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Eden

Yael Hedaya

 

Verlag Diogenes, 2013

ISBN 9783257603767 , 944 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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11,99 EUR


 

[126] Alona

Noch vor dem Aufwachen wusste sie, was sie heute auf den Zettel der Sorte schreiben würde, von der sie jeden Morgen einen an den Rand ihres Computerbildschirms heftete, den Klebezettel mit dem einen Wort, das sie täglich durch ein anderes ersetzte, damit es ihr als Blinklicht, Inspiration oder Warnung diene. Gestern hatte sie »beruhigen« draufgeschrieben und, wie gewöhnlich, ein überdimensionales Ausrufezeichen angefügt, um sich an die Dringlichkeit der Sache zu erinnern, ein auf die Spitze gestelltes, scharfes Dreieck mit einem weichen Kreis darunter, und wie gewöhnlich kam sie sich lächerlich vor, als sie dieses Zeichen malte, das sie doch systematisch und zuweilen verächtlich aus den Manuskripten der von ihr redigierten Schriftsteller strich, vor allem bei den besonders jungen oder alten unter ihnen, deren Texte immer so eine Dringlichkeit an sich hatten. Wenn ihr eine Atmosphäre des Ausrufezeichens schafft, braucht ihr das Zeichen selbst nicht mehr, regte sie an, und um jeden Morgen diesen Zusatz zu rechtfertigen, sagte sie sich, in der Literatur ist das verboten, aber im Leben ist es – und wie kindlich klang ihr dieser Ausdruck – »erlaubt«, dieses zusätzliche Zeichen, das schon zur Hauptsache, zur Losung des Tages geworden war, ein geometrischer Ausruf: dringend, dringend, dringend.

Alles war so dringend.

Auch der nächtliche Schlaf verlief für sie angespannt, ein Ohr auf die Geräusche im Kinderzimmer gerichtet, Atemzüge und Gemurmel, erste Anzeichen von Unbehagen – Umwälzen im Bett, leises Quietschen von Idos Bettgestell, [127] Majas Seufzer wie die traurigen Seufzer alter Leute, das Klickklick eines über den Boden rollenden Plastikschnullers – ein Orchester, das seine Instrumente stimmte, und dann der erste Klang, lang und zögernd oder entschieden, Geige oder Oboe: Maaamaaa, auf dessen Schweif an Ausrufezeichen sie ins Kinderzimmer schlitterte, fast flatterte wie eine aus ihrer Höhle gescheuchte Fledermaus, und mit halb geschlossenen Augen und schläfrigem Herzen trat sie dann zu dem aufgewachten Kind, letzthin meist Ido, nicht beruhigend, nicht verzeihend, sondern tadelnd, und auch wenn sie eine Wange streichelte oder einen Schnuller aufhob und ihn wieder zwischen geöffnete Lippen steckte – ein Fischmaul auf einem feuchten Rund auf dem Kissen – oder eine verrutschte Decke zurechtzog oder eine andere abnahm, spürte sie, dass sie mit ihrer Anwesenheit nicht Ruhe, sondern Drohen verbreitete: Falls ihr wieder aufwacht, komme ich nicht, oder ich komme ärgerlich. Und wenn sie dann, in ihrem Bett, dem Zirpen der Grillen und dem lauten Klacken lauschte, das die Schleuderschwänze, die wie winzige Dinosaurier an den Hauswänden hingen, ihren Kehlen entrangen, und ihren eigenen Herzschlägen und dem Wispern der Blätter an den Bäumen, diesem nächtlichen Klanggespinst, saß einer seiner Fäden, derjenige, der zum Kinderzimmer führte, stets um einen ihrer Finger gewickelt, und am Morgen hasste sie sich selbst, weil sie, statt noch ein wenig bei ihnen im Zimmer zu verweilen, um mit Wunderkleber die Fetzen ihres Schlafgespinstes zu einen, eilig geflüchtet war, um noch ein bisschen Restschlaf zu retten.

Mark war viel besser in diesen Dingen. Sie bezeichnete [128] das als Teil seines chaotischen Wesens: Weil du keinen wirklich festen Tagesablauf hast, verteidigst du auch nicht eifersüchtig deine Nächte, sagte sie, wusste jedoch, dass das nicht stimmte, dass die Dinge, wie gewöhnlich, viel komplizierter lagen und dass sie auch als Eltern gegensätzlich waren. Mark lebte gern den Augenblick, während sie fürchtete, wenn sie nur den kleinen Finger gäbe usw. Mark wusste nicht, wo ihr Finger aufhörte und wo seine Hand anfing.

Deshalb hatte sie sich mal in ihn verliebt. Immer wieder rief sie sich diesen Grund in Erinnerung, wenn sie beobachtete, wie er sich weigerte, ein separates Leben innerhalb ihres gemeinsamen zu führen. Vor allem versinnbildlichte er in ihrer Sicht eine Gelegenheit, jemand anders zu sein, mit ihm zu rollen und zu wirbeln, um sich in ein neues Zwitterwesen zu verwandeln, eines, das zwar sie selber wäre, aber die, die sie wirklich war, besiegen würde, wie in dem Film, den sie liebte, Die Fliege, in dem ein Wissenschaftler sich in eine futuristische Kabine einschließt, die seine Körperzellen dematerialisiert und sie an einen anderen Ort teleportiert, wo sie wieder materialisiert werden, aber in dieser Kabine ist auch eine Fliege eingeschlossen. Das Rollen und Wirbeln hatte sie beide noch undurchlässiger gemacht, als hätte die Ehe eine weitere Schutzschicht geschaffen, die jede Chance auf Fusion zunichte machte.

Sie wusste, wenn die Kinder bei ihm waren, schliefen sie in seinem Bett. Keiner trug sie zurück in ihre Betten und flüsterte ihnen verschlafen Lehrpredigten ins Ohr, von wegen dass jeder sein Zimmer habe und jeder in seinem Bett schlafen müsse usw. Im Gegenteil, Mark erwartete mit Freuden den Augenblick, in dem sein Sohn zu ihm ins Bett [129] kletterte. Maja hatte schon damit aufgehört, und zuerst war sie froh gewesen – siehe da, die Erziehung hatte gefruchtet, aber letzthin dachte sie: Was habe ich nun in ihr abgetötet? Das Kicken auf die Matratze mitten in der Nacht, wie ein Klopfen an der Tür, und der Junge, der im Indianerschleichgang auf das freie Kissen zurobbte, seine ganze Ausrüstung, Decke, Schnuller, Wasserflasche und irgendein Spielzeug, im Schlepptau, als ginge er auf Campingtour. Was stört dich denn so daran, gemeinsam mit ihnen zu schlafen?, hatte Mark gefragt, als sie noch zusammenlebten und nachts die Dreieckskämpfe ausgebrochen waren, zwischen ihr und ihnen, ihr und ihm, während die Kinder zwischen ihnen auf dem Bett saßen und die Entscheidung abwarteten. Und sie hatte erwidert, erstens begreife sie nicht, wie er mit ihnen überhaupt Schlaf finden könne, Maja sei ja wie ein ausschlagendes Eselsfüllen und Ido wie eine Kobra, die sich um einen schlang, und zweitens, wenn wir ihnen das angewöhnen, werden wir sie für ewig bei uns stecken haben, und als Beispiel führte sie den Sohn von Freunden an, der schon fast neun war und bis heute bei ihnen im Bett schlief. Neun! Mark, möchtest du Maja und Ido bis zum Alter von neun Jahren bei uns schlafen haben? Und er sagte, erstens sei es ihm egal und zweitens glaube er nicht, dass es auf ewig wäre, irgendwann würden sie doch von allein drauf verzichten, nicht wahr? Ja, sagte sie, vielleicht, aber die Ewigkeit war bald nicht mehr aktuell, denn schon seit zwei Jahren schliefen sie und Mark in getrennten Betten, in getrennten Häusern, und zweimal pro Woche und jedes zweite Wochenende kuschelten sich die Kinder mit dem Vater in seinem Bett, zwei Straßen von hier, mit Erlaubnis, auf Einladung, und [130] die übrigen Nächte führten sie mit ihr nächtliche Kämpfe per Fernbedienung.

Beruhigen!, hatte sie gestern Morgen aufgeschrieben. Die Brosamen an Schlaf, die ihr vergönnt gewesen waren, weckten ihren wütenden Appetit nach mehr – wenn du sie bei dir schlafen ließest, würdest du schlummern wie ein Baby, lautete Marks Empfehlung –, und wie gewöhnlich war sie wütender auf sich als auf die Kinder. Ido weinte neuerdings im Schlaf, aber man wusste nicht, was er hatte. Erwachte er von der Berührung ihrer Hand auf seinem Gesicht, einer hochroten Leinwand, über die ein unsichtbarer Horrorfilm flimmerte, wirkte er überrascht und erbost, als hätte nicht er seine Mutter, sondern umgekehrt sie ihn aus dem Schlaf gerissen.

Und Maja hatte schon einige Tage Bauchweh. Vorgestern war sie zweimal aufgewacht, um Mitternacht und um halb zwei, wollte auf die Toilette. Zweimal Fehlalarm, und als sie das dritte Mal wartend auf dem Badewannenrand saß, das Klopapier fertig abgerissen in der Hand, und das Mädchen anschaute, das vorgebeugt auf der Schüssel saß, die Ellbogen auf die Knie gestützt, und ein Lied sang, das sie zum Laubhüttenfest im Kindergarten gelernt hatten, durchsummte sie kurz der Gedanke, wie schön die Kleine war, und ihr Herz jubelte auf und verkrampfte sich dann mitfühlend, als Maja ihre Bauchmuskeln anstrengte, und sie wollte ihr sagen, schon gut, lass dir Zeit, nicht mit Gewalt, aber die braungebrannten, mit hellem Flaum bedeckten Beine des Mädchens, die auf und nieder wippten, mit den Fersen rhythmisch an die Schüssel kickten, verrieten eine idiotische Wahrheit von drei Uhr morgens: Die Göre hielt [131] sie zum Besten. Sie kann doch nicht schrecklich leiden, wenn sie so vergnügt auf der Kloschüssel hockt, sagte sie sich, als sie aufstand und das WC-Papier in den Abfallkorb warf, so leidet man nicht. Steh auf, befahl sie, genug mit diesen Spielchen, und Maja machte den Rücken gerade und sagte, aber ich hab Kacki. Hast du nicht!, fauchte sie, los, genug jetzt, und zerrte das Mädchen am Arm von der Schüssel, zog ihr die kurze Pyjamahose hoch und führte sie zurück ins Zimmer, eine Hand auf ihrer widerstrebenden Schulter, deckte sie mit dem Leintuch zu und sagte, gute Nacht, und ruf mich nicht noch mal, und kehrte in ihr Bett zurück.

Und bevor sie einschlief, tadelte sie sich selbst, dass sie nicht vorher draufgekommen war, schon um Mitternacht, als das Mädchen auf der Schüssel saß und ihr eine Geschichte über irgendwas, was im Kindergarten passiert war, erzählt hatte – jetzt konnte sie sich nicht mehr erinnern, was. Lang und breit hatte sie erzählt und sich auch nach den Kosmetikartikeln erkundigt, die ums Waschbecken verstreut standen, was dies und was das sei, und ob sie morgen vorm Kindergarten auch diese Creme auftragen dürfe und diesen Lidschatten. Hätte sie nicht mitgemacht, ihr nicht mit der Geduld, die sie um Mitternacht noch besaß, den...