten, damit er nicht in den Schlamm fiel.

Ich weiß nicht, wieviel Zeit verging, bis er wieder zu sich kam. Die Kälte und der Regen brachten ihn wieder zu sich, also rief ich ihm schnell zu: »Rutsch rüber, Matti, bitte! Rutsch nach rechts! [87] Nur ein kleines bißchen! Versuch doch, nur ein kleines Stückchen zu rutschen!«

Da hangelte er sich auf den Beifahrersitz und legte den Kopf zurück, und Schachar legte ihm seine Hände um den Hals, um ihn nicht noch einmal zu verlieren, und Uri warf einen kurzen Blick in das tote Gesicht seines Vaters und fragte mich, wie es jetzt weitergehen solle.

Ich gab ihm keine Antwort. Ich bat Schachar, die Hände vom Hals seines Vaters zu nehmen, weil ich sah, daß es Matti das Atmen erschwerte, und sagte: »Uri, erzähl Schachar doch eine Geschichte.« Und Uri erwiderte: »Ich kann nicht. Ich weiß keine Geschichten. Ich habe Angst.« Ich legte den Rückwärtsgang ein und ermunterte ihn: »Dann erzähl ihm die Geschichte, die Papa euch vor dem Einschlafen immer erzählt, die mit den Elefanten, den Affen und den Nashörnern.« Und er gab zurück: »Da kommen keine Nashörner drin vor.« Ich bat noch einmal: »Erzähl sie trotzdem, Uri, ohne Nashörner, ist doch egal.« Und er brach in Tränen aus und schluchzte: »Es ist nicht egal!« Also sagte ich: »Dann erzähl sie, wie du willst.«

»Aber ich weiß sie nicht mehr«, jammerte er.

»Natürlich weißt du sie noch«, ermutigte ich ihn und trat auf das Gaspedal, das mir unter dem Fuß wegrutschte, weil ich nasse Sohlen hatte.

[88] »Streng dich an!« schrie ich.

Die Räder drehten durch, und aus dem Augenwinkel sah ich Matti, der nach draußen starrte, ein Speicheltropfen rann ihm aus dem Mund, und ich sagte: »Erzähl ihm, was Papa euch immer erzählt. Du weißt es bestimmt noch. Du kannst mir doch nicht erzählen, daß du alles vergessen hast.«

»Aber ich habe Angst«, jammerte er, und mir schien, die Hinterräder hätten sich ein wenig bewegt, aber es war nur meine Einbildung. »Wenn ich Angst habe, fällt mir nichts ein!«

Abermals trat ich auf das Gaspedal, diesmal bis zum Anschlag, weil ich inzwischen nichts mehr zu verlieren hatte, und der Wagen schoß unter entsetzlichem Getöse rückwärts.

Matti und die Kinder schliefen jetzt, während ich versuchte, den Weg zum Krankenhaus zu finden. Erst mal eine Straße finden, sagte ich mir immer wieder vor, und dann zum Krankenhaus, und als wir endlich wieder auf der Hauptstraße waren, hatte ich das Gefühl, mein Körper bestehe nur noch aus Zittern, ich dachte, ich müsse mich übergeben, und mir war kalt, und dann dachte ich, ich würde gleich das Bewußtsein verlieren, aber das kam natürlich nicht in Frage, also fuhr ich weiter, und irgendwann hörte es auf zu schütten, und am Wegrand erschienen Schilder, die auf einmal ganz [89] freundlich wirkten, und dann wurde Matti wach und fragte, wo wir seien.

»Bei Tweria* [* Tweria: hebräischer Name für Tiberias.]«, erwiderte ich. »Auf dem Weg ins Krankenhaus.«

»Nicht nötig, Mira«, sagte er. »Es geht mir schon besser.«

»Und ob es nötig ist«, gab ich zurück. »Es könnte noch mal passieren.«

»Morgen gehe ich zum Arzt«, erklärte er. »In Ordnung? Versprochen. Komm, laß uns nach Hause fahren.«

»Nein«, versteifte ich mich, »wir gehen zur Notaufnahme. Es muß sein, Matti, es geht dir schon längere Zeit nicht gut. Vielleicht besteht irgendein Zusammenhang mit dem, was am Seder-Abend mit dir los war.«

»Aber ich habe dir doch schon gesagt: Das hat am Essen gelegen.«

»Vorhin hättest du uns alle fast umgebracht, ist dir das klar? Du siehst nicht gut, du hast Schwindelanfälle, und vorhin hast du das Bewußtsein verloren. Warum stellst du dich bloß so stur?« Und dann brachte ich ihm in Erinnerung, daß er gerade erst vor einer Woche mitten in der Nacht mit schrecklichen Schmerzen aufgewacht war.

[90] »Erinnerst du dich noch daran?«

»Ich erinnere mich noch daran«, antwortete er.

»Und du hattest solche Schmerzen, daß du nicht einmal gemerkt hast, was du gemacht hast.«

»Was habe ich denn gemacht?« fragte er, plötzlich erschrocken.

»Du hast Uri getreten. Schachar hast du weggeschubst, und Uri hast du getreten. Dein Tritt hat ihn am Bauch erwischt. Er hatte einen Bluterguß.«

»Ich habe Uri nicht getreten«, sagte er. »Red keinen Unsinn.«

»Du hast es vergessen«, sagte ich. »Du kannst dich einfach nicht mehr dran erinnern!« Er sah nach hinten und betrachtete den schlafenden Uri: Er lag in ein großes Handtuch gepackt, auf seinem Gesicht noch immer der weinerliche Blick. Neben ihm zusammengerollt lag Schachar, sein Rücken hob und senkte sich mit schnellen Atemzügen, und ich fragte, diesmal ohne Wut, weil ich schon ahnte, daß Schluß war mit unserer heilen Welt: »Weißt du das wirklich nicht mehr?«

Er zog seinen Pulli aus und breitete ihn über die Kinder, wobei er die Ärmel so hinlegte, daß beide so gut wie möglich zugedeckt waren. Dann sagte er: »Doch, ich weiß es noch«, und versprach, daß wir morgen zusammen zum Arzt gehen würden.

»Aber jetzt laß uns bitte nach Hause fahren, ich [91] bin müde und habe keine Lust, die ganze Nacht in der Notaufnahme zu verbringen. Außerdem haben die Ärzte sowieso keine Ahnung. Wann hat es aufgehört zu regnen, Mira? Schon länger? So ein Regen an Pessach – das hat es schon ewig nicht mehr gegeben«, meinte er und berührte mich an der Wange, und mir schossen die Tränen in die Augen.

»Ja«, sagte ich.

»Seit Jahren nicht«, bekräftigte er, und noch wäre mir im Traum nicht eingefallen, daß dies unser letztes gemeinsames Pessach sein würde. Den ganzen Weg wechselten wir kein Wort, die Kinder schliefen tief und fest, und als wir zu Hause ankamen, trug er Uri auf den Armen und ich Schachar. Die Taschen und die nassen Schlafsäcke ließen wir im Auto.

24

»Es ist schon dunkel«, sagte er, »du mußt nach Hause.«

Ich lag, eingewickelt in das Handtuch, das er mir umgelegt hatte, auf dem...