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Meir Shalev

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257603804 , 496 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

[9] Die erste Liebe

Einmal kam ich in ein Fischerdorf an der Andamanensee in Südostasien. Anders als gewöhnliche Fischerdörfer lag dieses Dorf nicht an der Küste, sondern schwamm im Meer. Seine Häuser standen auf Flößen, die nebeneinander ankerten und durch Stricke und Holzplanken verbunden waren.

Das Dorf dümpelte sanft auf den Wellen, auf und ab. Es war ein komisches Gefühl. Wenn man von einem Boot auf den Kai tritt, hat man sonst sofort die angenehme Empfindung, festen Boden unter den Füßen zu haben, doch hier wechselte man von einem Schwanken zum andern.

Die Dorfbewohner waren Muslime, Fischer aus Malaysia. Ich streifte zwischen den schwimmenden Häusern umher, bis ich hinter einer halboffenen Tür einen hageren Mann sitzen sah. Wir tauschten Blicke, der Mann lächelte und bat mich mit einer Geste herein. Wir tranken Tee. An der Wand hingen ein Foto und ein Gemälde. Das Foto zeigte irgendeine europäische Landschaft – grüne Täler, rotbraune Kühe, Wasserfälle und verschneite Gipfel. Das Gemälde kam mir vertrauter vor: Ein Knabe liegt auf einem Altar, ein alter Mann schwingt ein Messer über ihm, ein Engel schwebt darüber, und im Hintergrund ist auch der Widder, die Hörner im Gestrüpp verfangen.

Im ersten Moment meinte ich, bei einem der verlorenen zehn Stämme gelandet zu sein, und setzte im Stillen schon Briefe an das israelische Oberrabbinat und an die Jewish [10] Agency auf, damit sie auch diesen Mann hier schnellstens nach Israel holten.1 Aber ehe ich meinem verlorenen Bruder um den Hals fiel, fragte ich ihn, was das Bild darstelle. Mein Gastgeber deutete mit dem Finger auf den Alten mit dem Schlachtmesser und sagte in merkwürdigem Tonfall: »Ibrahim.« Dann zeigte er auf den Jungen und sagte: »Ismail.« Ich widersprach nicht, aber als ich zurück in Jerusalem war, schlug ich nach und fand, dass es tatsächlich so im Koran steht. Ismael, nicht Isaak, ist der Sohn, den Abraham auf Gottes Befehl opfern sollte. Ich erzähle das etwas beschämt. Ich hätte es wissen müssen.

Statt des zu erwartenden Staunens empfand ich Trauer. Der Konflikt dreht sich also, wie ich jetzt erkannte, nicht nur um das Land und auch nicht um die heiligen Stätten darin. Es ist ein Streit um ein viel schwierigeres Thema: um Liebe. Genauer gesagt – um Vaterliebe. Und um die Dinge noch komplizierter zu machen, geht es nicht um die Liebe, die sich im Schenken eines bunten Rocks oder in der Erteilung eines vorteilhafteren Segens äußert, sondern um die schlimmste aller Taten im Buch Genesis – um Abrahams Opfer. In der Bibel steht: »Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebst, Isaak, […] und bring ihn […] als Brandopfer dar.« Ismaels Nachkommen finden es etwas schwierig, nach »deinen einzigen« und »den du liebst« Isaaks Namen zu lesen.

Ismael und Isaak selbst waren übrigens keine Rivalen. Gewiss nicht so wie Kain und Abel, Jakob und Esau, Josef und seine Brüder. Die eigentliche Rivalität in der Familie bestand zwischen den beiden Müttern, Sara und ihrer Magd Hagar. Auch dass aus beiden Söhnen, Ismael und Isaak, [11] später Religionen erwachsen würden, wusste man damals noch nicht. Aber als Gott »deinen einzigen« und »den du liebst« über Isaak sagte, nachdem Ismael und seine Mutter schon aus Abrahams Haus vertrieben waren – da wurde die emotionale Grundlage für das Problem gelegt, unter dem wir bis heute leiden.

Hier spielt noch etwas mit: Dieses »den du liebst« ist die erste Nennung der Liebe in der Bibel. Das ist in zweierlei Hinsicht interessant. Zum einen handelt es sich um die Liebe eines Mannes zu seinem Sohn und nicht um die Liebe eines Mannes zu einer Frau. Die wird auf den zweiten Platz verwiesen, in Isaaks Liebe zu Rebekka. Und zum andern ist es die Liebe eines Vaters, nicht einer Mutter. Die erste Mutterliebe ist Rebekkas Liebe zu ihrem Sohn Jakob. Sie tritt an dritter Stelle auf und ist ebenfalls mit einer Ungleichbehandlung zweier Brüder verbunden: Rebekka liebt Jakob, Isaak liebt Esau.

Beides ist merkwürdig. In Literatur und Gesellschaft und auch juristisch gesehen gilt Mutterliebe mehr als Vaterliebe. Und was die Liebe zwischen Mann und Frau angeht, so setzt die moderne Literatur sie über die Liebe von Eltern zu ihren Kindern, der sie naturgemäß ja auch vorausgeht. Ohne sie gäbe es keine Kinder, die man dann ebenfalls lieben könnte. Aber die Bibel räumt der Familie den Vorrang ein – und in diesem Fall der Familie, die ein Volk werden soll. So ist Abrahams Liebe zu Isaak auf dem ersten Platz gelandet. Elternliebe für eine Tochter findet in der Bibel übrigens gar keine Erwähnung.

[12] Ada und Zilla

Hat Adam Eva geliebt? Hat Eva Adam geliebt? Gut möglich, aber ihre Beziehungen werden nicht mit dem Wort ›Liebe‹ beschrieben. Schade. Der romantisch veranlagte Leser würde den Wortstamm ›lieben‹ nur zu gern gerade in diesem Fall vorfinden, denn Adam und Eva waren ein einzigartiges Paar, nicht nur wegen des angenehmen Lebens im Paradies, nicht nur wegen der intimen Nähe zu Gott, sondern weil sie das einzige Paar auf Erden waren. Sie erlebten echt und dauerhaft, was wenige und vom Glück gesegnete Paare selten und nur kurz empfinden. Aber die Bibel sagt nichts von einer Liebe zwischen dem ersten Mann und der ersten Frau. Sie erwähnt Begriffe wie Scham, Erkennen, Arbeit, Trauer, Herrschaft, Geburt und Zeugung. Sie verkündet dem Leser, dass Eva nach Adam verlangen und er über sie herrschen wird – aber sie verliert kein einziges Wort über die Liebe des Paares. Vielleicht braucht es keine Liebe, wenn keine andere Frau und kein anderer Mann auf Erden leben.

Und so, ohne Liebe, erkannte Adam Eva, und Eva gebar Kain. Kain erkannte seine Frau – deren Name unbekannt ist –, und sie gebar Henoch. Dem Henoch wurde Irad geboren, Irad zeugte Mehujaël, Mehujaël zeugte Metuschaël, und Metuschaël zeugte Lamech. Im Hebräischen steht hier dreimal das Wort ›gebar‹. Im Allgemeinen zeugt der Mann, und die Frau gebiert, doch hier gebären die Männer. Vielleicht war das in jenen fernen Zeiten so. Wie dem auch sei – es gab Männer, es gab Frauen, Kinder wurden geboren, aber von Liebe kein Wort.

Auch von Lamech wird nicht berichtet, dass er geliebt [13] hätte, aber im Gegensatz zu anderen Frauen jener Generationen hatten seine Gattinnen Namen, und Lamech sang ihnen sogar ein Lied, das er bestimmt nett fand:

Ada und Zilla, hört auf meine Stimme,

ihr Frauen Lamechs, lauscht meiner Rede!

Ja, einen Mann erschlage ich für eine Wunde

und einen Knaben für eine Strieme.

Wird Kain siebenfach gerächt,

dann Lamech siebenundsiebzigfach.

Die Wörter ›Lied‹ und ›singen‹ fallen dort nicht, aber Reim2 und Rhythmus sprechen für sich, und so war Lamech der erste Mensch in der Bibel, der ein literarisches Werk verfasste. Leider, leider war es kein Liebeslied, sondern eine Selbstverherrlichung. Falls Lamech jemanden liebte – dann sich selbst.

Nach einer Version zeugte Lamech Noah – genau, den mit der Sintflut und der Arche –, und auch dieser hatte eine Frau. Die Bibel erzählt nicht viel über sie, aber ich bin sicher, sie hat Noah sehr geliebt. Wie üblich in der Bibel steht der Mann als Held im Mittelpunkt der Geschichte. Noah war ein gerechter, untadeliger Mann unter seinen Zeitgenossen, er sprach mit Gott, er baute die Arche. Aber während Noah seiner neuen Obsession nachging, schmiss seine Frau den Familienalltag.

Es steht nicht geschrieben, aber Noahs Frau war eine sehr geliebte Frau und sicherlich die geduldigste unter allen geduldigen Frauen der Bibel. Erst ertrug sie still den Bau der Arche, dann den langen Aufenthalt in diesem überfüllten, [14] stinkenden, dreckigen und lauten Wasserfahrzeug, mit Tieren und Vögeln drinnen und der großen Flut draußen, und nicht nur mit Hunderten von Tieren, sondern auch noch mit einem Ehemann, drei Söhnen und drei Schwiegertöchtern. Keine Chance zu flüchten, sich irgendwo zurückzuziehen – wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich die Geschichte und die Arche nach ihr benannt. Nicht die Arche Noahs, sondern die Arche von Noahs Frau, die, genau wie ihre Liebe, nicht namentlich genannt wird.

Die Bibel beschreibt nicht das harte Leben in der Arche, aber die lange Erholungszeit, die nach dem Aufenthalt an Bord vonnöten war, spricht Bände. Als die Flut verebbt und das Land getrocknet war und alle die Arche verlassen hatten, erinnerte Gott Noah und seine Angehörigen erneut an die Aufgabe des Menschengeschlechts: Seid fruchtbar und vermehrt euch. Aber erst zwei Jahre nach der Flut wurde Noahs Sohn Sem wiederum ein Sohn geboren. Daraus wird ersichtlich, dass in der Arche alle absolute Keuschheit wahrten und dass es danach noch über ein Jahr so weiterging! Das abgeschottete, eingepferchte Leben hatte wohl bei allen den Wunsch nach Alleinsein, vielleicht sogar nach Enthaltsamkeit geweckt, und es dauerte einige Zeit, bis sie sich erholt hatten.

Sems Sohn hieß Arpachschad. Arpachschad zeugte Schelach, Schelach zeugte Eber, Eber zeugte Peleg, Peleg zeugte Regu, Regu zeugte Serug, Serug zeugte Nahor, Nahor zeugte Terach, und Terach zeugte Nahor und Haran und Abram, ebenden Abram, der später Abraham heißen und unser Stammvater werden sollte und der Sarai zur Frau nahm, die in Sara umbenannt wurde und ihm Isaak gebar.

[15] Sarai war eine »schöne Frau«, und da ich mich hier mit ersten Malen befasse, möchte ich hervorheben, dass sie die erste schöne Frau der Bibel ist. Doch obwohl wir hier nun endlich einen Mann mit einer bildschönen Frau vor uns haben, finden wir immer noch keine Liebe. Es sind schon...