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Die heile Welt der Diktatur - Alltag und Herrschaft in der DDR 1971-1989

Stefan Wolle

 

Verlag Ch. Links Verlag, 2013

ISBN 9783862842315 , 480 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

Prolog


Ein kurzes Wort zum langen Abschied


Die Weltgeschichte als Weltgericht

Das Urteil der Geschichte ist hart, fast möchte man es unerbittlich nennen. Die DDR entstand 1949 infolge der Aufteilung der Welt zwischen den Machtblöcken. Als in Moskau die Hoffnung schwand, dass man die Westintegration des größeren Teils Deutschlands verhindern könne, installierte die sowjetische Besatzungsmacht in ihrem Einflussbereich die DDR. Je kälter der Wind des Kalten Krieges blies, desto sicherer war die Existenz des ostdeutschen Staates.

Dennoch mag es in Deutschland viele Menschen gegeben haben, die in der DDR die antifaschistische Alternative zur Bonner Staatsgründung gesehen haben. Im »ersten Friedensstaat auf deutschem Boden« hatte man den Faschismus mit »Stumpf und Stiel ausgerottet«, wie es in der stereotypen und archaischen Ausdrucksweise der SED-Propaganda immer wieder hieß. Durch die Enteignung der Konzernherren und Junker seien die objektiven Ursachen für Kriegs- und Expansionsgelüste aller Art beseitigt worden. Nie wieder sollte von deutschem Boden ein Krieg ausgehen. Darauf ruhte die innere Legitimation des Staates.

Jenseits der Grenze lauerten die alten und neuen Nazis. Aus den Revanchegelüsten der Imperialisten ergab sich zudem die Notwendigkeit, mit aller Härte gegen den inneren Gegner vorzugehen. Das galt auch für jene Wirrköpfe, die von einer Verbesserung des Sozialismus faselten. Sie waren der Aufweichungs- und Unterwanderungsstrategie des Gegners auf den Leim gegangen und verdienten es, als Feinde behandelt zu werden. Gern zitierte man in diesem Zusammenhang aus Bertolt Brechts Gedicht »An die Nachgeborenen«: »Auch der Haß gegen die Niedrigkeit / Verzerrt die Züge. / Auch der Zorn über das Unrecht / Macht die Stimme heiser. Ach, wir / Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit / Konnten selber nicht freundlich sein.«1

Wer es denn glauben wollte, dass die DDR der bessere deutsche Staat sei, zog aus diesen Zeilen eine Art Universalbegründung für jede Form der Unterdrückung und Freiheitsbeschränkung. Doch wie lange konnte, wie lange durfte man an die Botschaft von Frieden und Fortschritt glauben? Bis zum 70. Geburtstag Jossif Stalins am 21. Dezember 1949, als auch in der DDR der Personenkult um den »größten Menschen aller Zeiten« Blüten trieb, die dem gerade überwundenen Führerkult um nichts nachstanden? Wie lange konnte, wie lange durfte man diese Parallelen übersehen? Bis zu Stalins Tod im März 1953, als die Verklärung zur Apotheose wurde? Bis zum 17. Juni 1953, als sich die Arbeiter gegen den angeblichen Arbeiterstaat erhoben und nur die sowjetischen Panzer das verhasste Regime der SED-Bonzen vor dem Untergang retteten? Bis zum Februar 1956, als auf Geheiß der neuen Herren im Kreml die Götzenbilder des Stalinkults stürzten, ihre Diener aber an der Macht blieben? Bis zum 13. August 1961, als der Friedensstaat sich selbst mit Stacheldraht umgab, um seine eigenen Bürger am Weglaufen zu hindern? Bis zum 21. August 1968, als die Panzerdivisionen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei einfielen, um das Experiment eines »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« gewaltsam zu beenden? Bis zum 16. November 1976, als der Liedermacher Wolf Biermann nach altbekanntem Nazi-Muster ausgebürgert wurde, weil er und seine Freunde für einen demokratischen Sozialismus eintraten? Bis zum 13. Dezember 1981, als in Polen die Aktivisten der Arbeiterbewegung von den Militärherrschern in Internierungslager gesteckt wurden? Oder bis in die späten achtziger Jahre hinein, als die »verdorbenen Greise«2, wie sie Wolf Biermann genannt hatte, mit schlafwandlerischer Sicherheit das Land in den Untergang steuerten? Oder darf man einem gescheiterten Staat und einer gescheiterten Ideologie bis über deren Ende hinaus die Treue halten?

Die Geschichte hat den gläubigen Anhängern der sozialistischen Ideologie viel zugemutet.

Die DDR ist so gründlich gescheitert, wie man nur scheitern kann: ökonomisch, politisch und moralisch. Das Urteil der Geschichte wurde im Herbst 1989 von den eigenen Bürgern gefällt. Die demokratische Massenbewegung verwandelte sich in eine Sintflut, die den SED-Staat mitsamt der Mauer förmlich hinwegschwemmte. Das Urteil wurde bei den ersten freien Wahlen in der DDR am 18. März 1990 bestätigt, als die Bürger mit fast absoluter Mehrheit für jene flink zusammengezimmerte Parteienkoalition stimmten, von der sie sich einen schnellen Vollzug der Wiedervereinigung versprachen.

Wenn denn die Weltgeschichte das Weltgericht ist, wie Friedrich Schiller meinte3, so hatte die Verteidigung kaum noch gute Argumente. Von der DDR blieben ein ökonomisches Desaster, ökologisch zerstörte Landschaften, verfallene Städte und ein Haufen sozialer und mentaler Probleme. Man könnte also getrost die Akten zuschlagen und ins Archiv schicken, damit dort von Zeit zu Zeit ein Historiker den Staub von den vergilbten Papieren pustet. Ein Berufungsverfahren ist nicht in Sicht, denn das Volk als die höchste Instanz hat sein Urteil gefällt.

Heimweh nach der Diktatur

Und doch bleibt ein seltsamer Rest. Dieser Rest ist das Leben der Menschen, die in jenem Staat gelebt haben. Ihre Erinnerungen sind bunter, vielfältiger, differenzierter, persönlicher, fröhlicher und teilweise eben auch glücklicher als die Bilder, die Wissenschaft und Publizistik liefern. Ein Lächeln geht über alle Gesichter, wenn von den kleinen Freuden und Misshelligkeiten des DDR-Alltags die Rede ist. Dieses Lächeln, man mag es Ostalgie oder anders nennen, ist stärker als die Fotodokumente mit den Schlangen vor den Geschäften, den Schaufenstern in ihrer fast rührenden Trostlosigkeit, den monotonen Neubauvierteln und den verkommenen Altstädten. Der besonnte Blick der Erinnerung ist stärker auch als die Statistiken über Republikflucht und Ausreiseanträge, stärker sogar als die Akten über Zersetzungsmaßnahmen der Stasi, Todesschüsse an der Mauer und politische Unrechtsurteile.

Es geht vielen Menschen offenbar gar nicht mehr vorrangig um ein analytisches Urteil über politische Strukturen der DDR und um die historischen Zusammenhänge. Es geht um den Wert der eigenen Biografie. Viele Menschen sehen sich durch Negativurteile über die DDR mitbetroffen. Vor allem aber bewerten sie ihre damalige Situation vor dem Erfahrungshintergrund der folgenden Jahre. Viele haben dieses als Entwertung ihrer Lebensleistung empfunden, haben Schwierigkeiten, Zurücksetzungen, Demütigungen und Enttäuschungen erlebt, die sie zu Recht oder zu Unrecht dem Systemwechsel anlasten. Manche sehen sogar in der Vergangenheitsbewältigung und den Stasi-Überprüfungen der Nachwendejahre ein probates Mittel, überflüssige Ostdeutsche »rauszugaucken«.

Die Antwort ist eine Art »Ost-Trotz«. Eine DDR, die es nie gegeben hat, wird jetzt erst erschaffen. Der Film »Good bye, Lenin!« aus dem Jahr 2003 hat diesen psychologischen Mechanismus auf geniale Weise erahnt und den sozialwissenschaftlichen Untersuchungen vorweggenommen. In der Schlussapotheose des Films wird aus der Suche nach den verlorenen Gegenständen der DDR die Suche nach der verlorenen Utopie. Am Ende der Inszenierung steht eine DDR, die sich würdevoll aus der Weltgeschichte verabschiedet. In nachgestellten Fernsehbildern fliehen die Menschen aus der imperialistischen BRD vor Arbeitslosigkeit und kapitalistischer Ausbeutung in die sozialistische DDR.

Es mag selbst in den Apparaten viele gegeben haben, die in den Jahren des real existierenden Sozialismus eine bessere und schönere DDR gewollt hatten. Die polemische Frage, wo all die Freunde des demokratischen Sozialismus waren, als 1968 junge Leute wegen ihrer Sympathien für den Prager Frühling verhaftet und reglementiert wurden, erübrigt sich. Die Antwort ist nur allzu klar. Sie saßen wie der langjährige Ehrenvorsitzende und Europa-Abgeordnete der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS), Hans Modrow, in den Befehlszentralen des Unterdrückungsstaates. Sie schickten die Greiftrupps der Stasi aus, um jedes Eintreten für den demokratischen Sozialismus im Keime zu ersticken.

Es ist verständlich, dass in diesen Kreisen davon niemand mehr etwas hören will. Doch die Sehnsucht nach der heilen Welt der Diktatur geht weit über die ehemaligen Funktionäre hinaus. Endlich ist die viel beschworene Einheit von Partei und Volk verwirklicht, die es vor 1989 niemals gegeben hat. Für die grassierende Sehnsucht nach machtgeschützter Eintracht des Mauerländchens sind weder die Medien noch die Schulen verantwortlich.4 Die Ostalgieshows, Retropartys im Blauhemd oder Ostpromessen bedienen das Heimweh nach der Diktatur, haben es aber nicht erschaffen. Auch der SED-Nachfolgeverein mit dem häufig wechselnden Namen instrumentalisiert die Sehnsucht nach dem treusorgenden Staat, hat sie aber nicht erfunden. Den Schulen sollte man ebenfalls nicht den Schwarzen Peter zuschieben. Was die Schüler in Meinungsumfragen äußern, ist ein Spiegelbild der »verborgenen öffentlichen Meinung«, vor allem aber des Unwillens vieler Eltern und Lehrer, über die Dinge offen zu reden. Aus guten Gründen fürchten nur allzu viele die konkrete Frage der Nachgeborenen, wo sie denn konkret gestanden haben. Die Wurzeln für die seltsamen Wandlungen in der Erinnerungswelt liegen tiefer – in der konkreten Lebenswirklichkeit der Menschen vor und nach der Wende von 1989 / 90. Die Erklärung dafür, wie »das alles« funktionieren konnte, liegt im Alltag der...