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Menschensöhne / Todesrosen

Arnaldur Indriðason

 

Verlag Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2013

ISBN 9783838749860 , 647 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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14,99 EUR

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Sechs


Jóhann, der ehemalige Aufseher an der psychiatrischen Klinik, wohnte in einer ausgebauten Kellerwohnung an der Miklubraut. Rund um die Uhr drang der Straßenlärm herein, und die Luft war geschwängert von Auspuffgasen. Jóhann hatte zwar in der Küche, deren Fenster auf eine der meistbefahrenen Straßen von Reykjavík hinausgingen, Vierfach-Thermopanescheiben einsetzen lassen, aber auch das hatte wenig genutzt. Der einzige Vorteil war, dass die Wohnungspreise hier zu den niedrigsten in Reykjavík gehörten. Am schlimmsten war es abends und nachts, wenn Motorradfahrer die Straße als Motodrom verwendeten. Egal wie häufig die Polizei diesen Typen auflauerte, sie kamen immer wieder.

Seitdem er nicht mehr in der Klinik arbeitete, hatte Jóhann die meiste Zeit zu Hause herumgelungert. Er war froh, den Verantwortlichen dort gehörig seine Meinung gesagt zu haben. Er war normalerweise ein verträglicher Mensch, aber als er im Verwaltungstrakt seinen Vorgesetzten gegenüberstand, war er ausgerastet und hatte sich seinen Zorn von der Seele gebrüllt, hatte sich die verschlissene Schirmmütze vom Kopf gerissen und auf den Boden geschleudert. Jetzt war sie wieder auf seinem Kopf, und er saß mit einem Becher Kaffee in der Hand in der kleinen Essecke und beobachtete Pálmi, der die Treppe zu seiner Wohnung herunterkam. Er hatte die Nachrichten vom Aufruhr in der Klinik und von Daníels Tod gehört und damit gerechnet, dass Pálmi früher oder später bei ihm auftauchen würde.

»Komm herein, Pálmi«, sagte er, während er die Tür öffnete. »Ich brauche wohl nicht zu sagen, wie schrecklich Leid mir das tut, was mit deinem Bruder passiert ist.«

»Danke, Jóhann«, sagte Pálmi und betrat die Wohnung. Sie gingen in die Küche, und Jóhann goss Kaffee in eine zweite Tasse. In dem sauberen Raum war alles ordentlich an seinem Platz, Fußboden und Schränke glänzten. Jóhann hatte sein ganzes Leben lang allein gelebt und war als ordnungsliebender Mensch bekannt. Pálmi hatte sich vom ersten Augenblick an, als Jóhann seinen Bruder in der Klinik unter seine Fittiche genommen hatte, gut mit ihm verstanden. Jóhann war groß und kräftig und hatte Hände, die zupacken konnten, aber seine Stimme war weich und freundlich, und er strahlte Vertrauen aus. Sogar sein Gang wirkte Vertrauen erweckend. Er humpelte zwar ein wenig, denn das eine Bein war sichtlich kürzer als das andere, aber er trat trotzdem fest und sicher auf.

»Ich kann mich erinnern, wie ich Danni in der Klinik kennen gelernt habe. Damals glaubte er, er würde nicht lange drinnen bleiben«, sagte Jóhann und setzte sich zu Pálmi. »Und man hat gehofft, dass er Recht behalten würde. Aber dann musste er natürlich doch den größten Teil seines Lebens dort verbringen. Was für ein Leben«, fügte er leise hinzu.

»Ich wollte dir danken für all das, was du in diesen Jahren für ihn getan hast, und dafür, dass du ihm ein Freund gewesen bist«, sagte Pálmi und nippte an dem kochend heißen Kaffee.

»Es ist wohl eher angebracht, dass ich mich bedanke. Wahrscheinlich habe ich mehr von dieser Freundschaft profitiert als Danni. Ich mochte ihn sehr, sehr gern. Und jetzt muss ich immer daran denken, dass ich ihm, wenn ich nicht die Schnauze so voll gehabt hätte von dieser Klinik, vielleicht in seinen letzten Tagen hätte helfen können. Ich wollte mich auch von ihm verabschieden, das hatte ich die ganze Zeit vor, aber ich bin vor Wut einfach aus dem Gebäude gerannt und nicht wiedergekommen.«

»Warum bist du gegangen?«

»Das, was in der Klinik vorgeht, ist im Grunde genommen ein Riesenskandal, und das schon seit Jahren. Ich bin deswegen oft bei der Leitung vorstellig geworden, aber die einzige Antwort, die ich dann immer bekommen habe, war die, dass wir in einer Rezession steckten und die öffentliche Hand Einsparungen vornehmen müsse. Ich habe erklärt, dass ich in all den Jahren, die ich dort gearbeitet habe, schon öfter erlebt habe, dass die Mittel knapper wurden. Aber so schlimm wie jetzt ist es noch nie gewesen. Außer den Aufsehern gibt es da doch kaum noch jemanden, der sich um die Patienten kümmert. Und von denen ist niemand für so etwas ausgebildet. Meiner Meinung nach haben diese hohen Herren einen an der Klatsche, und das habe ich dem Direktor und allen anderen da auf der Verwaltungsetage so direkt gesagt, ob sie es hören wollten oder nicht.«

»Genützt hat es aber wohl nichts.«

»Ich hatte echt die Schnauze voll, Pálmi. Ich konnte da einfach nicht länger bleiben.«

»Wann hast du Daníel das letzte Mal gesehen?«

»An dem Tag, als ich abgehauen bin, genau vor einer Woche. Ich hatte kurz davor noch mit ihm in seinem Zimmer gesprochen.«

»War er in den letzten Wochen, in denen du mit ihm zu tun hattest, irgendwie anders?«

»Das lässt sich nicht abstreiten. Eigentlich war er mal wieder genau wie immer, wenn er seine Medikamente nicht einnahm. Das hat er manchmal gemacht. Dann war er ja irgendwie ruhiger, obwohl sich das komisch anhört, und er konnte sich stundenlang ganz normal und verständig mit einem unterhalten. Ich bin übrigens der Meinung, dass ihm die Medikamente überhaupt nichts genützt haben. Ich glaube nicht an Medikamente. Mir war es scheißegal, wenn er das Zeug nicht nehmen wollte. Dann wird den Pharmakapitalisten weniger Geld in den Rachen geworfen. Kann natürlich sein, dass diese Medikamente auch was genützt haben. Ich weiß es nicht. Es ist aber entsetzlich, wenn man mit ansehen muss, was für Mengen davon ausgeteilt werden, und das seit jeher. Jede Menge, jede Größe, Pillen in allen Farben des Regenbogens werden den Patienten eingetrichtert. Und weißt du, warum? Die Krankenhäuser haben kein Geld für was anderes als medikamentöse Behandlung. Das Personal ist dermaßen abgebaut worden, dass die Patienten mit Pillen zugedröhnt werden müssen, wenn nicht alles drunter und drüber gehen soll. Anständige Gehälter können die angeblich nicht bezahlen, diese Herrschaften, aber stattdessen werden jährlich hunderte und aberhunderte Millionen Kronen in die Pharmaindustrie gepumpt. Ich habe viele Jahre da gearbeitet und zusehen müssen, wie das Zeug tonnenweise von diesen armen Menschen geschluckt wird. Oder sie werden einfach nach Hause geschickt, egal in was für einem Zustand sie sich befinden, und sind oft noch schlimmer dran, wenn sie wieder eingeliefert werden.«

Jóhann schweig eine Weile. Nachdem er einen Schluck Kaffee getrunken hatte, fuhr er fort.

»Irgendjemand hat Daníel in den letzten Wochen besucht, was ich sehr ungewöhnlich finde. Jahrelang war ich der Einzige, der zu Besuch kam. Weißt du etwas über diesen Mann? Besuche werden in der Klinik nicht registriert.«

»Das war sein alter Lehrer aus der Volksschule, Halldór hieß er, glaube ich. Irgendwie ein ziemlich merkwürdiger Kerl, er wirkte schwächlich und fast so, als sei er auf der Flucht. Soweit ich weiß, hat er ihn insgesamt drei Mal besucht«

»Was hat dieser alte Lehrer denn von ihm gewollt? Daníel hat diesen Mann mir gegenüber nie erwähnt, und ich fiel aus allen Wolken, als mir deine ehemaligen Kollegen gestern von ihm erzählten.«

»Er hatte einen merkwürdigen Einfluss auf Danni. Ich kann mich an den ersten Besuch erinnern. Danni hat ihn rausgeworfen und ihm gesagt, er solle sich nie wieder blicken lassen. Das ging aber ganz ruhig vonstatten, er hat ihm bloß klipp und klar gesagt, dass er verschwinden solle. Ich weiß nicht, was zwischen ihnen vorgefallen ist. Als ich Danni danach fragte, wollte er nichts sagen.«

»Du hast nicht gewusst, worüber sie gesprochen haben?« »Nein.«

»Woher weißt du denn, dass er sein Lehrer war?«

»Das hat Danni mir gesagt. Eine Woche später kam dieser Mann wieder und hat es geschafft, dass Danni sich mit ihm hinsetzte. Sie haben sich lange unterhalten, aber als ich fragte, worüber sie gesprochen hätten, war nichts aus Danni herauszukriegen. Sonst hat er mich eigentlich immer ins Vertrauen gezogen und mir gesagt, worüber er nachdachte oder was ihn bedrückte. Es war völlig klar, dass dieser Mann oder das, was er zu sagen hatte, großen Einfluss auf Daníel hatte.«

»Was für einen Einfluss?«

»Du weißt, wie Danni war. Er konnte redselig und manchmal richtig unterhaltsam sein, aber manchmal auch ziemlich unerträglich. Er riss die Klappe auf und zog über die Leute her – oder war überhaupt nicht ansprechbar. Alles, was ihm in den Sinn kam, sprach er sofort laut aus, und er konnte ziemlich ordinär werden. Jetzt war er aber auf einmal völlig anders, und man konnte kein Wort aus ihm herausbekommen. Er war völlig weggetreten, war in seiner Gedankenwelt versunken und redete mit niemandem.«

»Hast du das mit den Besuchen dieses Manns in Verbindung gebracht?«

»Eigentlich nicht. Danni war im Grunde genommen ja schon immer ziemlich unberechenbar.«

»Deinen Kollegen ist das aber auch aufgefallen. Im Gegensatz zu dir waren sie froh darüber, denn jetzt konnten sie etwas besser mit ihm fertig werden.«

»Wir haben halt eine unterschiedliche Einstellung.«

»Elli glaubte gehört zu haben, dass sie über Lebertrankapseln gesprochen haben. Hast du eine Ahnung, was das bedeuten könnte?«

»Du weißt, wie Elli ist. Aber trotzdem, das kann gut sein. Mehr weiß ich nicht.«

»Über was hast du mit Daníel gesprochen, als du ihn das letzte Mal gesehen hast?«

»Nicht viel. Über seine Story mit dem Paradies, aus dem er angeblich vertrieben worden ist, und die er mit diesem...