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Hand aufs Herz

Anthony McCarten

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257603798 , 336 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

[7] Die Kandidaten

Am Morgen vor dem Wettbewerb sah Tom Shrift von seinem Fenster im ersten Stock aus zu, wie sein Nachbar seinen kleinen Rasen mähte. Hin und her zog er seine Bahnen, bis er sechs exakt parallele Streifen hatte, hellgrün, dunkelgrün, hellgrün, dunkelgrün; und ebenso wechselten in Toms Bauch die Gefühle – Neid, Wut, Neid, Wut.

Und schritten sie in alter Zeit

Auf Englands grünen Hügeln…

Wo waren Toms grüne Hügel? Wo konnten seine Füße frei dahinschreiten? Er lebte praktisch eingesperrt in dieser Wohnung im ersten Stock, auch das winzigste Stück Raum im Freien blieb ihm versagt (er hatte einen kleinen Balkon anbauen wollen, wie der, auf dem Julia ihrem Romeo lauscht, doch der Nachbar hatte erfolgreich beim Bauamt protestiert). Wehmütig betrachtete Tom diesen Rasen, der nicht seiner war, dann öffnete er einen kleinen Spaltbreit sein Fenster, und der Duft von frisch gemähtem Gras wehte herein.

Tom spürte diesen Mangel sehr. Es fehlte einfach etwas. Der eine mäht sein Gras, der andere sieht sehnsüchtig zu – wobei die Sehnsucht sehr viel leidenschaftlicher ausfällt als die stillvergnügte Freude am Besitz. Es wurmt einen, wenn [8] man etwas nicht hat, gerade wenn man jemand ist, dem dieses Etwas zusteht – jawohl, zusteht.

Tom wandte sich ab. Drei Uhren mahnten ihn, dass er sich beeilen musste, dass er jetzt schon spät dran war.

Er durfte sich von dem Kleinkrieg, der zwischen ihm und seinem Nachbarn tobte, heute nicht aufhalten lassen. Er hatte ein Vorstellungsgespräch in der Stadt. Eilig, aber sorgfältig zog er sich an. Er wählte eine auffällige Seidenkrawatte zum weißen Hemd. Er war ein Mann, der in den Kampf zog, und das schlug sich in seinem Fahrstil nieder; er fuhr mit genau jenem Grad von Aggressivität, den man brauchte, um im mörderischen Londoner Verkehr durchzukommen.

Eilig parkte er den Wagen. Fand das Hochhaus, das er suchte, und fuhr hinauf, hinauf, hinauf in einem gläsernen Aufzug, der außen an dem Gebäude entlangglitt. Gleich darauf saß er, prefekt gestylt, vor einem Angestellten der Personalabteilung einer großen Firma – Toms Todfeind, eine Art ferngesteuertes Hindernis zwischen ihm und dem Leben, das er verdiente.

Eine Transkription des Vorstellungsgespräches sähe so aus:

ANGESTELLTER DER PERSONALABTEILUNG: Sie waren bisher hauptsächlich selbständig tätig.

TOM: Mhm.

ANGESTELLTER: Das ist Ihnen lieber so? Gut. Wieso sind Sie dann hier?

TOM: Eine Pechsträhne.

ANGESTELLTER: Sie haben… Geburtstagskarten verkauft, sehe ich hier… Das ist ja süß.

TOM: Ich war Eigentümer und Geschäftsführer einer äußerst erfolgreichen Glückwunschkartenfirma mit [9] Geschäftsbeziehungen in vier Ländern. Unsere Spezialität waren hochwertige Reproduktionen von Kunstwerken. Dazu muss man eine Menge über Kunst wissen, und das tue ich.

ANGESTELLTER: Die Firma ist eingegangen?

TOM: Ich habe viel Geld in Lizenzen der Eremitage von Sankt Petersburg investiert. Man hat mich reingelegt.

ANGESTELLTER: Andere Gründe für den Bankrott? Persönliches Verschulden Ihrerseits?

TOM: Man hat mich belogen. Mir etwas vorgemacht.

ANGESTELLTER: Und sonst wäre die Firma noch im Geschäft? Gut. Okay.

TOM: Hören Sie, was soll das. Ich habe eine Menge Geld verloren. Vielleicht war ich…

ANGESTELLTER: Sie…?

TOM: Vielleicht war ich ein bisschen zu ehrgeizig. Das ist alles.

ANGESTELLTER: Sie wollen die Welt im Sturm erobern.

TOM: Ich will, dass die Welt weiß, dass ich gelebt habe, ja.

ANGESTELLTER: Ist das ein Zitat?

TOM: Schon gut.

ANGESTELLTER: Wir können also festhalten, Sie sind nicht allzu gut beim Kleingedruckten. Haben Sie noch Schulden von der Sache?

TOM: Sagen wir doch einfach, es ist der Grund dafür, dass ich mich für Ihre Art von Arbeit bewerbe.

ANGESTELLTER: Man könnte also sagen, Sie sind es eher gewohnt, auf meiner Seite des Tisches zu sitzen?

TOM: Na… das haben Sie gesagt, nicht ich. Ich sollte es… ich sollte es eigentlich nicht nötig haben, so hier zu sitzen.

[10] ANGESTELLTER: Nicht nötig… gut… dann lassen Sie uns mal sehen. Unverheiratet. Arbeitslos. Okay. Kinder?

TOM: Nein.

ANGESTELLTER: Keine Kinder… okay.

Tom merkte, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten. Später würde er sich darüber aufregen, dass der Kerl nur immer das Negative herausgestrichen hatte. Sag mal was Gutes, du Wichser, flehte er innerlich. Warum liest du nicht »Mitglied von Mensa« in meinem Lebenslauf? Sag mal was Gutes! Wie viele Bewerber hast du denn in letzter Zeit gesehen, die auf den Gedanken gekommen sind, aus russischem Museumskrempel etwas Hübsches und Praktisches zu machen? Wie viele, du Scheißer?

ANGESTELLTER: Zweiundvierzig Jahre alt – Sie sehen nicht aus wie zweiundvierzig. Was ist Ihr Geheimnis? Liegt’s daran, dass Sie Single sind?

TOM: Das ist ein Geheimnis.

ANGESTELLTER: Viele in dem Team, für das Sie sich bewerben, sind erheblich jünger als Sie. Es ist ein sehr anstrengender Job, mit hohen Anforderungen.

TOM: Für mich ist Jugend nicht automatisch ein Vorzug. Ich bin zweiundvierzig. Ich bringe eine Menge Erfahrung mit. Mein Lebenslauf spricht für sich. Kommen wir zur Sache.

ANGESTELLTER: Würden Sie… würden Sie sagen, Sie sind ein Teamplayer, Tom?

TOM: Ein Teamplayer? Nein, ich würde nicht sagen, dass ich ein Teamplayer bin. Darf ich Sie mal was fragen – haben Sie überhaupt schon mal ein Bewerbungsgespräch geführt? Ehrlich. Nur eine Frage. Denn wenn ich mir ansehe, was [11] Ihr »Team« in den letzten zwei Jahren so geleistet hat, dann würde ich sagen, das Letzte, was Sie hier brauchen, ist einen »Teamplayer«.

Er hatte es versaut. Das war der Punkt, an dem der Mann ihm erklärte, Tom habe »einen aggressiven Charakter«, und dann war das Vorstellungsgespräch beendet. Und schon stand Tom wieder unten auf der Straße, atmete Kohlenmonoxid und schlug sich von neuem durch die Menschenmassen. Als sein Auto in Sicht kam – er hatte es kurzerhand in einer privaten Parkbucht hinter dem Odeon-Kino gelassen –, sah er zu seinem Entsetzen eine Politesse daneben stehen.

Er rannte los. O nein, bitte nicht. Nicht auch das noch. Er rannte, rang die Hände, flehte die kleine, weiße, uniformierte Engländerin mit dem kleinen bleichen Kindergesicht um Mitleid an.

»He, hallo… warten Sie. Hier bin ich!«, rief er, hielt die Hände in die Höhe, eine Geste der Unterwerfung. »Alles in Ordnung. Das ist ein kostenloser Parkplatz. Hier steht nirgends, dass man bezahlen muss. Ich parke immer hier. Ha-ha-halt! Lassen Sie’s gut sein! Ich bin doch schon so gut wie weg.«

Ohne ihn anzusehen, antwortete die Politesse: »Das ist kein öffentlicher Parkplatz, Sir.«

»Wer sagt das? Wo steht das? Hier steht nirgends ›Parken verboten‹. Oder sehen Sie etwas? Sagen Sie es mir. Zeigen Sie es mir.«

»Das ist kein öffentlicher Parkplatz, Sir. Es ist –«

»Och, nun seien Sie doch nicht so!«

»Das ist ein privater –«

[12] »Wo steht hier privat? Wo steht, dass er privat ist?«

»Er befindet sich auf dem Gelände des Odeon-Kinos, Sir, und ist reserviert für die Angestellten.«

»Seit wann denn das?«

»Es ist ein Privatgrundstück, und ich nehme an, Sir, Sie sind hierhergekommen, indem Sie in der High Street über den Bordstein gefahren sind. Das wäre eine zweite Ordnungswidrigkeit.«

»So sieht also Ihre Rechtsprechung aus! Und Sie, dürfen Sie ein Privatgelände betreten und übereifrig Strafmandate verteilen, nur weil Sie einen Bonus dafür kriegen? Mann, Leute wie Sie. Das hält einer im Kopf nicht aus. Ich kann mir das nicht leisten, verstehen Sie? Wollen Sie die Wahrheit wissen? Dann hören Sie zu. Ich habe nicht das Geld, um das zu bezahlen. Bitte.« Er breitete die Arme weit, wie ein Gekreuzigter: der Christus von Kensington. »Ich meine das ernst. Haben Sie doch ein bisschen Mitleid. Ich… Mir geht es gerade…« Er wusste nicht mehr weiter. »Ist das denn zu glauben… So eine blöde Kuh.«

Schweigen vonseiten der Politesse. Das gehörte zu den Anforderungen ihres Berufes.

»Sie machen Witze, oder?«

Die Frau tippte weiter ihre Daten ein.

»Sie stellen mir wirklich einen Strafzettel aus? Sie stellen mir… Ich fass es nicht – Das kann doch nicht… Leute wie Sie, das ist wirklich zu viel… beschissene Blutsauger wie Sie. Scheißvampire. Wisst ihr eigentlich, was ihr seid? Konkubinen des Satans!« Daraufhin blickte sie auf – immerhin, er hatte endlich einen Kontakt hergestellt. Diesen Moment der Schwäche machte er sich sofort zunutze. »Schämen solltet [13] ihr euch. Wie Leute wie Sie es mit sich selbst aushalten, ist mir ein Rätsel. Also, was… was kostet das? Das Strafmandat? Wie hoch ist es?«

Mit ungerührter Stimme. »Hundert Pfund. Weniger wenn Sie binnen vierzehn Tagen zahlen.«

»Und was ist Ihr Anteil? Wie viel stauben Sie ab? Fünfzig Prozent? Hab ich mir doch gedacht....