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Die Toten von Santa Clara - Roman

Robert Wilson

 

Verlag Goldmann, 2013

ISBN 9783641134716 , 512 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

EINS

Mittwoch, 24. Juli 2002

Ich will zu meiner Mami. Ich will zu meiner Mami.«

Consuelo Jiménez öffnete die Augen und blickte in ein Kindergesicht, das nur wenige Zentimeter von ihrem eigenen, halb im Kissen vergrabenen Kopf entfernt war. Ihre Wimpern streiften den Bezug. Das Kind packte ihren Oberarm.

»Ich will zu meiner Mami.«

»Schon gut, Mario. Wir suchen deine Mami«, sagte sie und dachte, dass es dazu noch viel zu früh war. »Du weißt doch, dass sie direkt gegenüber ist, oder? Du kannst hier bei Matías bleiben, mit uns frühstücken, noch ein bisschen spielen…«

»Ich will meine Mami.«

Die Finger des Kindes gruben sich fordernd in ihren Arm. Sie strich ihm über den Kopf und küsste seine Stirn.

Ihr widerstrebte es, im Nachthemd über die Straße zu gehen, so wie es die Frauen aus der Arbeiterschicht taten, wenn sie etwas aus dem Laden an der Ecke brauchten, aber das Kind zerrte quengelnd an ihr. Also streifte sie einen seidenen Morgenmantel über ihren Pyjama und schlüpfte in ein Paar goldfarbene Sandalen. Schnell fuhr sie sich noch einmal durchs Haar, während Mario schon ihren Morgenmantel zuband und sie dann hinter sich herzerrte.

Sie fasste seine Hand und führte ihn Stufe für Stufe die Treppe hinunter. Als sie das kühle, klimatisierte Haus verließen, schlug ihnen eine undurchdringliche, schwüle Hitze entgegen, die nach einer weiteren drückenden Nacht keinen Hauch von morgendlicher Frische mehr mit sich trug. Sie überquerten die leere Straße. Palmwedel hingen ausgedorrt herab, und man hatte das Gefühl, als hätte das Viertel nur mühsam aus dem Schlaf gefunden. Das einzige Geräusch war das Surren der Klimaanlagen, die weitere unerwünschte heiße Luft in die erstickende Atmosphäre des exklusiven Viertels Santa Clara am Stadtrand von Sevilla pusteten.

Während sie Mario, der plötzlich störrisch und bockig geworden war, als hätte er sich das mit seiner Mami anders überlegt, halb hinter sich herziehen musste, sah Consuelo, dass aus einem Riss in einem der hohen Balkone am Hause der Vegas Wasser tropfte. Dick wie Blut platschte es in der mörderischen Hitze auf die üppige Vegetation. Auf Consuelos Stirn bildete sich Schweiß, und beim Gedanken an den restlichen Tag und die sich seit Wochen aufstauende, sengende Hitze wurde ihr übel. Sie tippte den Zahlenkode in das Ziffernfeld neben dem Außentor und trat auf die Einfahrt. Mario rannte zum Haus, drückte gegen die Haustür und stieß sich den Kopf an dem Holzrahmen. Consuelo klingelte, und der elektrische Glockenton hallte in der Stille hinter den Doppelfenstern des Hauses nach wie in einer Kathedrale. Niemand rührte sich. Schweißtropfen sickerten zwischen ihre Brüste. Mario hämmerte mit seiner kleinen Faust gegen die Tür; es klang wie ein dumpfer Schmerz, hartnäckig wie untröstliche Trauer.

Es war kurz nach acht Uhr morgens. Sie leckte den Schweiß ab, der sich auf ihrer Oberlippe gebildet hatte.

Am Tor war mittlerweile das Hausmädchen aufgetaucht. Sie hatte keinen Schlüssel. Um diese Uhrzeit sei Señora Vega für gewöhnlich schon wach, sagte sie. Im Garten neben dem Haus hörten sie den ukrainischen Gärtner Sergej. Sie gingen zu ihm hin, und überrascht hielt er seine Hacke wie eine Waffe, als er die beiden Frauen erblickte. Er trug Shorts, und Schweiß strömte an seinem muskulösen nackten Oberkörper herab. Er hatte seit sechs Uhr in der Früh gearbeitet und nichts gehört. Soweit er wusste, stand der Wagen noch in der Garage.

Consuelo ließ Mario in der Obhut des Hausmädchens und ging mit Sergej zur Rückseite des Hauses. Er stieg auf die Veranda vor dem Wohnzimmer und spähte durch die Jalousien der Schiebetür. Die war verschlossen. Also kletterte er über das Geländer und beugte sich vor, um ins Küchenfenster zu blicken, das zum Garten hinausging. Sein Kopf zuckte entsetzt zurück.

»Was ist los?«, fragte Consuelo.

»Ich weiß nicht«, sagte er. »Señor Vega liegt auf dem Boden. Er bewegt sich nicht.«

Consuelo nahm das Hausmädchen und Mario mit in ihr Haus. Der Junge spürte, dass irgendetwas nicht stimmte, und fing an zu weinen. Das Hausmädchen versuchte vergeblich, ihn zu trösten, und zappelnd wand er sich aus ihrer Umarmung. Consuelo wählte die Nummer des Notrufs, zündete sich eine Zigarette an und versuchte, sich zu konzentrieren, während sie das hilflose Hausmädchen beobachtete: Die Frau stand über den Kleinen gebeugt, der sich in einem Wutanfall tretend und heulend wie ein wildes Tier auf den Boden geworfen hatte und sich nun langsam zur Ruhe schluchzte. Consuelo berichtete, was sie gesehen hatte, und nannte Namen, Adresse und Telefonnummer, bevor sie den Hörer auf die Gabel knallte, zu dem Kind ging, es ungeachtet der Tritte und Schläge fest an sich drückte und immer wieder seinen Namen flüsterte, bis es reglos in ihren Schoß sank.

Sie legte den Jungen in ihr Bett, zog sich an und rief das Hausmädchen nach oben, damit es ein Auge auf Mario hatte. Er war eingeschlafen. Consuelo betrachtete ihn eingehend, während sie sich kämmte. Das Hausmädchen saß auf einer Ecke des Bettes, unglücklich, nun Teil einer fremden Tragödie geworden zu sein, die auch ihr eigenes Leben beeinträchtigen würde.

Vor dem Haus der Vegas fuhr ein Streifenwagen vor. Consuelo ging hinaus, um den Polizisten zu begrüßen, und führte ihn zur Rückseite des Hauses, wo er auf die Veranda kletterte. Er fragte sie, wo der Gärtner war, und sie ging über den Rasen zu einem kleinen Gebäude am Fuße des Hangs, wo Sergej sein Quartier hatte. Vergeblich. Der Polizist pochte derweil an das Küchenfenster und gab per Funk einen kurzen Lagebericht ans Präsidium, bevor er wieder von der Veranda stieg.

»Wissen Sie, wo Señora Vega ist?«, fragte er.

»Sie müsste im Haus sein. Da war sie jedenfalls gestern Abend, als ich sie angerufen habe, um ihr zu sagen, dass ihr Sohn bei meinen Jungen übernachten würde«, sagte Consuelo. »Warum haben Sie ans Fenster geklopft?«

»Es hat keinen Sinn, die Tür einzutreten, wenn er bloß betrunken auf dem Fußboden eingeschlafen ist.«

»Betrunken?«

»Neben ihm liegt eine Flasche auf dem Boden.«

»Ich kenne ihn seit Jahren, und ich habe nie erlebt, dass er die Kontrolle verliert… nie.«

»Vielleicht ist es anders, wenn er allein ist.«

»Und was haben Sie sonst noch unternommen?«, fragte Consuelo und versuchte angesichts der Gelassenheit des einheimischen Polizisten, die schrille Reizbarkeit der Madrilenin in ihrer Stimme zu unterdrücken.

»Sobald Sie uns angerufen haben, wurde ein Krankenwagen auf den Weg geschickt, und jetzt ist der Inspector Jefe del Grupo de Homicidios, der Chefinspektor der Mordkommission, benachrichtigt worden.«

»Im einen Moment ist er nur betrunken, im nächsten schon ermordet?«

»Auf dem Fußboden liegt ein Mann«, erwiderte der Streifenpolizist jetzt ärgerlich. »Er bewegt sich nicht und reagiert nicht auf Geräusche. Ich habe…«

»Meinen Sie nicht, dass Sie versuchen sollten, ins Haus zu kommen, um zu sehen, ob er noch lebt? Er reagiert nicht, aber vielleicht atmet er ja noch.«

Auf der Miene des Streifenpolizisten spiegelte sich Unentschlossenheit, doch der eintreffende Krankenwagen rettete ihn. Gemeinsam mit den Notärzten stellte er fest, dass das Haus auf Vorder- und Rückseite komplett verriegelt war. Weitere Wagen hielten vor dem Haus.

Inspector Jefe Javier Falcón hatte das Frühstück beendet und saß im Arbeitszimmer seines riesigen Hauses aus dem 18. Jahrhundert in der Altstadt von Sevilla. Er trank den Rest seines Kaffees und studierte die Bedienungsanleitung einer Digitalkamera, die er vor einer Woche gekauft hatte. Wegen der dicken Mauern und der traditionellen Bauweise des Hauses musste er die Klimaanlage nur selten einschalten. In dem Marmorbrunnen plätscherte Wasser, ohne dass es ihn störte. Nach einem für ihn persönlich sehr turbulenten Jahr hatte er nun seine Konzentrationsfähigkeit wiedergefunden. Sein Handy auf dem Schreibtisch vibrierte. Seufzend griff er danach. Dies war die Tageszeit, zu der üblicherweise die Leichen gefunden wurden. Er ging hinaus in den Kreuzgang um den Innenhof und lehnte sich an eine der Säulen, die die Galerie trugen. Dort hörte er sich die Fakten an, nackt und bar jeder Tragödie. Zurück in seinem Arbeitszimmer notierte er die Adresse: Santa Clara. Es klang nicht wie ein Ort, an dem irgendetwas Schlimmes passieren konnte.

Er schob das Handy in die Hosentasche, nahm seine Wagenschlüssel und öffnete das gewaltige Holztor vor dem Haus. Dann ließ er seinen Seat zwischen die Orangenbäume rollen, die den Eingang flankierten, und ging zurück, um das Tor zu schließen.

Die Klimaanlage blies kalte Luft gegen seine Brust, als er über die engen Kopfsteinpflasterstraßen auf die von hohen Bäumen gesäumte Plaza del Museo de Bellas Artes fuhr. Er verließ die Altstadt Richtung Fluss und bog rechts in die Calle del Torneo. Im morgendlichen Dunst waren in der Ferne die verschwommenen Umrisse der »Harfe« zu sehen, der gewaltigen Puente del Alamillo, die der Architekt Calatrava über den Fluss gespannt hatte. Er entfernte sich vom Flussufer in Richtung Neustadt und kämpfte sich durch die Straßen um den Bahnhof Santa Justa, bevor er an endlosen Hochhäusern vorbei der Avenida de Kansas City folgte, während er an das exklusive Barrio, das Viereck, dachte, in das er fuhr.

Die Gartenstadt von Santa Clara war von den Amerikanern geplant worden, um den eigenen Offizieren Unterkünfte zu bieten, nachdem nach Unterzeichnung des Verteidigungs- und Wirtschaftsabkommens 1953 in der Nähe von Sevilla das Strategic Air Command eingerichtet worden war. Einige der Bungalows sahen immer noch aus wie in den 50er Jahren, andere hatte man an die...